Rationalisierungsstrategien erreichen neue Dimensionen

Just in Time: Die Jagd nach der Zeit

26.02.1988

Das Schlagwort CIM (Computer Integrated Manufacturing) wird von Unternehmen und Gewerkschaften kontrovers diskutiert: Zu weit klafft die Schere zwischen technischem Fortschritt und sozialen Komponenten auseinander. Einig sind sich Indes beide Seiten darin, daß mit CIM Kundenwünsche schneller erfüllt und somit Wettbewerbsvorteile erreicht werden sollen. Die neuen Rationalisierungsstrategien haben unter anderem die "Produktion auf Abruf", die "Just-in-Time-"Produktion, zum Ziel. Dadurch stellen sich an alle Beteiligten neue Herausforderungen.

* Bisher zeichnete sich in der unternehmensinternen Entwicklung der Daten- und Informationsverarbeitung eine Optimierung immer nur einzelner Teilbereiche ab. Statt der bisherigen Insellösungen ist nun - unter der Parole "Integration" - eine bereichsübergreifende Verbesserung des Gesamtablaufs von der Auftragsannahme bis zur Auslieferung angestrebt.

In der Vergangenheit waren die Rationalisierungsbemühungen der Unternehmen überwiegend darauf gerichtet, standardisierte und manuell betriebliche Teilabläufe in Produktion und Verwaltung zu automatisieren. Der praktische Betrieb erfolgte, ohne daß die auf diese Weise entstandenen Automatisierungsinseln miteinander verknüpft waren. Dies gilt jedoch nicht mehr für die Zukunft: Gegenwärtig beginnen die Unternehmen damit, sämtliche in der Vergangenheit automatisierten Betriebsbereiche datentechnisch miteinander zu verknüpfen. Dabei nutzen sie die Eigenschaften der Informations- und Kommunikationstechnologie. Vorrangige Ziele: die zeitlich exakte Abstimmung einzelne Abläufe, die Verkürzung von Umrüst- und Durchlaufzeiten, die Verringerung von Materialbeständen, die Einsparung von Lagerhaltungskosten sowie die Flexibilisierung von Produktionsabläufen. Was Michael Ende in seiner Märchenphantasie "Momo" einst so trefflich beschrieb, nämlich die Jagd nach der Zeit, wird im Zuge der datentechnischen Vernetzung in den Betrieben zur Realität: Die Zeiteinsparung wird zu einem bestimmenden Rationalisierungsmoment.

* CIM - drei Buchstaben, die Unternehmen sowie Produktion umkrempeln - und das nicht unbedingt risikolos?

"CIM-salabim - und fertig ist das Ding", dieser Werbespruch eines Anbieters von Systemen der Prozeßautomatisierung formuliert treffend das Leitmotiv neuer betrieblicher und zwischenbetrieblicher Rationalisierungsbemühungen der Unternehmen. Ein wesentliches Merkmal neuer Rationalisierungsstrategien ist, daß die Rationalisierung im Zusammenhang mit der datentechnischen Vernetzung mehr und mehr aus der Perspektive einer Re-Organisation aller betrieblichen Abläufe erfolgt. Im Gegensatz zu den Rationalisierungszielen der Vergangenheit sind die gegenwärtigen und zukünftigen Maßnahmen weder direkt auf die Einsparung von Arbeitskraft noch unmittelbar auf die Einsparung von Personalkosten ausgerichtet. Das Ziel der neuen Rationalisierungsbemühungen liegt vielmehr in einer Steigerung von Produktivität und Rationalität des gesamten inner- und zwischenbetrieblichen Produktionssystems und in einer gleichzeitigen Verringerung der Kapitalbindung. Aus diesem Grund sind die neuen Rationalisierungsbemühungen der Unternehmen keineswegs mehr nur auf den innerbetrieblichen Bereich begrenzt. Sie reichen mehr und mehr über die Grenzen des Betriebes hinaus und beziehen außerbetriebliche Liefer-, Bearbeitungs- und Verteilungsprozesse mit ein.

Ansatzpunkte für die Verwirklichung neuer Rationalisierungskonzepte sind die computer-integrierte Fertigung, die Logistik, eine "Produktion auf Abruf". CIM bedeutet vom Konzept her zweierlei: nämlich erstens die Automatisierung manueller Täitigkeiten durch computergesteuerte Maschinensysteme, und zweitens die Integration dieser Systeme in ein aufgabenorientiertes Gesamtsystem mit einer einzigen und einheitlichen Datenbasis. Die datentechnische Integration hat vorrangig eine prozeßorganisatorische Wirkung: Die Gesamtheit des betrieblichen Produktionsprozesses wird systematisiert, zeitlich gestrafft und kontinuierlich gestaltet.

