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Rechnung mit vielen Unbekannten

Jahr der Mathematik: Aus Angst soll Freude werden

02.01.2008
Von Handelsblatt 
Bei machen sorgt sie für Glücksgefühle, bei vielen jedoch für Unbehagen: die Mathematik. Jetzt haben Deutschlands Mathematiker womöglich die entscheidende Unbekannte ausgemacht, die Mathe-Glück in Mathe-Leid verwandelt.

DÜSSELDORF. Im Gießener Mathematikum, dem "ersten mathematischen Mitmachmuseum der Welt", gibt es zwei T-Shirts zu kaufen, die eines der ungelösten Rätsel der Mathematik verdeutlichen: "In Mathe war ich immer schlecht", steht auf dem einen, "Mathe macht glücklich", auf dem anderen. Wehklagen auf der einen, Glücksgefühle auf der anderen Seite - diese Gleichung geht nicht auf. Jetzt haben Deutschlands Mathematiker womöglich die entscheidende Unbekannte ausgemacht, die Mathe-Glück in Mathe-Leid verwandelt: den Schulunterricht. Im Mathematik-Jahr 2008 wollen sie ihn reformieren.

Mathematik gilt als "Angstfach". Insgesamt haben deutsche Schüler in der aktuellen Pisa-Studie zwar besser abgeschnitten als 2003, in Mathematik aber stagnierten ihre Leistungen. Immer wieder beklagen Unternehmen, dass Schulabgänger die Grundrechenarten nicht beherrschen; Bildungspolitiker bedauern den Mangel an Mathematik-Studenten. Das Fach wird, so scheint es, mit zunehmendem Alter der Schüler unbeliebter. "Irgendwann in der Mittelstufe verlieren wir fast alle Mädchen und viele Jungs", sagt der Gießener Professor und Direktor des Mathematikums, Albrecht Beutelspacher. Das ist die eine Wahrheit.

Die andere formuliert der Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV), Günter Ziegler: "Mathematik ist ein Leuchtende-Augen-Fach. Mathe-Unterricht kann Spaß machen." Ziegler und seine Kollegen wollen im kommenden Jahr den Menschen die Angst vor der Mathematik nehmen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Initiative Wissenschaft im Dialog haben 2008 zum "Jahr der Mathematik" erklärt, Ministerium und Telekom-Stiftung stellen dafür rund fünf Millionen Euro bereit.

Die Initiative soll zeigen, wie wichtig Mathematik für Fortschritt und Wohlstand ist: Algorithmen optimieren Bahnfahrpläne und steuern Navigationssysteme in Autos, Hochrechnungen prognostizieren Wahlergebnisse, Simulationsverfahren ermöglichen Klimaprognosen und Crashtests, Kodierverfahren machen das Internet (mehr oder weniger) sicher. Deutschland ist dabei eine der führenden Forschungsnationen: Die Wissenschaftler sind renommiert, die Institute gut vernetzt. Während in den letzten Jahren viele geisteswissenschaftliche Professuren eingespart wurden, blieb die Mathematik halbwegs verschont. Im Rahmen der Exzellenzinitiative wurden sogar neue Einrichtungen wie das Bonner Hausdorff Center for Mathematics aus der Taufe gehoben.

Das Wissenschaftsjahr soll vor allem junge Menschen für Mathematik begeistern. Schulen und Hochschulen haben gemeinsame Projekte, Wettbewerbe wie die Mathe-Olympiade sollen gestärkt werden. Die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik plant ein Handbuch "mathemagischer Momente", in dem sie Beispiele gelungener Lehre präsentiert. Einiges soll anders laufen als im Jahr der Geisteswissenschaften 2007, das als wenig nachhaltig kritisiert wird. "Ich will, dass die Aktionen das Jahr überleben und dass 2009 wieder Mathematikjahr ist - ohne dass das Ministerium dafür wieder Geld auf den Tisch legt", sagt Ziegler.

