IT in der Assekuranz: mehr als HTML

Jonglieren mit großen Systemen

25.10.2000
Von Veronika Renkes
Internet und E-Commerce bieten der Versicherungsbranche die einmalige Chance, das Schlagwort Dienstleistung endlich zu Gunsten des Kunden Wirklichkeit werden zu lassen. Einziges Hindernis: fehlende IT-Spezialisten.

Der Bedarf an IT-Spezialisten steigt in der bisher eher als verstaubt geltenden Versicherungsbranche. Die Öffnung des europäischen Marktes und die rasanten Entwicklungen durch E-Commerce bescheren den Unternehmen zusätzlichen Konkurrenzdruck; Produkte sind an das schnelllebige Medium Internet anzupassen. Darauf stellt sich die Branche derzeit ein und räumt dabei vor allem der IT eine zentrale strategische Rolle ein. So werden beispielsweise die Datenerfassung und Verwaltung abgelöst von dialogorientierten Anwendungssystemen im Backoffice. Diese übernehmen nicht nur die Aufgaben des klassischen Versicherungskaufmannes, sondern straffen die Kommunikationswege zwischen dem Außen- und dem Innendienst.

"Wir spüren zunehmend den Marktdruck", so Kai Seim, Bereichsleiter Informatik bei der Gerling E & L Lebensversicherungs-AG in Wiesbaden. Mit der Einführung des Euros sind spätestens 2002 die Versicherungprodukte europaweit miteinander vergleichbar. Ratings und Bewertungen über die Versicherungen, ihre Angebote und Leistungen heizen bereits heute über Fachzeitschriften den Wettbewerb an. Das bekommt auch die Wiesbadener Tochter des Kölner Gerling-Konzerns zu spüren, die sich auf Lebensversicherungen für Versicherungsmakler und Mehrfachagenten spezialisiert hat: "Der Preiskampf ist enorm", sagt Seim.

Die Firmen sind gezwungen, Produkte und Dienstleistungen flexibler und überschaubarer auf die Bedürfnisse der Kunden zuzuschneiden. Vor allem gilt es, die Möglichkeiten der virtuellen Märkte zu nutzen. Denn langfristig gesehen wird ein Viertel der Versicherungsgeschäfte direkt über das Netz abgewickelt - das zumindest prognostiziert die Unternehmensberatung Mummert + Partner.

Eine weitere Herausforderung liegt in der Umstrukturierung der Arbeits- und Organisationsprozesse: Das Internet könnte den Informationsaustausch zwischen den Versicherungshäusern und ihren Außendienstlern optimieren. Ähnlich wie bei den Direktbanken soll der Kunde am heimischen Bildschirm seine Versicherungsakten selbst bearbeiten können, Angebote einholen und Verträge abschließen - eine Entwicklung, die sich zu Gunsten von IT-Fachkräften niederschlägt. "Immer schneller kommen neue Tarife auf den Markt", beschreibt Renate Rogge, Personalreferentin bei der Versicherungskammer Bayern. Bestehende Systeme seien nicht nur zu warten und zu pflegen, sondern auf die Zukunft hin zu entwickeln. Dem Außendienst müssen Programme und Angebote elektronisch zur Verfügung gestellt werden.

Um ausreichend Nachwuchs rekrutieren zu können, bietet die Versicherungskammer mit anderen Unternehmen der Branche ein IT-Trainee-Programm in der Applikationsentwicklung an. Acht Monate davon verbringen die Trainees im Siemens-Trainingscenter, die restlichen vier arbeiten sie in einem der Kooperationsunternehmen. Auch bei der Wiesbadener Gerling E & L sollen die Versicherungsagenten künftig über das Internet die Inhalte von Verträgen abfragen und Vertragsänderungen einstellen können. Ähnlich wie bei einem Konto bei einer Direktbank könnte dann auch der Endkunde zum Beispiel bei fondsgebundenen Lebensversicherungen überprüfen, wie sich die angelegten Fonds entwickelt haben. Provisionen für die Makler ließen sich dann, anstatt wie bisher üblich monatlich, auch wöchentlich oder täglich zahlen. Das würde den Konkurrenzdruck zu anderen Versicherungsanbietern ein wenig schmälern, meint der Informatiker Seim.