* Eine "Produktion auf Abruf" erfordert doch wohl auch "Material auf Abruf", also eine enge Kooperation mit den Lieferanten?

Mit CIM wollen die Unternehmen ihre Chancen auf hartumkämpften Märkten verbessern, indem sie sich um Qualitätssteigerungen ihrer Produkte sowie um eine rasche und individuelle Erfüllung von Kundenwünschen bemühen. Dies erfordert flexible und anpassungsfähige Produktionsanlagen. Die neuen Rationalisierungsstrategien haben darüber hinaus die Produktion auf Abruf (Just-in-Time-Produktion) zum Ziel. Dies bedeutet aus betriebswirtschaftlicher Sicht "die Bereitstellung des benötigten Produkts zum richtigen Zeitpunkt am rechten Ort." Bei der Produktion auf Abruf ordert jeder betriebliche Verbraucher terminbezogen nur die unmittelbar benötigten Produktmengen bei der Vorfertigung, und diese wiederum ordert auch nur exakt die jeweils angeforderten Mengen beim Zulieferer, so daß im Idealfall ohne Lagerhaltung oder Puffer produziert werden kann.

Die Produktion auf Abruf geht somit einher mit logistischen Optimierungsstrategien, die neue und kostensparende Wege der inner- und zwischenbetrieblichen Warenkreisläufe realisieren will.

* Also entsteht eine neue Qualität in den Lieferbeziehungen zwischen Abnehmer und Zulieferer?

Zentrale Bedeutung erlangen logistische Rationalisierungsbemühungen durch ihre Wirkung über den einzelbetrieblichen Horizont hinaus. Die Einbeziehung von Zulieferbetrieben in ein logistisches Gesamtkonzept, wie es in der Automobilindustrie mit direkter datentechnischer Anbindung bereits zunehmend für Hersteller von Sitzen, Kraftstoffbehältern und Reifen praktiziert wird, verweist auf die zwischenbetriebliche Integration, die mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen verbunden ist.

Darüber hinaus bilden sich direkte Zugriffs- und Kontrollmöglichkeiten heraus, die eine enge Anbindung von Zulieferern an das dominierende abnehmende Unternehmen bedeuten und somit eine neue Qualität in den Lieferbeziehungen herstellen. Diese Hinweise zeigen, daß es verfehlt wäre, unternehmerische Strategien zur logistischen Optimierung und zur Verwirklichung einer Produktion auf Abruf ausschließlich unter betriebswirtschaftlichen Fragestellungen zu betrachten. Aus diesem Grund ist es aus gewerkschaftlicher Sicht erforderlich, die bisher überwiegend von Betriebswerten und Technikern getragene Vernetzungsdiskussion, die dem derzeitigen Stand der Rationalisierungswirklichkeit weit voraus ist, durch zusätzliche Betrachtungselemente zu ergänzen.

*Wie sieht es denn in diesem Zusammenhang mit Kosteneinsparungen aus?

Es erscheint notwendig, die in der öffentlichen Diskussion dominierenden Debatten um Kosteneinsparung zu ergänzen durch die Frage nach den ökonomischen und sozialen Auswirkungen der neuen Rationalisierungsstrategien. Erwünschte betriebliche Auswirkungen dieser Strategien sind: die Senkung der Lagerbestände zwischen 50 und 70 Prozent und die damit verbundene Verringerung der Kapitalbindung, die Verkürzung von Durchlaufzeiten zwischen 60 und 90 Prozent, die Erhöhung der Flexibilität, schnelle Reaktionen auf Kundenwünsche und Marktsignale, eine höhere Termintreue, Veränderungen in der Produkt- und Einzelteilgestaltung sowie Ausdehnung der Maschinennutzungszeit durch Einführung von Schichtarbeit.

Im Gefolge logistischer Optimierung verändert sich das bestehende Informationsgefüge in den Unternehmen, da der Informationsfluß gegenläufig zum Materialfluß zu organisieren ist und eine Neugestaltung der Erfassung von Betriebsdaten, die Schaffung entsprechender Rechner-Netzwerke sowie die Entwicklung neuer Software-Lösungen erfordert.

* Und mit welchen möglichen Auswirkungen auf den Personalsektor, auf die Arbeitsplätze?