Auf Dauer grundlegend ändern soll sich der Schulunterricht. Der Gießener Professor Beutelspacher kritisiert, dass der bisher vor allem als "Disziplinierungsinstrument" verstanden werde - dabei sei Mathe eines der wenigen "emanzipatorischen" Fächer, in denen Schüler selbst die Richtigkeit ihrer Ergebnisse überprüfen könnten. "Ziel muss es sein, selbstständige, mündige und diskussionsfreudige Kinder zu erziehen und nicht Maschinchen, die irgendwas ausrechnen", sagt Beutelspacher. "Das ist ein Paradigmenwechsel, der seine Zeit braucht. Man muss dafür schließlich Generationen von Lehrern ändern."

Etwa über Fortbildungen, wie sie das Gießener Mathematikum anbietet. Üblicherweise sei der Zugang zu Mathematik im Schulunterricht "sehr theoretisch und formalistisch", sagt Beutelspacher. In den Fortbildungen versuche man, den Lehrern den umgekehrten Weg aufzuzeigen: "Wir gehen aus von realen Erfahrungen und überlegen dann, was dahintersteckt", sagt er. "Dann macht es klick, und man erkennt die richtige Erklärung und Lösung. Dieses Klick ist ein tief in der Seele wohltuendes Gefühl, auf dem eine formale Durchdringung viel besser erfolgen kann."

Im Mathematikum kann man etwa in eine mathematische "Minimalfläche" in Form einer Seifenblasenhaut schlüpfen, eine selbst tragende "Leonardo-Brücke" aus Holzlatten konstruieren oder sich in einem Dreiecks-Spiegel tausendfach von allen Seiten betrachten. "Unterricht kann zwar kein Mathematikum kopieren", sagt Beutelspacher, "aber wenn in jedem Schuljahr in jeder Klasse mal ein Experiment gemacht wird, wird sich das Image der Mathematik hundertprozentig ändern."

Bei vielen Lehrern stoßen die Ideen auf Zustimmung: Die Kurse im Mathematikum sind ausgebucht und eine Umfrage der Telekom-Stiftung unter 1.700 Mathelehrern belegt, dass diese sich besonders für Fortbildungen interessieren, die das Entdecken, Forschen und Experimentieren thematisieren. Das Problem seien die Rahmenbedingungen der Lehrer, glaubt DMV-Präsident Ziegler. "Ein Lehrer, der den Lehrplan ernst nimmt, hat keine Zeit für Mathestunden, in denen er interessante Dinge mit den Kindern machen kann", kritisiert er. "Deswegen müssen wir Freiräume schaffen und den Lehrern Material zur Verfügung stellen."

Auch die Lehrerausbildung soll sich ändern. Gegenwärtig gebe es einen Teufelskreis, warnt Beutelspacher, weil nur diejenigen Mathe studierten, die mit dem sehr theoretischen Schulunterricht klarkämen. Im Studium erwarte sie dann "ein sehr syntaktisches, algorithmisches, sinnleeres Operieren mit Mathematik, das sie als Lehrer dann wieder in die Schulen zurücktragen." In einem Pilotprojekt der Telekom-Stiftung wollen Beutelspacher und sein Kollege Rainer Danckwerts aus Siegen vormachen, wie man den Kreislauf knacken könnte. Bisher würden die angehenden Lehrer mit Diplomanden, Master- und Bachelor-Studenten mehr oder weniger "mitgeschleppt" und fühlten sich oft als "Mathematiker zweiter Klasse", sagt Beutelspacher. Deswegen wollen er und Danckwerts ihnen individuelle Angebote machen und mehr Gelegenheiten für Praktika und soziales Lernen in Teams einräumen. Vorlesungen, die in den letzten Jahren immer abstrakter geworden seien, sollen sich wieder mit konkreten Fragestellungen beschäftigen.

Ob die Rechnung aufgeht und Mathe unter dem Strich wirklich irgendwann von Angst- zum Lieblingsfach an Schulen wird? 2008 stehen die Vorzeichen dafür besser denn je.