Wer im Wettbewerb die Nase vorne hat, hängt auch bei den Versicherungskonzernen mehr denn je vom Nachwuchspotenzial ab. Vor allem die Anstellung von IT-Fachleuten wird zur wichtigen Aufgabe für die Personalabteilungen. Gesucht werden vor allem Informatiker, die sich um Systementwicklung, Netzwerkbetreuung, Benutzerservice, Projektplanung und -controlling kümmern, fasst Gerling-Mann Seim zusammen.

Berufsanfänger sollten eine fundierte Basisausbildung mitbringen, programmieren können und wissen, was ein Konfigurations-Management-Werkzeug ist. Der Rest ist learning by doing. "Das, was sie von der fachlichen Seite lernen müssen, bringen wir den Leuten bei", meint der Gerling-Manager. Die Wiesbadener entwickeln große transaktionsorientierte Systeme. "Das beherrscht eigentlich so gut wie niemand, der direkt von der Universität kommt", glaubt Seim. "Wir haben immer noch einen Großrechner. Den binden wir an das Internet an und öffnen unsere großen Transaktionssysteme für den Zugriff über das Internet. Das ist für Informatiker interessanter, als HTML-Seiten zu bauen."

Weiterbildung wird in Wiesbaden groß geschrieben. Neben der internen und externen Schulung wird auch privates Engagement gefördert. So können etwa DV-Kaufleute parallel zu ihrer Arbeit an der Fachhochschule Mainz studieren. Zudem gibt es ein Programm zur Entwicklung von Führungskräften. "Wir möchten Mitarbeiter, die nach vorne kommen wollen, fördern", beschreibt Barbara Schmitt von der Personalabteilung der E & L Lebensversicherungs-AG die Vorzüge ihrer Firma.

Die Entwicklung hin zu einem virtuellen Versicherungsunternehmen sieht die Personalreferentin eher kritisch. "Versicherungen haben sehr viel mit Vertrauen zu tun, und das baut sich am besten durch den direkten Kontakt auf", meint Schmitt. Der Kontakt zum Endkunden findet bei den Wiesbadenern über den Makler statt. Der wird mit entsprechender Technik unterstützt, damit er sich die Informationen vor Ort holen kann. Die Mitarbeiter im Backoffice entwickeln die Angebote. Das sind einerseits die Produktentwickler, -manager und Mathematiker und auf der anderen Seite die Techniker, die das dazugehörige Equipment programmieren. Dabei existieren Schnittstellen zwischen den Entwicklern und den Versicherungskaufleuten in den Fachabteilungen. Hierfür benötigt das Unternehmen Entwickler, welche die Wünsche und Probleme der Fachabteilungen verstehen - eine optimale Aufgabe für einen Wirtschaftsinformatiker.

Um den Bedarf an Informatikern mit Wirtschafts-Know-how zu decken, bietet das Unternehmen einen Ausbildungsplatz für die Verbundausbildung zum Wirtschaftsinformatiker (BA) mit der Berufsakademie in Mannheim an. Bewerben sollten sich Abiturienten mit Leistungskurs Mathematik oder Informatik, analytischem Gespür, die obendrein neugierig sind und Spaß am Lernen haben.

Auch die Versicherungskammer München lockt mit interessanten Aufgaben: Bestandsysteme aus den alten Versicherungsbereichen sollen auf eine neue Plattform gestellt, die Datenverarbeitung neu konzipiert, das papierlose Büro geplant, Internet- und Intranet-Strategien entworfen werden. "Bewerber sollten die Zukunft der Kammer mitgestalten", meint Personalreferentin Rogge. "Exorbitante Gehälter" würden zwar nicht gezahlt, dafür investiere die Kammer aber in die Ausbildung der Neueinsteiger und fördere diese nach individuellen Neigungen und Fähigkeiten. Besondere Vorliebe der Münchner: Anwendungsentwickler mit dem Schwerpunkt Software-Engineering.