Internet-Boom stellt Einstellungskriterien auf den Kopf

Junge Quereinsteiger werden Berufsprofis vorgezogen

25.08.2000
IT-Profis bleiben Mangelware. Eine aktuelle Befragung der IHK Karlsruhe errechnet allein für die Region einen Bedarf an 7000 Spezialisten. Die Arbeitgeber suchen System- und Programmierexperten mit Windows-NT- und Linux-Kenntnissen beziehungsweise Datenbank- und Java-Know-how. Von Ingrid Weidner*

"Nach dem Start der Green-Card-Diskussion waren unterschiedliche Zahlen im Umlauf. Mit unserer Studie wollten wir genauer untersuchen, wie der Bedarf in unserer Region aussieht, wie viele Fachkräfte fehlen und welche Qualifikationen besonders gefragt sind", so Frank Elischewski, der zusammen mit Jörg Orlemann von der IHK-Unternehmens- und Technologie-Beratung Karlsruhe GmbH im Frühjahr dieses Jahres Fragebögen an 635 Unternehmen verschickte.

Dafür wählten sie Betriebe aus, die in IT-Kernbereichen arbeiten. Zusätzlich befragten sie Forschungseinrichtungen und die Hochschulen in der Region. "Bereits heute muss jedes dritte Unternehmen Aufträge ablehnen, weil das Fachpersonal fehlt", so eines der Ergebnisse der Studie. In 78 Prozent der befragten Betriebe herrscht Fachkräftemangel. Durchschnittlich würden elf zusätzliche IT-Mitarbeiter pro Unternehmen gebraucht. Hochgerechnet auf die Firmen in der Region bedeutet das einen Fachkräftemangel von zirka 7000 Personen.

"Uns hat der große Bedarf nicht sonderlich überrascht", so Elischewski, "denn in der Region haben sich viele junge Internet-Unternehmen angesiedelt". Mit dem Web-Boom wuchsen viele Garagenfirmen enorm schnell und benötigen mehr Personal, als der Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt. Dabei bietet die Infrastruktur in der Region die besten Voraussetzungen für gut ausgebildete Mitarbeiter. Die Technische Universität Karlsruhe feierte in diesem Jahr ihr 175-jähriges Gründungsjubiläum und verfügt über eine der größten Informatikfakultäten der Bundesrepublik.

Jeder vierte deutsche Informatiker hat sein Diplom in Karlsruhe erworben. Informatiknahe Studiengänge wie Wirtschaftsingenieurwesen, eine Fachhochschule und Berufsakademie bieten weitere Ausbildungsmöglichkeiten an. Die Hochschule für bildende Kunst und Gestaltung rundet das Angebot ab. Aber die geringen Anfängerzahlen der letzten Jahren machen sich gegenwärtig stark bemerkbar.

Momentan überbrücken 78 Prozent der Unternehmen die personellen Lücken mit Überstunden, und über die Hälfte versucht, neue Mitarbeiter zu finden. Für Zeitarbeitskräfte entscheiden sich zwölf Prozent, und das Arbeitsamt bitten nur acht Prozent um die Vermittlung geeigneter Fachkräfte.

Besonders genau fragten die IHK-Experten nach den fachlichen Anforderungen des idealen Bewerbers. Spitzenreiter im Fachwissen sind System- und Programmierkenntnisse. 31,8 Prozent der Studienteilnehmer suchen vor allem für dieses Gebiet neue Mitarbeiter. An zweiter Stelle folgen Know-how zu Betriebssystemen (18,5 Prozent) und Intranet (17,8 Prozent).

Eine genauere Analyse ergab, dass die IT-Profis mit System- und Programmierkenntnissen vor allem Datenbank-Know-how (69 Prozent), C++ (66 Prozent), HTML/XML (62 Prozent) und Java beziehungsweise Javascript (59 Prozent) beherrschen sollten. Spezialisten mit Programmiererfahrung in Cobol suchte keines der befragten Unternehmen.

Bei den Betriebssystemen sollte sich die Mehrheit der Bewerber (87 Prozent) nach den Wünschen der potenziellen Arbeitergeber vor allem mit Windows und Windows NT auskennen. Für das Betriebssystem Linux suchen 49 Prozent der Befragten Fachpersonal, für Unix etwa ein Drittel, und Kenntnisse in Novell fragten 21 Prozent nach. Dem gegenwärtigen Trend entsprachen auch die gewünschten Kenntnisse bei den Internet-Anwendungen. Die Firmen fahnden gleichermaßen nach Experten für Electronic Commerce und Shop-Systeme (44 Prozent) sowie Web-Design (41 Prozent). Für Intranet-Anwendungen brauchen die Unternehmen vor allem Mitarbeiter, die in systemnahen Anwendungen und bei der Netzwerkadministration und Netzwerkbetreuung fit sind.