Aus gewerkschaftlicher Sicht spricht gegenwärtig wenig dafür, daß die neuen und ganzheitlichen Rationalisierungskonzepte der Unternehmen dazu angetan sind, traditionelle und hierarchische Formen der Arbeitsteilung zu überwinden. Unter den derzeit am Markt angebotenen Planungs- und Steuerungssystemen dominieren jene, deren hochgradig arbeitsteilige und zentralistische Auslegung in einem deutlichen Gegensatz zu der Behauptung steht, die technologische Entwicklung bewirke quasi automatisch ein Ende der Arbeitsteilung. Marktgängige Systeme zementieren auf diese Weise traditionelle arbeitsteilige und hierarchische Strukturen und begrenzen damit die Möglichkeiten einer sozialen Gestaltung von Arbeit und Technik im Interesse der Arbeitnehmer. Bemühungen um die soziale Gestaltung von Arbeit und Technik müssen daher bereits in der Phase der Planung und Konzeptionierung rechnerintegrierter Systeme einsetzen und Kriterien für deren soziale Gestaltung vorgeben. Diese Erkenntnis unterstreicht die Berechtigung der gewerkschaftlichen Forderung nach erweiterter Mitbestimmung bei der Einführung neuer Technologien.

* Diese Reorganisierung macht also nicht bei den Grenzen des Betriebes halt?

Durch die Verfolgung ganzheitlicher Rationalisierungsstrategien, vor allem aber durch die betriebliche und zwischenbetriebliche Integration von rechnergestützten Informations-, Kommunikations-, Entscheidungs- und Produktionssystemen erwachsen neue Herausforderungen für die betriebliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer und für die gewerkschaftliche Technologiepolitik. Mehrere Trends zeichnen sich ab.

Zum einen wächst durch die informationstechnische Vernetzung betrieblicher und zwischenbetrieblicher Bereiche die Bedeutung rechnerintern gespeicherter Daten zur Aufgabenerfüllung, insbesondere der Arbeitsvorbereitung. Dadurch weitet sich der Anteil von Bildschirmarbeit aus. Möglichkeiten der Mischarbeit werden dabei eingeschränkt, während neue Probleme dadurch entstehen können, daß Arbeitnehmer künftig mit unterschiedlichen Bildschirmsystemen (Benutzeroberflächen) arbeiten müssen.

Zum anderen erfordert die informationstechnische Vernetzung neben der Abbildung komplexer betrieblicher Abläufe in einem Computersystem zugleich organisatorische Maßnahmen um die betriebliche Wirklichkeit dem programmierten Modell anzupassen. Dispositions und Gestaltungsspielräume der Arbeitnehmer können auf diese Weise eingeschränkt werden. Zugleich wächst für sie die Gefahr, daß vernetzte Produktionssysteme undurchschaubar werden und es nicht mehr möglich ist, Vorgaben des Systems auf Angemessenheit zu überprüfen oder zu hinterfragen.

Für die betriebliche Interessenvertretung birgt die logistische Optimierung die Gefahr, in dem Maße, wie sie die Transparenz für unternehmerische Entscheidungen erhöht, diese Transparenz für das Handeln für die Interessenvertretung der Arbeitnehmer abzubauen

* Wird der CIM-Manager künftig zum gewerkschaftlichen Buhmann?

Für diese Vermutung sprechen Versuche zur Etablierung eines ressortübergreifenden zentralen Logistik-Managements in den Unternehmen, eine wachsende Totalität bei der Erfassung von Betriebsdaten sowie ein erschwerter Zugang zur Informationsbeschaffung für betriebliche Interessenvertretungen, zum Beispiel durch die Ausgründung von DV-Abteilungen.

Bedeutet dies auch eine Wasserscheide für den gewerkschaftlichen Einfluß?

Die Vernetzung eröffnet neue Spielräume zur Flexibilisierung von Produktion und Arbeitskräfteeinsatz. Dabei führt sie vielfach zu Konflikten mit den gewachsenen Kompetenzbereichen Hierarchien und Strukturen. Eine besondere Gefahr darin, daß die schrittweise Realisierung rechnerintegrierter Produktionskonzepte die zentrale Prozeßbeherrschung auf die obere Managementebene verlagern kann. Im Zusammenhang mit den damit einhergehenden betrieblichen Auseinandersetzungen werden in Zukunft Machtkämpfe um die Verteilung und den Verteilungsschlüssel von Informationsströmen zu einer wesentlicher Konfliktquelle werden.

* Deutet sich da ein Catch-as-catch-can zwischen Informationsmanager und Arbeitnehmer an? Will die Gewerkschaft die Rolle des Schiedsrichters spielen?

Dabei geht es nicht nur um die Verfügbarkeit von Informationen und Informationsnetze. Es geht aus gewerkschaftlicher Sicht dabei darum, die Gleichzeitigkeit einer möglichen Dezentralisierung von Arbeit und eines Trends zur Konzentration von Informationen und Daten sowie Entscheidungsbefugnissen abzuwehren.

In diesen Zusammenhang wird zu prüfen sein, ob die vertikale Neugestaltung von Arbeitssystemen, in denen zum Beispiel Funktionen der Arbeitsvorbereitung der Fertigungsplanung und -steuerung sowie Funktionen der Fertigung und Instandhaltung integriert sind, zu einem Schwerpunktziel einer sozialen Gestaltung von Arbeit und Technik werden kann.