IT in Versicherungen/Individual- versus Standardsoftware

IT stärkt Marktposition

16.02.2001
Neue Ziele drängen sich den Versicherungsunternehmen auf, besonders offensiv sind bisher aber erst wenige geworden. Es geht um weit reichende strategische Entscheidungen und neue IT-Methoden. Von Ulf Andresen*

Die Versicherungswirtschaft steht vor neuen Herausforderungen; wie nie zuvor ist sie von tief greifenden Veränderungen gekennzeichnet. Zum Beispiel wird ihre Ausrichtung in Sparten in Frage gestellt. Auch etablieren sich momentan immer mehr Versicherungsunternehmen am Markt, die sich auf bestimmte Produkte, Regionen oder Kundentypen spezialisieren. Offensichtlich gehört die Zukunft kundenorientierten Geschäftsfeldern.

Die Deregulierung des Marktes, offensiver Wettbewerb und neue Kundenansprüche zwingen die Assekuranz zu wesentlich mehr Marktorientierung und fordern höchste Flexibilität der Geschäftsprozesse und Organisationsformen. Hier bieten sich aktuelle Technologien und Kommunikationsmittel als "Enabler" an.

IT-Anforderungen der AssekuranzKundenorientierung hat Auswirkungen auf die Informationstechnologie: Die Anwendungssysteme müssen schnellere und flexiblere Anpassungen an Marktbedingungen, die wirtschaftliche Umsetzung von Innovationen und besseres Eingehen auf Kundenwünsche ermöglichen.

Daraus resultieren folgende Anforderungen an die IT-Systeme:

-Stabilität der implementierten Geschäftslogik gegenüber der sich verändernden technischen Infrastruktur.

-Flexibilität gegenüber sich wandelnden Marktbedingungen und Geschäftsregeln.

-Langfristige Investitionssicherheit im Hinblick auf die angeschafften oder eigenentwickelten Systeme.

Die Anwendungsarchitektur muss solchen Anforderungen gerecht werden, das bedeutet beispielsweise:

-Neuentwicklungen müssen aufgrund ihrer langen Lebensdauer in heute noch nicht absehbaren Umgebungen und Konstellationen genutzt werden können.

-Bereits vorhandene Funktionalität muss in Neuentwicklungen integriert werden können, da eine vollständige Ablösung nicht in einem Schritt realisierbar ist.

-Bisher nicht vorgesehene Benutzergruppen werden Zugriff auf Anwendungen erhalten und in die Geschäftsprozesse eines Versicherungsunternehmens integriert werden müssen.

-Unterschiedliche Organisationsformen und Infrastrukturen müssen effektiv unterstützt werden.

-Voneinander unabhängige, frei konfigurierbare Standardlösungen müssen in bestehende Systeme schnell eingebunden werden können.

-Wiederverwendbare Komponenten müssen integriert werden können.

-Komplexe, verteilte Systemkonstellationen müssen in ihrer Funktionalität beherrschbar und administrierbar bleiben.

All diese Erkenntnisse gehen auf eine Initiative des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) zur Formulierung einer Versicherungs-Anwendungs-Architektur (VAA) zurück; damit wurde ein Rahmen für künftige Versicherungsanwendungen entwickelt, gleichzeitig ergeben sich daraus die Voraussetzungen zur Etablierung eines Komponentenmarkts.

Das langfristige Ziel von Versicherungsunternehmen ist es, anstelle mehrerer spartenorientierter Anwendungssysteme nur ein für alle Produkte taugliches, spartenübergreifendes System zu haben. Es muss ein Weg gefunden werden, wie die Assekuranz den neuen Anforderungen unter anderem durch Einsatz von Informationstechnik gerecht werden und gleichzeitig ihre über Jahrzehnte gewachsenen, individuellen Anwendungssysteme einbinden kann.

Individualsoftware macht unabhängigDie häufigsten Argumente von Versicherungsunternehmen dafür, dass Individualsoftware dem Einsatz von Standardsoftware vorzuziehen ist, sind:

-Unabhängigkeit gegenüber Systemanbietern.

-Standardsoftware hat nicht den gleichen Leistungsumfang wie die bestehenden Systeme.

-Bestehende Anwendungssysteme sind nicht von heute auf morgen austauschbar.

-Mitarbeiter müssen für den Umgang mit neuen Technologien qualifiziert werden.

-Neue Technologien sind nicht in der Lage, die großen Datenvolumen performant zu verarbeiten.

-Der Aufwand für die Administration von Anwendungen auf Basis mehrschichtiger Architekturen steigt erheblich.

Diese Argumente sind im Grundsatz richtig, dürfen aber nicht ausschließlich aus Sicht der Informatik beurteilt werden. Was bezüglich der Informatik wünschenswert ist, kann mit Blick auf das des Gesamtunternehmen durchaus anders beurteilt werden.

Ein Beispiel hierfür ist der verständliche Wunsch, dass neue Systeme mindestens das Gleiche leisten sollen wie die bisherigen. Selbstverständlich müssen alle Produkte und Leistungen ordnungsgemäß verwaltet werden können. Trotzdem stellt sich die Frage, ob alle Produkte und Daten eines Unternehmens in ein neues System integriert werden sollten. Denn nur etwa fünf Prozent der neueren Produkte sorgen für mehr als 85 Prozent des Gesamtumsatzes.

