IT-Industrialisierung: Die neuen Wertschöpfungsketten

11.04.2007
Von Axel Hochstein, Nico Ebert, Falk Übernickel und Walter Brenner
Der zweite Teil der COMPUTERWOCHE-Serie "IT-Industrialisierung" beschäftigt sich mit den Konsequenzen der Industrialisierung für die IT-Organisation.

Anfang der 80er Jahre waren die amerikanische und die europäische Automobilindustrie geprägt von einem hohen Anteil an Eigenfertigung: Annähernd 40 Prozent der Produktion fanden bei den Herstellern selbst statt, die Zulieferer spielten eine deutlich geringere Rolle als heute. Mit dieser hohen Fertigungstiefe verbunden war ein geringer Grad an Standardisierung sowohl hinsichtlich der Produktionsprozesse als auch der Bauteile. So gab es beispielsweise innerhalb des Mercedes-Benz-Konzerns für den Gummi unterschiedlicher Bauteile häufig auch unterschiedliche Mischungsverhältnisse.

Hier lesen Sie ...

  • was die IT von der Automobilindustrie gelernt hat;

  • wie auch kleine Unternehmen von Skaleneffekten profitieren;

  • warum professionelles IT-Management ein Portfolio-Management erfordert;

  • weshalb das DFMA-Modell ein guter Hebel zur Kostensenkung ist;

  • wie sich die Aufgaben des CIO und der IT-Organisation verändern.

Doch dann wurde die westliche Automobilindustrie unerwartet durch die Konkurrenz aus Japan erschüttert. Die dortigen Autohersteller waren in der Lage, hochwertige Fahrzeuge zu vergleichsweise niedrigen Kosten zu produzieren. Ihre Vorteile waren vor allem darauf zurückzuführen, dass ihre Produktions- und Arbeitsorganisation effizienter war als die ihrer westlichen Mitbewerber und dass sie Teile der Produktion an die Zulieferer auslagerten (Lean Production). Die Grundlage für eine solche Zusammenarbeit bildete im Wesentlichen die Standardisierung von Prozessen und Bauteilen.

Zwei Jahrzehnte später

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die CIOs heute intern erbrachte und zugekaufte IT-Services bündeln sowie als Gesamtangebot gegenüber der Fachseite verantworten.
Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die CIOs heute intern erbrachte und zugekaufte IT-Services bündeln sowie als Gesamtangebot gegenüber der Fachseite verantworten.
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Vor ähnlichen Problemen wie die Automobilindustrie in den 80er Jahren steht heute die IT: Sie ist konfrontiert mit der globalen Konkurrenz beim Betrieb von Anwendungssystemen, Servern, Netzen etc. Allerdings kommen die Mitbewerber nicht aus Japan, sondern aus Indien oder China. Die Unternehmen dort profitieren bislang von einem im Vergleich zu Westeuropa und den Vereinigten Staaten niedrigen Lohnniveau; zudem bemühen sie sich um eine effiziente Produktion, die es ihnen erlaubt, ihre Leistung kostengünstig zu erbringen.

Steigender Druck

Diese neu entstehenden Märkte führen induziert durch eine zunehmende Vergleichbarkeit der Leistungen dazu, dass die Nutzer von IT-Services Kostendruck auf ihre Dienstleister ausüben. Zugleich erwartet die Unternehmensführung von den CIOs, dass sich der Preisverfall in den IT-Servicekosten widerspiegelt und entweder das IT-Gesamtbudget sinkt oder aber Qualität beziehungsweise Wertbeitrag der IT spürbar steigen.

Verstärkt wird dieser Anspruch dadurch, dass sich durchaus Skaleneffekte nutzen lassen: Große und umsatzstarke Anbieter standardisierter IT-Services erzielen dadurch einen deutlichen Preisvorteil gegenüber kleineren Konkurrenten wie der unternehmensinternen IT-Organisation.

Die CIOs müssen sich also Gedanken darüber machen, inwiefern es künftig noch sinnvoll ist, die IT-Commodities von einem internen Dienstleister zu beziehen. Dabei geht es nicht mehr nur um Infrastruktur, Desktops oder Standardanwendungen, sondern auch um komplettes Business-Prozess-Outsourcing (BPO) oder um einzelne, standardisierte Informationsdienste (Enterprise Services).

Professionalisierung

Die Nutzung solcher Skaleneffekte setzt ein professionelles Management der IT voraus gleichgültig, ob es sich um den IT-Dienstleister oder die CIO-Organisation handelt. Dabei lassen sich etablierte Konzepte und Methoden aus der industriellen Güterfertigung sowie aus dem Dienstleistungs-Management auf die IT übertragen.

