Lösungen statt Technik

"IT hat eine dienende Funktion - nicht mehr"

11.06.1999
Geschäft geht vor Technik. Diese Erkenntnis ist eines der Erfolgsrezepte für die betriebswirtschaftliche Software der SAP. Selbst die Amerikaner hatten hier noch viel von den deutschen Softwerkern zu lernen, erklärt Christian Stolorz, Vorstandsvorsitzender des Dienstleistungsunternehmens CSC Ploenzke, im Gespräch mit CW-Redakteur Hermann Gfaller.

CW: Verlangen Ihre Kunden nach Produkten oder nach Lösungen?

Stolorz: Die Ansätze der Kunden sind ähnlich vielfältig wie unsere Wertschöpfungskette. Die Deutsche Börse hat zum Beispiel schlicht nach R/3 gefragt, und wir haben es eingeführt. Aus diesem Projekt hat sich dann ein weiteres für Organisationsberatung entwickelt. Bei Müller Milch ist es umgekehrt: Das Unternehmen sucht nach einer neuen Strategie und ist zu uns gekommen, um sich dabei beraten zu lassen.

CW: Was verstehen Sie von der Milchbranche?

Stolorz: Wir dienen als Sparringspartner, damit das Unternehmen bei seinen Zielen nicht die Bodenhaftung verliert, was die marktwirtschaftlichen Ziele und die Geschäftsprozeßorientierung betrifft. Wichtig war für das Unternehmen aber auch, daß wir nicht nur Ratschläge geben, sondern sie auch DV-technisch umsetzen können. Es ist noch nichts entschieden, aber wahrscheinlich läuft es auf eine R/3-Implementierung hinaus.

CW: Gibt es in der Industrie überhaupt Alternativen zu R/3?

Stolorz: In der Industrie kaum, im Banken- oder Versicherungsbereich schon.

CW: Gehen bei Dienstleistern nicht sofort die Warnlampen an, wenn ein Kunde kommt und direkt nach R/3 verlangt? Besteht hier nicht die Gefahr, daß eine von Sachkenntnis wenig getrübte Vorstandsentscheidung getroffen wurde?

Stolorz: Wir sind herstellerunabhängig. Das SAP-Geschäft macht nur einen Bruchteil unseres Umsatzes aus. Jedes Geschäft beginnt erst einmal mit einer Analyse des Kundenproblems. Wir haben auch bei der Deutschen Börse erst untersuchen lassen, ob R/3 dort paßt. Aber Sie haben recht, der Kunde muß wissen, was er will.

CW: Was meinen Sie damit?

Stolorz: Er muß wissen, was er kaufmännisch anstrebt und was er fachlich in seiner Branche erreichen will. Erst dann setzen wir mit unserer Beratung ein bis hin zur IT-Unterstützung. Die Informationstechnologie hat eine dienende Funktion - nicht mehr.

CW: Ist das die branchenübliche Sicht?

Stolorz: Nicht unbedingt. Sowohl Unternehmen als auch Dienstleister haben das häufig falsch gemacht.

CW: Sie sprechen in der Vergangenheitsform . . .

Stolorz: Wir haben ja auch als EDV-Studio Ploenzke* individuell Lösungen für Kunden entwickelt. Später wurden die immer gleichen Funktionen durch die Standardsoftware von SAP zusammengefaßt. Heute stehen wir vor einer neuen Entwicklung. Wir müssen die Verbindung schaffen von einer Standardgrundlage und einer individuellen "Sahnehaube" obendrauf.

CW: Warum?

Stolorz: Standards sind sinnvoll, um die Bedienung zu vereinheitlichen. Außerdem gibt es am Markt dafür geschultes Personal. Doch gleichzeitig werden die Anforderungen immer komplexer. Insbesondere die Kundenbeziehungen müssen individueller definiert werden und damit auch die sie unterstützenden IT-Verfahren. Kurz: Für administrative Funktionen wie Controlling, Rechnungswesen, Materialwirtschaft und so weiter reichen Standards, bei der Betreuung der Kunden dagegen muß das Unternehmen immer filigraner werden.

CW: Aber gerade im Bereich Kunden-Management tauchen doch immer mehr Standardprodukte auf.

Stolorz: Diese Systeme funktionieren nicht wirklich, das heißt, nur dort, wo Prozesse standardisierungsfähig sind. Aber meist entsteht Mehrwert erst oberhalb solcher Prozesse.

CW: Wollen Sie die Uhr zurückdrehen, in die Zeit der schwer wartbaren Individuallösungen?

Stolorz: Es geht darum, die Vorteile von Fertigkomponenten zu nutzen und nur dort Individuallösungen zu schaffen, wo es geschäftlich nötig ist. Was die Unternehmen brauchen, sind Halbfertig-Lösungen, die zwar von einem Kunden zum anderen übertragbar sind, dort aber auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten werden können.

