Repositories gibt es nicht nur von der IBM

Kein CASE ohne gebündelte Unternehmensinformationen

02.10.1992

Im Schlepptau der durch das Scheitern des IBM-Repositories hervorgerufenen CASE Verdrossenheit ist vielerorts die Unternehmensmodell-Bildung an sich in Mißkredit geraten. Die US-amerikanische Unternehmensberaterin Carma McClure erläutert, warum ein solches Modell- unabhängig von der technischen Implementierung

Basis Jeder Anwendungsentwicklung sein sollte.

Ging es in der 80er Jahren vor allem darum, Informationen unternehmensweit zu nutzen, so kommt es in den 90ern darauf an, die Software-Produktionssysteme, die diese Informationen erzeugen, und die Tool-Umgebung, die wir zur Herstellung dieser Systeme verwenden, zu teilen. Voraussetzung dafür ist, daß der Chief Information Officer (CIO) das Unternehmen als Ganzes im Blickfeld hat.

Jedes Unternehmen möchte gut integrierte Systeme schaffen, die zusammenarbeiten, sich gegenseitig mit Input versorgen, keine Redundanzen aufweisen und die Informationen so genau und aktuell wie möglich liefern. Die ersten Versuche, integrierte Systeme zu schaffen, haben wir bereits in der hinter uns liegenden Dekade unternommen. Eine der Erkenntnisse, die wir dabei gewannen, war die, daß unbedingt ein Geschäftsmodell zu erarbeiten ist, das Organisationsstruktur, Unternehmensziele, kritische Erfolgsfaktoren, Prioritäten und Geschäftsabläufe beschreibt. Darin enthalten sein muß ein logisches Modell der Informationen, Systeme und Beziehungen innerhalb des Unternehmens. Der Begriff dafür lautet "Unternehmens-Modellbildung".

Ein Vorteil ist die Wiederverwendbarkeit

Warum ist die Unternehmens-Modellbildung so wichtig? Die in einem solchen Modell enthaltenen Informationen können dazu herangezogen werden, Systemerfordernisse der 90er Jahre zu erkennen und sie mit den Unternehmenserfordernissen und zielen zu verknüpfen. So bestimmen diese Informationen die Umwandlung der Anforderungen in ein Design und letztlich in einen Programmcode. Erst dann sind wir in der Lage, herauszufinden, wo und wie bestimmte Anforderungen implementiert werden können. Das Unternehmensmodell hilft uns nicht nur dabei, Systeme zu verändern, sondern auch dabei zu verstehen, wie sich die Veränderungen auf alle anderen Elemente des Modells auswirken.

Ein weiterer Vorteil ist die Wiederverwendbarkeit von Software. IT-Manager behaupten heute, nur etwa 15 Prozent ihrer Programme seien wirklich einmalig. Folglich hätte 85 Prozent des in ihren Unternehmen verwendeten Codes durch die Wiederverwendung bereits vorhandener Programmteile erzeugt werden können.

Je mehr Informationen in ein Unternehmensmodell einbezogen werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es, vorhandene Software-Ressourcen wiederzuverwenden. Um so mehr kann folglich die Entwicklung neuer Systeme beschleunigt werden.

Ein weiterer Aspekt ist der Schutz der enormen Investitionen, die die Unternehmen bereits in ihre derzeitigen Systeme gesteckt haben. Diese Investitionen belaufen sich weltweit auf etwa 2,5 Billionen US-Dollar der Wiederbeschaffungswert ist also immens. Nach Schätzungen eines großen Erdöl-Konzerns würde es eine halbe Milliarde Dollar kosten, die dort vorhandenen Informationssysteme zu ersetzen. Folglich werden diese Systeme inzwischen als Gesellschaftsvermögen angesehen, das es zu erhalten und zu schützen gilt.