Gern gesehen: Junge HochschulabsolventenDie meisten befragten Arbeitgeber wünschen sich von den neuen Mitarbeitern einen Hochschulabschluss. Allerdings nennen sie an zweiter Stelle Bewerber mit einem Berufsabschluss in einem der neuen IT-Ausbildungsberufe; eine erstaunlich hohe Zahl, die für die gute Akzeptanz der neuen Ausbildungsmöglichkeiten spricht. Besonders gefragt ist der Bereich Anwendungsentwicklung. Von den Unternehmen, die gerne einen Azubi einstellen möchten, sollte es bei 92 Prozent ein Absolvent dieser Fachrichtung sein. Bescheiden nimmt sich die Zahl der Betriebe aus, die selbst ausbilden. Nur 55 Prozent bieten Ausbildungsplätze an. Allerdings wollen weitere 35 Prozent in Zukunft Lehrlinge einstellen.

Bei den Kurzlehrgängen ohne Zertifikat oder Prüfung stehen Linux/Unix und E-Commerce-Kurse fast gleichwertig an erster Stelle mit 67 und 66 Prozent. Dagegen schätzen nur 33 Prozent der Umfrageteilnehmer Weiterbildungen zum Web-Master als attraktive Zusatzqualifikation ein.

Die Berufschancen für Studienabbrecher und Quereinsteiger sehen in der Region Karlsruhe vielversprechend aus. 46 Prozent der befragten Unternehmen können sich vorstellen, einen Hochschulabbrecher einzustellen, und 41 Prozent nennen Quereinsteiger als ideale Kandidaten.

Einer der Gründe für die optimistische Einschätzung könnte das Alter der Bewerber sein. Die Klassiker Studium und mehrere Jahre Berufserfahrung geraten zugunsten der jugendlichen Energie ins Hintertreffen. Denn nebender Qualifikation und dem Abschluss zählt vor allem das Alter der Fachkräfte. 62 Prozent der Befragten bevorzugen Berufseinsteiger. Nur 16 Prozent suchen Fachkräfte mit mehr als drei Jahren Berufserfahrung, und lediglich 14 Prozent wünschen sich Bewerber mit mindestens fünf Jahren Praxisluft.

"Die Firmen suchen junge, dynamische Leute", so Elischewski; vermutlich eine Begleiterscheinung des Internet-Booms. Denn die jungen, erfolgreichen Firmengründer gelten als Synonym für Innovation, neue Ideen und Wachstum. Vermutlich versprechen sich viele Unternehmen, dass die Hochschulabsolventen die neuesten Technologien mitbringen und beherrschen.

Nur leider lassen sich selbst mit dem Schmetterlingsnetz nicht genügend junge Talente fangen. In diesem Jahr rechnet die Universität Karlsruhe mit zirka 100 Absolventen der Informatik. Nach dem Abschluss arbeiten zwar alle Informatiker in der IT-Branche, und nur zwischen fünf und 15 Prozent zieht es ins Ausland, um erste Berufserfahrungen zu sammeln. Aber die Diplomanden können bei weitem nicht den Bedarf decken. Selbst mit den Naturwissenschaftlern, von denen es nach dem Examen die Hälfte ins IT-Umfeld zieht, reichen die Fachkräfte nicht aus. Die Berufsaussichten in der Wirtschaft sind also bestens.

Einerseits freuen sich die Professoren, wenn sie ihre Absolventen in sicheren Arbeitsplätzen wissen, andererseits bereitet ihnen der Run auf die lukrativen Jobs Kopfzerbrechen. Schon heute klagen alle Universitätsinstitute in der Region über Nachwuchsmangel. "Die Fakultät benötigt allein in Karlsruhe 20 bis 30 Nachwuchswissenschaftler, um den Betrieb aufrechtzuerhalten"; so Informatikprofessor Gerhard Krüger. "Wir müssen uns die Idealisten aussuchen und den jungen Mitarbeitern wissenschaftliche Lebensqualität bieten", so Krüger zur Rekrutierungsstrategie der Hochschule.

Dazu gehört beispielsweise die regelmäßige Teilnahme an internationalen Kongressen und Forschungsprojekten in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Aber selbst mit solchen Anreizen können die Professoren nicht alle Assistentenstellen besetzen. Bewilligte Forschungsprojekte können aufgrund der fehlenden Mitarbeiter nicht bearbeitet werden.

Mittelfristig sollten mehr Unternehmen in die Ausbildung investieren, so die IHK-Empfehlung. Von einem bedarfsorientierten Ausbau der Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen versprechen sich die Arbeitgeber eine Entlastung des angespannten Arbeitsmarktes. Noch immer führe das Unterrichtsfach Informatik an vielen Schulen ein Schattendasein. Mit einer quantitativ und qualitativ besseren Ausstattung an Schulen und einem interessanten Fachunterricht ließen sich vermutlich mehr Schüler für das Fach begeistern. Es komme darauf an, langfristig das Image und das Ansehen von Naturwissenschaftlern, Informatikern und Ingenieuren zu verbessern, so die Wunschliste der Studie.

*Ingrid Weidner ist freie Journalistin in München.