Janusköpfige IT: Strategische Waffe und Innovationsbremse

17.04.1992

Dr.-Ing. Gerhard Adler, Geschäftsführer Diebold Deutschland GmbH

Die Informationstechnik ist ein typisches Beispiel für die These, daß betriebliche Hilfsinstrumente je nach Art ihrer Nutzung Segen oder Unheil stiften können. In der gegenwärtigen technischen und organisatorischen Umbruchphase, in der sich viele Unternehmen befinden, ist es vor allem ein Management-Problem, ob die Informatik als eine schlagkräftige Waffe im Wettbewerb genutzt wird oder Innovationen im Bereich von Märkten, Produkten oder Organisation behindert.

"Informationstechnik als strategische Waffe" war ein vieldiskutiertes Thema der späten 80er Jahre. Heute - im Jahr 1992 - wird die Frage gestellt, ob die Informationsverarbeitung auf dem Weg in die Zukunft eine Chance oder gar ein Hindernis darstellt. Ist der Euphorie inzwischen die übliche Ernüchterung gefolgt? Ja und nein. Die scheinbare Diskrepanz ergibt sich aus zuviel Technologiegläubigkeit und der Erkenntnis, daß auch die modernste Technologie ineffektiv zu werden droht, wenn sie sich nicht in einem adäquaten organisatorischen Umfeld befindet.

Wo solche Restrukturierungen notwendig sind, werden bisherige Anwendungen über den üblichen Pflegedienst hinaus sehr rasch zu Altlasten. Diese aber können sich zu einem Klotz am Bein entwickeln und die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens in mancherlei Weise beeinträchtigen.

Unter dem Eindruck japanischer Erfolge am Weltmarkt haben viele europäische Unternehmen erkennen müssen, daß es vor allem die organisatorische Leistungsfähigkeit ist, die über die Stärke im Wettbewerb entscheidet: Hohe Funktionalität und Qualität der Produkte allein reichen nicht mehr aus. Wichtiger und dauerhafter sind Verfahren, die die Zeiten für Entwicklung, Angebot und Auslieferung verkürzen, insbesondere aber auch den Marktzugang verbessern. Man muß ferner bereit sein, über neue Vertriebswege nachzudenken.

Zur Leistungsfähigkeit gehört natürlich auch eine gesunde Kostenstruktur. Effektives Kosten-Management ist deshalb eben falls gefragt.

Viele Unternehmen stehen diesem veränderten Wettbewerbsumfeld mit historisch gewachsenen Organisationen gegenüber:

- In der Geschäftsabwicklung herrscht vielerorts noch die vom Taylorismus geprägte Arbeitsteilung.

- Funktionale Organisationsstrukturen haben zu geteilten Verantwortungen geführt.

- Häufig entwickelten sich überdimensionierte Zentralbereiche ohne Geschäftsveranttwortung.

- Administrative Fähigkeiten haben gegenüber operativen Fähigkeiten ein Übergewicht erlangt.

- Führungs- und Steuerungssysteme basieren auf veralteten Prinzipien.

Wo aufgrund der genannten Mißerfolgsfaktoren eine Verjüngungskur angezeigt ist mit dem Ziel, Konzepte wie Strukturentlastung durch kundenorientierte Aufgliederung und Delegation der Verantwortung an die Front, marktorientierte Geschäftsprozeßorientierung und Konzentration auf Kernfähigkeiten durchzusetzen, bildet die Informatik eine solide Grundlage. Wo ein Unternehmen durch Bildung separater Geschäftseinheiten beziehungsweise Tochtergesellschaften dezentralisiert wurde, liefern Kommunikationstechnik und Datenbanken das Bindeglied. Das Gesamtwissen des Unternehmens ist in Datenbanken gespeichert und steht allen autorisierten Benutzern zur Verfügung.

Abteilungsübergreifende Geschäftsprozesse werden mittels durchgängiger Informationssysteme unterstützt. Über Systeme des elektronischen Datenaustauschs (EDI = Electronic Data Interchange) sind auch Lieferanten und Kunden in die internen Informationssysteme eingebunden .