Zum Großteil erfüllen diese Systeme durchaus noch ihren Zweck. Doch haben viele Unternehmen den Wunsch, sie zu modernisieren, um die Informationen schneller und in besserer Form an den Mann oder die Frau bringen zu können. Außerdem besteht eine Nachfrage danach, vorhandene Systeme mit anderen Ressourcen zu verbinden und mit anderen Systemen zu integrieren und so den Anteil der redundanten Informationen zu verringern. Die Wartung bestehender Systeme macht heute in Nordamerika etwa 50 bis 80 Prozent der Budgets für Management-Informationssysteme (MIS) aus. Sie verschlingt jährlich etwa 43 Milliarden US-Dollar und beschäftigt 600 000 Programmierer. Die Rede ist hier von etwa 100 Milliarden Zeilen bestehenden Programmcodes mit einem durchschnittlichen Alter von sieben Jahren. Die Unterstützung all dieser Code-Zeilen ist ausschlaggebend für das Überleben und reibungslose Funktionieren eines Unternehmens.

Mehr Effizienz in der Wartung trägt wesentlich dazu bei, den Rückstand bei der anstehenden Entwicklung neuer Systeme aufzuholen. Die Unternehmen stellen fest, daß sie durch technische Verbesserungen mittels Re-Engineering die Benutzer besser und schneller sowie mit einem Bruchteil des bisherigen Kostenaufwands bedienen können. Zugleich vermeiden sie möglicherweise auch das Risiko von Ausfällen, Unterbrechungen im Service oder Verwirrung und Unzufriedenheit bei den Benutzern, mit dem bei einem neuen System kalkuliert werden muß.

Die meisten größeren Betriebe sind sich der Bedeutung eines Unternehmens-Informationsmodells bewußt und arbeiten bereits daran. Weniger bekannt ist, daß es inzwischen Techniken gibt, mit denen sich - unter Verwendung der bestehenden Systeme- die Erarbeitung eines solchen Modells beschleunigen läßt. Die existierenden Systeme enthalten nämlich in gewisser Weise bereits ein Informationsmodell des Unternehmens. Reverse-Engineering kann uns helfen, in unsere bestehenden Systeme hineinzugehen und herauszufinden, wie das dahinter liegende Informationsmodell aussieht.

Reverse-Engineering ist eine Positionierungstechnik, mit deren Hilfe Sie von Ihrer heutigen Position aus dahin kommen können, wo Sie als konkurrenzfähiges Unternehmen in den 90er Jahren stehen müssen. Diese Technik gibt Ihnen Auskunft über ihr derzeitiges Anwendungs-Portofolio: über die Beschaffenheit und die Qualität seiner Komponenten, über die Beziehungen, die zwischen diesen Komponenten bestehen, und über die Art und Weise, wie diese Komponenten im Unternehmen eingesetzt werden. Reverse-Engineering kann Ihnen auch dabei helfen, auf neuere Technologien umzusteigen, die in den kommenden Jahren benötigt werden.

Eine nähere Betrachtung der bestehenden Systeme - Hilfe der Re-Engineering Techniken - kann Ihnen ein genaues Bild davon vermitteln, wo Ihr Unternehmen derzeit steht. Zugleich können Sie damit schnellstmöglich Ihr Unternehmensmodell erstellen und sich so eine Basis schaffen, von der aus Sie den Weg in die Zukunft starten können.

Zentrale Kontrolle für die verteilte Umgebung

Als Speicher für das Unternehmensmodell dient ein sogenanntes Repository. Es ermöglicht Ihnen, die Qualität Ihrer Informationen über das Unternehmen zu verbessern und versetzt Sie in die Lage, bessere Anwendungssysteme zu entwickeln und Informationen wiederzuverwenden. Überdies bildet es eine Basis für die Werkzeugintegration und ermöglicht Produktivitätssteigerungen, wie sie CASE-Technologien verheißen.

Alle wollen eine verteilte Umgebung, aber sie wollen auch sicher sein, daß sie sie kontrollieren können. Den zentralen Kontrollpunkt bildet dabei das Repository. Dabei ist es gleich, ob dieses Repository zentralisiert oder räumlich verteilt ist; Hauptsache, es wird als der zentrale Kontrollpunkt betrachtet, in dem sich alle Definitionen verwalten lassen. Es kommt nicht darauf an, wo sich die einzelnen Objekte (Daten, Programme, Prozesse) befinden, solange das Repository sie einheitlich benennen kann.

Einige der für die Softwarebranche der 90er Jahre wichtigsten Standards werden sich mit den Repositories beschäftigen. Diese Standards werden es den Anwendern irgendwann erlauben, CASE- Tools und Repositories von unterschiedlichen Hardware- und Software-Anbietern in verschiedenartigen Kombinationen parallel oder in zeitlicher Abfolge zu verwenden. Wenn erst gewährleistet ist, daß sich die Informationsmodelle von einem Repository relativ leicht auf ein anderes anpassen lassen, gewinnen die Unternehmen beträchtlich an Flexibilität.

