"Just-in-Time"-Konzept - Zeitpeitsche oder Erfolgsformel?

26.08.1988

Klaus C. Plönzke, Geschäftsführer des EDV Studio Ploenzke, Wiesbaden

Die häufig gebrauchte Redensart "Timing ist alles" hat es in sich. Sie stellt nämlich in unserer heutigen Wirtschaft eher Wunsch als Wirklichkeit dar. Denn der Geschehensablauf in Geschäft, Beruf und Betrieb wird nur allzu häufig vom Time-lag geprägt.

Ob Top-Manager, Sekretärin, Vertriebsprofi oder DV-Experte - jeder erlebt auf seine Weise, daß die Uhren immer schneller ticken, aber auch unvorhersehbarer denn je stehenbleiben. Sei's das überzogene Meeting, sei's der defekte Fernkopierer, sei's eine Flugzeugverspätung oder sei's ein Programmabsturz: Ständig stoßen wir auf unerwartete Barrieren, die uns daran hindern, zeitgerecht voranzukommen. Die Folge: Es gilt, Stunden oder Tage, die unplanmäßig verronnen sind, wieder aufzuarbeiten - was einer ständigen Jagd nach verlorener Zeit gleichkommt.

Kein Wunder, daß der daraus resultierende Druck stabile betriebliche Gefüge aufweicht und bewährte Organisationen überstrapaziert. Time-lag-Management scheint in vielen Unternehmen zu einer überlebenswichtigen Aufgabe zu werden. Sie verdeutlicht, in welchem Ausmaß unsere Industrie-Epoche aus dem Zeittakt zu geraten droht.

Namhafte Gegenwartskritiker behaupten, die modernen Daten- und Kommunikationstechnologien seien die Hauptursachen dafür, daß der Fortschritt allmählich in pure Hektik umkippe und unsere Zeitkorsette zusehends verenge. Die Elektronik beschleunige schlichtweg alles; sogar ihre eigene Entwicklung. Zugleich presse sie uns, wird argumentiert, immer tiefer in programmierte Funktionsabläufe hinein, die den Menschen völlig überforderten.

Tatsächlich treibt die Informationstechnologie dank ihrer starken Dynamik die Wissensproduktion und -vermittlung sowie die Entscheidungs- und Handlungsabläufe in einem früher unvorstellbaren Tempo voran. Die Veränderungsprozesse vollziehen sich immer kurzfristiger.

Deshalb wird den kommenden Anforderungen nur gewachsen sein, wer über ein Höchstmaß an Flexibilität verfügt. Konkret bedeutet dies, daß nicht länger die Leistung innerhalb einer festgelegten Zeit, sondern das absolute Tempo, mit dem sie erbracht wird, maximiert werden muß. Warum? Die Antwort liegt auf der Hand: Nur noch auf diese Weise lassen sich angesichts des immer schneller ablaufenden Wandels am ehesten Wettbewerbsvorteile und damit erhöhte Wachstums- und Gewinnchancen erringen.

Die damit verbundene Herausforderung liegt unabweisbar in der Umstellung auf eine neue Zeit/Leistungs-Dimension, die zumindest in Ansätzen bereits ihren praktischen Niederschlag gefunden hat. Gemeint ist das von den Japanern - nämlich von dem Autokonzern Toyota - entwickelte "Kanban"-Logistiksystem. Es geriet weltweit unter dem Begriff "Just-in-Time" nicht nur in die Diskussion, sondern beginnt auch die Fertigungsindustrie des Westens zu revolutionieren.

Im Kern betrachtet, handelt es sich bei dieser Methode um einen Wechsel von der mengenorientierten Lager- und Vorratsherstellung auf eine sensible Reaktionsproduktion Sie zielt bekanntlich darauf ab, jeder Bedarfsveränderung qualitativ und quantitativ ohne Zeitverzögerung entsprechen zu können. Die damit hochreagibel gewordene Fertigung gestattet es, einem Kundenwunsch ähnlich rasch zu folgen wie das Echo dem Ruf. Möglich wurde dieser Zeitraffereffekt, weil man die herkömmliche Funktionsperfektion einzelner Betriebs- und Herstellungsbereiche zugunsten einer Flußoptimierung der gesamten logistischen Kette - Beschaffung, Rohmateriallager, Fertigung, Teilelager, Montage, Fertigwarenlager, Auslieferung - aufgab.

Ein zentraler Aspekt von "Just-in-Time" liege, das unterstreichen kompetente Experten immer wieder, in der Tatsache, daß jeder einzelne Mensch zu einem unverzichtbaren Glied im gesamten Produktionsablauf werde. Die Eigenverantwortlichkeit erhöhe sich drastisch - alle Mitarbeiter müßten ihr Bestes geben, da unerwartete und wechselnde Aufgabenstellungen kreativ, kooperativ, fehlerfrei und kurzfristig zu lösen seien.