CW: Das ist das Ploenzke-Konzept. Aber ist nicht die Komponentenarchitektur von Anbietern wie J.D. Edwards der modernere Weg, der zudem vor den Problemen der Individualprogramme schützt?

Stolorz: Im Bereich betriebswirtschaftlicher Software ist für mich SAP immer die Nummer eins. Unabhängig von Herstellern setzen wir auf deren Systemen auf und bieten dort flexible Individualität als Zusatznutzen.

CW: Wenn Sie von Komponenten und Individualprogrammierung sprechen, reden Sie über Technik. Muß man bei der Festlegung geschäftlicher Ziele die technische Umsetzung mit einbeziehen?

Stolorz: Nein. Technisch kann man heute fast alles machen. Ich muß mich als Unternehmer kaufmännisch, strategisch entscheiden, was ich will.

CW: SAP, so heißt es immer wieder, verkauft weniger Software als Betriebswirtschaft.

Stolorz: Da ist was dran. Der weltweite Erfolg von SAP beruht nicht zuletzt darauf, daß ihre Produkte konsequenter als Konkurrenzsysteme auf einer fundierten betriebswirtschaftlichen Basis aufbauen. Das zeigt sich daran, daß wir als SAP-Berater lieber Diplomkaufleute mit IT-Kenntnissen einstellen als IT-Berater oder Informatiker. R/3 läßt sich besser von den betrieblichen Funktionen als von der DV-Technik her verstehen.

CW: SAP hat den US-Markt erobert. Warum wurde R/3 nicht in dem Land entwickelt, das immer wieder als wirtschaftliches Vorbild gilt?

Stolorz: Das liegt zum einen am kurzfristigen Denken. Eine zugekaufte Firma muß ihren Kaufpreis binnen drei Jahren wieder einfahren. Börsennotierte Unternehmen müssen vierteljährlich bilanzieren.

CW: Verlangen nicht gerade diese Rahmenbedingungen nach einem guten Instrument für Enterprise Resource Planning?

Stolorz: Nein, denn die kurze Lebensdauer von Produkten braucht kein so gründliches Planungsinstrument, wie es SAP entwickelt hat.

CW: Das heißt, daß sich die Unternehmen kaum für die Kostenstruktur der eigenen Produkte interessieren, weil diese vielleicht schon nicht mehr auf dem Markt sind, wenn man die Kostenplanung für sie fertiggestellt hat?

Stolorz: So ist es. Die US-Firmen sind am kurzfristigen Erfolg orientiert, weniger an langfristigen Strategien.

CW: Warum hat dann SAP den US-Markt erobern können?

Stolorz: Die Welt hat sich auch für die Amerikaner verändert. Gerade die Megafusionen der letzten Jahre verlangen langfristige strategische Festlegungen und Planungen.

CW: Wollen Sie damit andeuten, daß die Amerikaner ihr kurzfristiges Denken aufgeben, wenn sie deutsche Betriebswirtschaft kaufen?

Stolorz: Ja, sie stellen ihren Way of life um. Die Amerikaner werden in vielen Bereichen wie der finanziellen Ausstattung, bei der Technik und der Fusionsabwicklung weiter führend sein, aber kulturell gibt es eine schleichende Europäisierung in bezug auf die Planungsintervalle. Die kurzfristige Wegwerfmentalität hat keinen Bestand, gleichgültig ob es um Computer oder Autos geht.

CW: Sind die in der amerikanischen Geschäftswelt zirkulierenden Bücher über Kundenbindung, das Konzept der Internet-Com- munities ein Anzeichen für diesen Trend?

Stolorz: Das ist ein Ruf aus dem Bauch, der immer öfter auch vom Verstand bestätigt wird. Es bahnt sich hier ein Kulturwechsel an, bei dem die Europäer den Weg aufzeigen. Es geht dann weniger um das technisch Machbare, als vielmehr um die betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten. Technik soll dazu dienen, die Qualität zu verbessern, Prozesse zu beschleunigen, Kosten zu senken und das Arbeiten komfortabler zu machen.

CW: Unterliegen Sie hier nicht einer durch den R/3-Erfolg ausgelösten Euphorie?

Stolorz: Nein. Der Börsenkurs von SAP ist nicht geeignet, Euphorie auszulösen.

CW: Gibt es denn sachliche Anzeichen für Ihre These, daß die technische Orientierung und die Wegwerfmentalität von langfristigen betriebswirtschaftlichen Strategien abgelöst werden?

Stolorz: Zum einen gibt es neue IT-Manager in den Unternehmen. Es gibt einen neuen Kostendruck und eine veränderte Konkurrenzsituation. Außerdem setzt sich durch, IT in dienender Funktion zu sehen.