Viele Unternehmen benutzen Anwendungen und Softwarewerkzeuge quer durch die gesamte Organisation, um verschiedene Abteilungen oder Entwickler zu bedienen. Dabei können sie sicher nicht innerhalb einer homogenen Umgebung bleiben. Hier wird die Portabilität über heterogene Umgebungen hinweg zu einem relevanten Thema.

Man kann dieses Thema von zwei Seiten betrachten: Der eine Aspekt betrifft die Entscheidung für eine bestimmte Entwicklungsumgebung. Anfangs bestanden die Probleme meist darin, Tools und Entwicklungstechniken von einer Hardware-Plattform auf eine andere zu übertragen. Fragt man heute professionelle Entwickler nach ihrer bevorzugten Umgebung, so werden sich die meisten für einen PC oder eine Workstation aussprechen. Letztere bietet eine perfekte interaktive grafische Umgebung und bringt - verglichen mit der Mainframe basierten Entwicklung-Verbesserungen der Ansprechzeit um 400 Prozent sowie Produktivitätsverbesserungen von 20 Prozent.

Nicht ganz ohne Redundanz

Allmählich wenden sich die CASE-Anbieter aber auch dem zweiten Aspekt des Themas Portabilität zu, nämlich der simultanen Entwicklung auf verschiedenen Hardware- und Softwareplattformen. Eine kostengünstige Nutzung von Hardware- Ressourcen bedeutet nämlich häufig, daß die Produktionssysteme von Mainframes auf Midrange Systeme, Workstations und Personal Computer verlagert werden.

Die Integration von Produkten mehrerer Anbieter ist eine komplizierte Angelegenheit, die meiner Einschätzung nach nicht ganz ohne Redundanz zu realisieren ist. Allerdings wird sich diese Redundanz wenigstens kontrollieren lassen - dadurch, daß wir ein Repository dazu nutzen, die Definitionen aller Elemente im Informationsmodell des Unternehmens zu überwachen.

Nutzen Sie beispielsweise mehrere Lohnsysteme, so können Sie mit Hilfe eines Repositories stets alle Elemente Ihrer Lohninformation auf die gleiche Weise definieren - ungeachtet dessen, wie sich die Verarbeitung der Informationen von Abteilung zu Abteilung unterscheidet.

Wenn Sie alle Größen - einen Produktteil, einen Angestellten, eine Abteilung, Bruttoentgelt oder was auch immer- quer durch das Unternehmen auf ein und dieselbe Weise definieren, fällt es Ihnen leichter, Systeme zu entwickeln, die sich über heterogene Umgebungen portieren lassen.

Es hapert an der Quantifizierung

Wie sollten die Unternehmen die Entwicklung eines Unternehmensmodells angehen? Der erste Schritt besteht darin, den derzeitigen "Stand der Praxis" zu bestimmen. Die Fragen lauten hier: Wo sind die starken Seiten, wo die Schwachstellen? Welche Systeme werden unterstützt? Was steht ganz oben auf der Liste der zu entwickelnden Systeme? Welche Tools werden eingesetzt? Mit welchem Maß werden Qualität und Produktivität gemessen?

Die Quantifizierung ist einer der Bereiche, bei denen es überall hapert. Die Leute fragen sich, welche Vorteile die CASE Technik für ihre Software-Umgebung bringt. Interviews mit IT-Managern besagen, daß CASE die Softwarequalität und -produktivität langfristig um bis zu 30 Prozent steigern kann.

Wie aber stellt man fest, welche Verbesserungen zu erreichen sind, wenn man steht und wohin man kommen möchte?

