Jetliner vollstaendig im CAD-Labor entstanden Fuer die 777 hat Boeing keinen Strich mehr von Hand gezeichnet Von Michael Zell*

08.10.1993

Wenn das Gewicht der Konstruktionspapiere das des Flugzeugs uebersteigt, dann wird es langsam Zeit fuer dessen Baubeginn. Diese alte Faustregel unter Flugzeugbauern verliert jetzt endgueltig ihre Existenzberechtigung. Bei der Entwicklung des neuen Passagierjets Boeing 777 hat der weltgroesste Flugzeugbauer erstmals in der Luftfahrtgeschichte voll auf CAD gesetzt.

Das Fuehrungsduo von Boeing, Chairman und Chief Executive Officer Frank Shrontz sowie sein President Philip Condit, faehrt wohl derzeit das groesste Restrukturierungsprogramm in der Geschichte des Unternehmens. Ziel: Das in Seattle ansaessige Grossunternehmen will seinen beeindruckenden Weltmarktanteil von rund 60 Prozent vor dem EG-Konkurrenten Airbus Industries (25 Prozent) und US-Hersteller McDonnell Douglas (zwoelf Prozent) unbedingt halten.

Der Konzern ist, so die US-Zeitschrift "Financial World", der "letzte Titan" unter Amerikas Traditionsunternehmen. Im vergangenen Jahr verdiente der Flugzeugbauer bei knapp 30 Milliarden Dollar Umsatz (143 000 Mitarbeiter) rund 550 Millionen Dollar. Der Riese ist zudem groesster Exporteur der USA.

Verminderung der Kosten um 25 Prozent in fuenf Jahren

Da aber die Fluggesellschaften derzeit fast durchweg im Sinkflug sind und sich auch mit Militaergeschaeften eine moegliche Schwaechephase nicht mehr ueberbruecken laesst, sorgt die Company vor. Die ehrgeizige Vorgabe der Geschaeftsfuehrung: eine Verminderung der Kosten um 25 Prozent innerhalb von fuenf Jahren. Die Zauberworte dabei heissen Entwicklung am Computer, Verkuerzung der Durchlaufzeiten, Concurrent Engineering und Just-in-time- Lieferung.

Boeing probt das Ganze am neuen Jet 777, der 375 Sitzplaetze in zwei Klassen und eine Reichweite von 7500 Kilometern haben soll. Experten schaetzen die Entwicklungskosten auf rund vier Milliarden US-Dollar. Damit wird fast die gleiche Summe wie beim Jumbo 747 erreicht werden.

Fuer die Konstruktion des Jetliners am Computerbildschirm hatte der Flugzeugbauer im letzten Jahr einen mehrere Millionen Dollar schweren Vertrag mit Spectragraphics, San Diego, ueber die Lieferung von CAD-Grafiksystemen geschlossen. Etwa 800 dieser neuen Systeme der Serie Lanset 3000 sowie dazugehoerige Kommunikations-Controller sind nun in den Boeing-Werken in Everett, Renton und Washington fuer die Entwicklung und Herstellung der 777 im Einsatz. Einer der Hauptgruende dafuer war, dass die Vorgaengermodelle dieser Systeme bereits erfolgreich bei der Entwicklung des Langstreckenfliegers B 2 zum Einsatz gekommen waren.

Die multifunktionalen 3D-Grafikarbeitsplaetze, an denen die Boeing- Ingenieure taetig sind, besitzen einen Session-Manager, der es erlaubt, gleichzeitig vier Mainframe-basierende Grafikanwendungen wie Cadam, Catia oder CAEDS sowie vier 3270- oder Telnet-Sessions in verschiedenen Fenstern des Arbeitsplatzes zu bearbeiten. Parallel sind auch mehrere auf Unix-Systemen laufende X-Window- Anwendungen in weiteren Fenstern aufrufbar.

Konstruktionsteile zwischen Anwendungen austauschbar

Ueber einen dem Motif-Standard entsprechenden Window-Manager koennen die Konstrukteure so von ihrem eigenen Arbeitsplatz aus gleichzeitig mit mehreren IBM-kompatiblen Mainframes sowie Unix- Servern und Workstations arbeiten. Mit dem Lanset-Window-Manager lassen sich zudem neben dem interaktiven Arbeiten mittels Cut- und Paste-Funktionen ganze Konstruktionsteile zwischen den einzelnen Anwendungen austauschen.

Erstmals hat man bei Boeing auch ueber 200 gemischte Teams aus den Abteilungen Design, Entwicklung, Produktion, Instandhaltung und sogar mit Vertretern der wichtigsten Kunden gebildet.

Mit den CAD-Grafikarbeitsplaetzen im Netz war es so moeglich, gemeinsam und gleichzeitig am Produktentwicklungs- und Fertigungsprozess zu arbeiten. Dadurch liess sich die Entwicklungszeit deutlich verkuerzen.

Papierentwuerfe sind damit endgueltig passe. Alle Konstruktionen, Zeichnungen und Entwicklungsstufen befinden sich in den Speichern der groessten Mainframes der Welt. Doch nicht nur saemtliche Papierzeichnungen, sondern auch die Holz- und Metallmodelle, die die Konstrukteure ueblicherweise zum Test ihrer Entwuerfe bauen, wurden auf die Computer uebertragen. Alle Baugruppen und Systeme werden zunaechst vollstaendig parallel am Rechner mit dreidimensionaler Darstellung durchkonstruiert und dann zum kompletten Modell zusammengesetzt.

Mittlerweile sind rund 90 Prozent der Entwicklung abgeschlossen. Die Produktion laeuft schon an. Typischerweise entwerfen die Ingenieure noch dann, wenn mit dem Produktionsprozess bereits begonnen wurde.

Im Juni 1994 schliesslich wird der zweistrahlige Vogel mit einer Fluegelspannweite von rund 56 Metern zum ersten Mal fuer den Jungfernflug aus dem Hangar rollen. Und ab Mitte Mai 1995 soll dann die planmaessige Auslieferung an die verschiedenen Fluggesellschaften beginnen, die bisher rund 120 Maschinen geordert haben. Je nach Ausstattung wird sich der Kaufpreis zwischen 110 und 140 Millionen US-Dollar bewegen.