In diesem Kontext kann eine Entscheidung gegen die Individualentwicklung und für den Einsatz einer Standardsoftware sinnvoll sein, auch wenn die oben angeführten Argumente zutreffend bleiben und die Anwendungslandschaft weniger homogen wird.

Wer sich mit dem Einsatz von Standardsoftware beschäftigt, ist mit seinen Systemen meist an folgende Grenzen gestoßen:

-Die operativen Systeme decken nicht mehr alle Aufgaben ab.

-Es werden nicht mehr alle Vertriebswege ausreichend unterstützt.

-Eine geschäftsprozessorientierte Verarbeitung ist nicht möglich.

-Nicht alle Informationen stehen zeitnah zur Verfügung.

-Die heute eingesetzten Technologien sind nicht zukunftssicher.

-Neue Anforderungen sind nicht schnell umzusetzen.

-Die derzeitigen Systeme erlauben keinen Komponentenmarkt.

Diese Grenzen sind gleichzeitig Kriterien, die erfüllt werden müssen, wenn eine Standardsoftware ausgewählt werden soll. Aber auch grundsätzliche Ziele müssen von Standardsoftware erreicht werden, die im Zusammenhang mit der Unternehmensstrategie und generellen Lösungsansätzen stehen, wie zum Beispiel:

-Verbesserte Softwareentwicklungsmethoden und -werkzeuge.

-Produktivere Programmiersprachen und -werkzeuge.

-Verbesserte Schichten-Architekturkonzepte.

-Spartenübergreifende Daten- und Funktionenmodelle.

-Integration von Produktentwicklungs- und Verwaltungssystemen.

-Nutzung von Workflow-Methoden und Komponenten.

Funktionale Bereiche einbeziehenBei der Entscheidung für den Einsatz von Standardsoftware sollten die funktionalen Bereiche von Versicherungen in die Betrachtung einbezogen werden. Hierbei wird in Frontend-, Kern- und Backoffice-Bereiche unterschieden.

Im Frontend-Bereich geht es um die optimale Vertriebsunterstützung, beispielsweise um Angebote, Anträge, Schadensmeldungen, Vertriebs-Controlling, Kampagnen-Management, Kundenservice. Für diesen Bereich gibt es bereits von verschiedenen nationalen und internationalen Anbietern eine Vielzahl von Standardsoftware, die sich aus unterschiedlichen Komponenten zusammensetzt und relativ schnell auf Kundenbedürfnisse zuge-schnitten werden kann. Eine Einbindung in vorhandene Technologien ist in der Regel möglich, da verschiedene Schnittstellen bedient beziehungsweise vom Anbieter zeitnah geschaffen werden.

Der Kernbereich deckt die Verwaltung und Verarbeitung von Produkten ab, beispielsweise Bestandsführung, Schaden- und Leistungsbearbeitung, Produktentwicklung, Rückversicherung. Auch hierfür gibt es Standardprodukte am Markt, allerdings ist das Angebot noch nicht sehr umfangreich. Diese Produkte sind häufig für einen Versicherungskunden individuell entwickelt worden und werden anschließend als Produkt am Markt angeboten.

Deshalb ist der Aufwand für die Anpassung an weitere Kundenbedürfnisse nicht zu unterschätzen. Dies gilt auch für ausländische Produkte, da außerhalb Deutschlands oft andere Marktbedingungen herrschen, die sich in den Produkten widerspiegeln. Zusätzlich muss darauf geachtet werden, dass der Systemanbieter in der Lage und bereit ist, die mit der Weiterentwicklung des Produktes in Zusammenhang stehenden Serviceleistungen zu erbringen.

Im Backoffice-Bereich geht es um Verwaltungsfunktionen, beispielsweise finanztechnische Systeme, Buchhaltung und Kostenrechnung, Berichts- und Kontrollsysteme. Hier haben sich die Versicherungen mehrheitlich für SAP-Systeme entschieden. Individuelle Anwendungssysteme sind in Backoffice-Bereichen noch im Einsatz, werden aber mittelfristig durch Standardsoftware ersetzt.

Fazit: Eine Entscheidung für Individual- oder Standardsoftware ist nicht grundsätzlich zu treffen, sondern ist von verschiedenen Einflussfaktoren abhängig, die individuell beurteilt werden müssen.

Grundsätzlich gilt jedoch, dass Entscheidungen bezüglich der Informationsverarbeitung nicht allein auf einzelne Unternehmensteile bezogen werden können. Einzelaktivitäten von Informatikabteilungen können keinen optimalen Unternehmensnutzen erbringen. Die Arbeit der Informatiker kann sich nur dann unternehmerisch gewinnbringend auswirken, wenn sie gesamtheitlich abgestimmt und in die Unternehmensstrategie einbezogen ist.

*Ulf Andresen ist Partner bei der Pricewaterhouse-Coopers Unternehmensberatung.

Abb.1: Neue Ziele und IT-Mittel

Quelle: Pricewaterhouse-Coopers

Abb.2: Funktionaler Überblick

Bei der Entscheidung für den Einsatz von Standardsoftware sollten alle funktionalen Bereiche von Versicherungen mit in die Betrachtungen einbezogen werden. Quelle: Pricewaterhouse-Coopers