Beispielsweise führt eine End-to-End-Anwendung des Six-Sigma-Konzepts unter Umständen zu beachtlichen Erfolgen; wer die IT-Leistungsprozesse vom Anwender bis zum IT-Dienstleister auf diese Weise bewertet, kann die Servicequalität enorm steigern. Die aus der industriellen Betriebswirtschaft bekannte Prozesskostenrechnung führt zu mehr Transparenz. Produktionsplanungs- und -steuerungssysteme (PPS) garantieren höhere Auslastungsgrade, also eine effizientere IT-Produktion.

Portofolio-Management

Ausgangspunkt der Professionalisierung ist ein ausgereiftes Portfolio-Management. Es stellt die verursachergerecht kalkulierten Kosten für jeden IT-Service seinem jeweiligen Wertbeitrag in den Geschäftsprozessen gegenüber. Zu fragen ist beispielsweise: Wie hoch ist der Deckungsbeitrag, den die informationstechnische Abwicklung einer Gehaltsabrechnung erzielt? Wie teuer ist diese Abwicklung? Und welche Kosten entstünden, wenn stattdessen manuell abgerechnet würde? Will die CIO-Organisation wirtschaftliche Entscheidungen treffen, müssen ihr derartige Zusammenhänge geläufig sein.

Unter dem Begriff Build-Run-Integration verfolgt die IT heute oft ein Konzept, das in der industriellen Güterfertigung schon seit geraumer Zeit im Einsatz ist. Es nennt sich Design for Manufacture and Assembly (DFMA). Mit seiner Hilfe ist es zum Beispiel für einen Automobilhersteller möglich, bereits in der Entwicklungsphase eines neuen Modells die Auswirkungen zu ermitteln, die bestimmte Entscheidungen nehmen wir an, es handelt sich um die Ausprägung des Kotflügels, auf die spätere Produktion haben werden.

Dieses Konzept lässt sich genau so gut für die Entwicklung von Anwendungssystemen oder IT-Services nutzen. Es hilft dem verbreiteten Problem ab, dass nachträgliche Release-Wechsel hohe Kosten verursachen und Anwendungen im späteren Betrieb einen Aufwand erzeugen, der weder vorhergesehen noch vertretbar ist. Die Analyse von Kostenstrukturen über den Lebenszyklus von Anwendungen hinweg zeigt gemeinhin zweierlei: In den Phasen der Planung und Entwicklung entstehen nur 20 Prozent, im Betrieb aber 80 Prozent der Gesamtkosten. Gleichzeitig verursacht alles in allem des auch die Betriebskosten zu beeinflussen, in den späteren Lifecyle-Phasen zehnmal so hohen Aufwand wie im Entwicklungsstadium.

Mit der DFMA-Methode als Hebel lassen sich die Betriebskosten um bis zu 64 Prozent senken. Vor allem wenn das CIO-Office Entwicklungs- und Betriebsleistungen von unterschiedlichen Dritten bezieht, ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass diese Zusammenhänge über die gesamte Organisation hinweg berücksichtigt werden.

Hauptaufgaben neu definiert

Dem starken Kostendruck können die IT-Organisationen nur begegnen, indem sie sich konsequent auf ihre Kernkompetenzen beschränken. Viele IT-Dienstleister und IT-Organisationen, die heute noch Commodities anbieten, müssen diese Bereiche auslagern und sich auf die effiziente Produktion sowie den erfolgreichen Verkauf von Nischenprodukten konzentrieren.

Das hat zwangsläufig Konsequenzen für die interne Struktur des Serviceanbieters oder der CIO-Organisation. Definierten sie ihre Hauptaufgaben bislang als Plan, Build und Run von Anwendungssystemen, so heißen diese künftig Source, Make und Deliver. Es geht dabei zum einen um die automatisierte Produktion von standardisierten und modularen IT-Services (Make). Zum anderen sollen Services von Zulieferern zugekauft werden, falls diese hochwertiger und kostengünstiger produzieren können (Source). Drittens muss die Dienstleistungs- beziehungsweise IT-Organisation die selbst produzierten und/oder fremdbezogenen Subservices zu IT-Services bündeln und innerhalb oder außerhalb des Unternehmens vermarkten (Deliver).

Einzigartiges Know-how

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, beschränkt sich die IT-Organisation zweckmäßigerweise auf das Anbieten von IT-Services, auf die sie hochgradig spezialisiert ist. Eine IT-Einheit im Chemiesektor dürfte beispielsweise einzigartiges Know-how hinsichtlich der Unterstützung von branchenspezifischen Geschäftsprozessen in der chemischen Industrie besitzen. Andere IT-Services sollten von Dritten bezogen werden. Im Zuge der Industrialisierung müssen sich die IT-Organisationen sowohl auf veränderte Arbeitsweisen als auch auf neue Wertschöpfungsketten einstellen.