So gesehen, bietet die Informatik allerbeste Voraussetzungen, um eine moderne Unternehmensorganisation wirkungsvoll zu unterstützen. In diesem Fall gilt nach wie vor das Schlagwort von der strategischen Waffe im Wettbewerb. Wichtig ist dabei nur, die altbewährten Erfolgsfaktoren eines Unternehmens zu reaktivieren:

- Kundenorientierung,

- Differenzierung vom Wettbewerb,

- Innovationsbereitschaft und Qualitätsbewußtsein bei Produkten und Dienstleistungen,

- schnelles flexibles Reagieren auf Marktveränderungen,

- Produktivität und Wirtschaftlichkeit,

- Besinnung auf eigene Stärken und

- Freisetzung der bei den Mitarbeitern vorhandenen Leistungspotentiale.

Viele dieser Faktoren sind auf die Funktionsfähigkeit leistungsfähiger Informationssysteme angewiesen. "Schön wär's", wird so mancher Manager seufzen, denn "die Verhältnisse, die sind nicht so". Ein Blick auf die vorhandene Informatik macht nur allzu deutlich, daß es um die Handlungsfähigkeit nicht allzu gut bestellt ist siehe Abbildung.

Die nicht mehr beherrschbare Komplexität der Informatik läßt nicht nur überhöhte Kosten entstehen, weil die Systementwicklung eher einem Reparaturbetrieb als einem Entwicklungszentrum gleicht, vielmehr entstehen auch zahlreiche Sicherheitsrisiken, weil das Informatik-Management ganz einfach die Übersicht verloren hat.

Auch der Verzug beim Systemlieferanten mit der Auslieferung angekündigter Neuprodukte, sei es Hardware oder Software, behindert so manche Vorwärtsstrategie. Oft fehlen zudem die geeigneten Mitarbeiter, sei es, weil ungünstige Standortrahmenbedingungen und/oder Tarifgefüge den Zuzug behindern, sei es, weil langjährige Platzinhaber die Planstellen für junge Kräfte blockieren.

So entsteht jener Teufelskreis, der das Unternehmen daran hindert, die sich bietenden Möglichkeiten moderner Informationstechnik wahrzunehmen: Es fehlt an Zeit, Geld, Know-how, Personal und schließlich auch an Entschlossenheit. Die Expansion des Outsourcing - des Buy statt Make - hat ihre Wurzeln sicher nicht nur in rationalen Überlegungen der Auftraggeber, sondern ist bisweilen auch ein schierer Verzweiflungsakt der frustrierten Unternehmensleitung.

Eine gewisse Ratlosigkeit unter den Informatikspezialisten ist nicht selten die Konsequenz und ein weiterer Teufelskreis droht: Frustration führt dazu, daß sich wertvolle Mitarbeiter entweder in die innere Emigration begeben oder eine weniger desperate Arbeitsumgebung suchen, die ihnen auch zu Erfolgserlebnissen verhilft.

Was die Informatikspezialisten zusätzlich zur fälligen Reorganisation des Unternehmens tun können, ist auf der technischen Seite die Restrukturierung der Systeme unter Nutzung verfügbarer Schnittstellenstandards. Der grundlegende Ansatz heißt hier: Trennung der Anwendungssysteme von den Daten und der Technik.

Daten und Technik sollen für alle Anwendungen gleichermaßen als Infrastruktur (Datenbanken, Netze, Rechnerkapazität) zur Verfügung stehen. Parallel dazu muß der organisatorische Rahmen überprüft werden. Wahrscheinlich haben die Verantwortlichen die Gliederung der Funktionsbereiche neu zu überdenken und - last, but not least - zu lernen, in der ungewohnten Kategorie der Geschäftsprozesse zu denken. Erst dann kann man dazu übergehen, neue Anwendungssysteme entlang der Prozeßketten zu entwickeln.

Hiermit mag deutlich geworden sein, daß zwischen dem Aufwand für Informatik und der Leistungskraft eines Unternehmens kein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Die Erhöhung des Informatik-Budgets bietet noch keine Garantie dafür, daß es aufwärtsgeht. Hat das Unternehmen jedoch zu einer marktorientierten Organisation gefunden, wäre es verhängnisvoll, der Informatik die notwendigen Mittel vorzuenthalten. Ohne ihre Unterstützung ist jede Vorwärtsstrategie zum Strategie verurteilt.

Dieser Artikel wird hier mit freundlicher Genehmigung der Diebold Deutschland GmbH wiedergegeben; er ist im Diebold Management Report Nr. 2/92 bereits erschienen.