Es kann kaum überraschen, daß diese Gesichtspunkte skeptische - keineswegs nur ideologisch motivierte - Fragen ausgelöst haben. Zum Beispiel: Hat man mit "Just-in-Time" aus der Zeit-Not eine Verfahrens-Tugend gemacht? Erreicht nun die Gestaltung der betrieblichen Leistungsstruktur unwägbare Grenzbereiche? Lassen sich künftig erfolgsbeflissene Unternehmen zu abenteuerlichen Zick-zack-Routen wegen kurzfristiger Trendänderungen im Markt verleiten? Kommt da eine Spirale in Gang, die bei der just befriedigten Nachfrage beginnt, ständig neue Bedarfsvarianten hervorruft und dorthin führt, wo das Leistungstempo wichtiger wird als der Nutzen? Werden den Mitarbeitern unerreichbare Fähigkeiten abverlangt? Knallt hier eine gefährliche Zeitpeitsche?

Man sollte solche Warnungen nicht überhören. Wie bei allen Neuerungen können sie dazu beitragen, die für Mensch und Unternehmen bestmögliche Umsetzungsform zu finden - und nur darum kann es gehen: "Just-in-Time" ist nun mal ein produktionstechnisches Ergebnis von Angebot und Nachfrage in freien Marktwirtschaften und muß deshalb grundsätzlich als systemgerecht akzeptiert werden.

Kritiker wie Befürworter scheinen allerdings einen fundamentalen Punkt zu vernachlässigen - denn: "Just-in-Time" führt zwar zu einer Leistungsoptimierung in betrieblichen und gesamtwirtschaftlichen Teilbereichen, doch was geschieht, wenn deren Umwelt sich nicht ebenfalls umstellt? Konkret gesagt: Wenn auch die logistische Kette der Fertigung zeitoptimal funktioniert, bedeutet das noch keineswegs, daß sich die übrigen Abteilungen - etwa die kaufmännischen Ressorts - an die daraus folgenden Ablauf- und Veränderungsrhythmen anpassen. Ebenso ist ein Unternehmen, das seine Kunden ohne sogenannte Totzeiten bedienen kann, grundsätzlich darauf angewiesen, daß die Lieferanten und Distributoren im Gleichschritt mithalten. Wo dies nicht der Fall ist, beginnt man va banque zu spielen.

Anders ausgedrückt: "Just-in-Time" ist zweifellos dazu angetan, große Vorteile bei der Leistungserstellung und im Wettbewerb zu zeitigen. Wird dieses Prinzip jedoch nur insular - also rein produktionstechnisch - angewandt, drohen Inkompatibilitäten zum unternehmensinternen Umfeld oder gar zum gesamten geschäftlichen Partnernetz. Unter diesen Umständen - hier stößt man auf ein Absurdum - werden via "Just-in-Time" die Time-lags nicht vermindert, sondern vermehrt.

Es steht außer Frage, daß bereits der "Kanban"-Uransatz methodisch in jene Richtung zielte, die Futurologen als zeitorientierte Flexibilisierung bezeichnen. Doch erstaunlicherweise ist zu beobachten, daß "Just-in-Time" in der gegenwärtig verwirklichten Form lediglich eine lineare Verlängerung jenes überzeugenden Vorstoßes der Japaner darstellt. Man hat bis dato noch nicht eingesehen, daß mit "Just-in-Time" eine Erfolgsformel geprägt wurde, deren allgemeine Anwendung überfällig ist.

Weit über den Produktionsbereich hinaus konnte dieses Prinzip dazu dienen, jegliches Zusammenwirken in Betrieb, Beruf und Wirtschaft nachhaltig zu verbessern. Wo alle "Just-in-Time" denken und handeln, werden Terminprobleme und Reibungsverluste dank einer Harmonisierung des Zusammenwirkens automatisch vermindert.

Eine Vorreiterrolle nehmen dabei all jene Unternehmen ein, deren Management begriffen hat: Die Zeit ist zu einem entscheidenden Engpaßfaktor geworden, den es mit dem Erfolgsfaktor Information in Griff zu nehmen und zu beherrschen gilt. Die Computer- und Kommunikationstechnologien bieten Jahr für Jahr wirksamere Werkzeuge, um zeitliche Flaschenhälse zu überwinden.

Diese elektronischen Hilfsmittel öffnen alle nur denkbaren Wege, um Leistungen zu jenem Zeitpunkt erbringen zu können, zu dem sie benötigt werden. Damit ist der höchstmögliche Nutzen für die jeweiligen Zielgruppen, Auftraggeber oder Partner verbunden, womit wiederum die Anziehungskraft des eigenen Unternehmens erhöht wird. Auf zukunftssicherem Kurs liegen daher Führungskräfte und Mitarbeiter, die mittels der Daten- und Informationsverarbeitung bedarfsorientierte Zeitstrategien praktizieren und starre Planungs-, Organisations- sowie Arbeitsmethoden über Bord werfen. "Just-in-Time" heißt in diesem Fall: Besser heute als morgen!