CASE ist eine sehr umfassende Technologie und läßt sich auf viele verschiedene Arten einsetzen. Daher ist es ebenfalls wichtig, genau den Aspekt von CASE zu wählen, der den speziellen Bedürfnisses Ihres Unternehmens am nächsten kommt. Wenn Sie beispielsweise 85 Prozent Ihres Budgets für Wartung ausgeben, dann sollten Sie nicht in ein Analyse und Design-Tool investieren, das Ihnen dabei helfen soll, Ihre Anforderungen zu spezifizieren. Dessen Vorzüge werden in Ihrem speziellen Fall nicht zum Tragen kommen. Wichtig ist auch, daß die Implementierung schrittweise erfolgt. Sie können nicht alles gleichzeitig implementieren, sonst bekommen Ihre Mitarbeiter einen Nervenzusammenbruch. Definieren Sie zunächst den Verlauf des Lebenszyklus. Wie sehen die einzelnen Schritte aus, wie der Input, wie der Output? Bestimmen Sie den Leistungsumfang sowie das Maß für Qualität und Produktivität. Wollen Sie Ihre Systeme mittels eines Informationsmodells oder durch Prototyping spezifizieren und entwickeln?

Des weiteren müssen Automation und Standardisierung Hand in Hand gehen. Indem Sie Ihre Methode standardisieren, können Sie die richtigen Tools auswählen, die sich dann immer wieder einsetzen lassen. Indem Sie den Prozeß nur einmal vermitteln müssen, reduzieren sie Ihren Trainingsaufwand. Außerdem können Sie Ihre Mitarbeiter - die kostspieligste Ressource in Ihrem Unternehmen von Projekt zu Projekt bewegen. Ratsam ist es auch, klein anzufangen und allmählich zu wachsen. Setzen Sie Mitarbeiter ein, die Begeisterung mitbringen. Am erfolgreichsten sind immer die Unternehmen, die Unterstützung von oben wie von unten erfahren. Unterstützung von unten bedeutet, daß Ihre Software-Entwickler von der CASE- Methodik überzeugt sind.

Diese Faktoren sind die Vorbedingung, um zu einem definierten, wiederholbaren Prozeß zu kommen. Und nur, wenn Sie dies erreichen, werden Sie von den CASE-Vorzügen wirklich profitieren. Dazu müssen Sie allerdings Ihre Einstellung ändern und eine stärker reglementierte Art der Software-Entwicklung und Verwaltung akzeptieren. Ich habe dafür den Begriff "Mischteam"-Konzept geprägt; denn das "Team" setzt sich aus Software- Tools und Menschen zusammen.

Entscheidend beim Einsatz der CASE-Technologie ist auch die Rückkopplung.

Die meisten großen Unternehmen arbeiten bereits mit CASE- Technik und Repositories. Sie können es sich nicht leisten, die Implementierung der CASE-Technologie hinauszuzögern. Wahrscheinlich das größte Plus von CASE sind die langfristigen Vorteile, die sich aus der Entwicklung eines Informationsmodells ergeben. Es ist absolut unerläßlich, die Informationen über Ihr Unternehmen in ein Repository zu packen. Je mehr Sie dort hineinpacken, desto schneller können Sie die Entwicklung künftiger Systeme vorantreiben.

Das Repository soll für jeden verfügbar sein

Es kommt darauf an, das Informationsmodell an einem logischen Platz - dem Repository - zu positionieren und es dort up to date zu halten. Machen Sie es für jeden Benutzer und jeden Entwickler verfügbar. Durch die Fixierung auf einen logischen Ort können Sie es kontrollieren.

Gegen Ende des Software-Lebenszyklus, also da, wo die Entscheidungen für Implementierung und physische Umgebung aktuell werden, können Funktionen wie Portabilitätsprobleme und Leistungsoptimierung, die heute noch Ihre wertvollen menschlichen Ressourcen in Anspruch nehmen, immer häufiger von Tools ausgeführt werden. Eine derartige Technologienutzung ist in den schnellebigen 90er Jahren von existentieller Bedeutung.

Das neue Jahrzehnt verlangt nach IS- Mitarbeitern, die mehr über die Angelegenheiten wissen, die sie unterstützen, die Know-how im Bereich Problemlösung besitzen, die Methoden der Geschäftsanalyse beherrschen und ein geschärftes Bewußtsein für die Lösung der für den Benutzer relevanten Probleme mitbringen.

*Dr. Carma McClure ist Gründerin und Vice-Präsidenten für Forschung im Beratungsunternehmen Extended Intelligence Inc., Chicago. Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag, den die Autorin im Mai dieses Jahres auf dem vom DE College in Zusammenarbeit mit der Cap Debis GEI veranstalteten Symposium "Methoden '92" gehalten hat.