CW: Fangen wir beim ersten Punkt an. Was zeichnet die neuen Manager aus?

Stolorz: Im Gegensatz zu früher wird IT von der Firmen- leitung heute ernst genommen. Dort wird heute sehr viel kompetenter über diese Themen entschieden. Als ich bei der Deutschen Bank als Vorstandsassistent arbeitete, war mein Chef neben 14 anderen Dezernaten auch für Organisation und DV zuständig. Sein Nachfolger hatte neben IT nur noch vier weitere Themen zu betreuen. Heute hat man sich dafür eigens den ehemaligen IBM-Topmanager Hermann-Josef Lamberti an Bord geholt. Der heutige IT-Manager sitzt im Vorstand oder berichtet zumindest direkt dorthin. Dadurch wird die Verzahnung von betriebswirtschaftlicher Organisation mit der ihr dienenden Informationstechnik erreicht.

CW: Welche Auswirkung hat die veränderte Wettbewerbssituation?

Stolorz: Die Globalisierung gehört zu den Gründen, warum die Ansprüche der Unternehmen an die Möglichkeiten der DV rapide zugenommen haben. Wichtig ist aber auch die verstärkte Kundenorientierung, die eine immer filigranere Technik verlangt. Weltweit muß eine große Zahl von Abläufen genauestens synchronisiert werden. Solche Anforderungen zwingen die IT, sich an geschäftlichen Belangen zu orientieren._VS:Schließlich unterstützt auch der Mangel an Fachkräften den Trend, Technik hinter Lösungen verschwinden zu lassen. Die Unternehmen bekommen keine guten Anwender mehr und wir keine guten Berater.

CW: Braucht man dann künftig keine DV-Kompetenz auf Anwenderseite mehr?

Stolorz: Doch. Bedienung darf nichts Stures sein. Jeder Entwickler oder Anwender muß kritisch hinterfragen können, was er tut. Er braucht betriebswirtschaftliche, technische, branchenspezifische und - was immer wichtiger wird - methodische sowie soziale Kompetenz.

CW: Dehnen Sie hier die Anforderungen im IT-Dienstleistungsgeschäft auf die Wirtschaft nicht über Gebühr aus?

Stolorz: Es geht mir nicht um Enduser. Dort werden die Programme und Geräte so einfach sein, daß sie sich fast von allein bedienen. Die Anwender der Zukunft werden strategische Entwickler sein, deren Aufgabe es ist, Techniken zu finden und zu implementieren, die den Geschäftszweck unterstützen.

CW: Über Lösungen wird gesprochen, seit es die IT-Branche gibt. Gesprochen wird aber immer über Technikfirmen, über Microsoft, Sun, IBM und Co.

Stolorz: Das stimmt nicht. Das sind die Magazine, die Technikblätter. Die für die Anwender entscheidenden Themen haben nur am Rande mit Technik zu tun. Zu den wichtigsten Fragen gehören die Prozeßoptimierung und die Mitarbeiter. Es geht darum, Menschen und Prozesse zu organisieren._VS:Die Technik ist heute in sich einfach beherrschbar. Handies werden wahrscheinlich bald so klein sein, daß man sie wie Uhren am Armband trägt. Das geschieht quasi automatisch. Worauf es ankommt, ist diese Technik optimal für unsere Zwecke einzusetzen und die Menschen auf den Umgang damit vorzubereiten.

CW: Im Web gibt es das Portal-Konzept: Besonders attraktive Web-Seiten fungieren als Anlaufstelle für Dienste, deren einzelne Anbieter nicht eigens genannt werden. Bahnt sich eine ähnliche Entwicklung auch im Geschäft mit Unternehmens-Lösungen an? Anwender, die sich bei einem Dienstleister eine Lösung bestellen, deren Lieferanten SAP, Oracle, Sun, IBM etc. im Hintergrund bleiben?

Stolorz: So soll es sein.

CW: Weil es Ihnen als Dienstleister zupaß käme?

Stolorz: Nicht nur. SAP selbst versteht sich als Produktanbieter und will das auch bleiben. Produkte sind immer lediglich Teil einer Lösung. Deshalb ist es nur natürlich, daß ein Kunde, der eine Lösung sucht, zum Lösungsanbieter geht und nicht zum Softwarehersteller.

CW: Hat das aber nicht auch zur Folge, daß der Lösungsanbieter bestimmen müßte, wie die Software auszusehen hat, damit sich daraus tatsächlich Lösungen zusammenbauen lassen?

Stolorz: Ich glaube, ja. Ein Hersteller wird nicht mehr einfach ein Produkt nach seinen alleinigen Vorstellungen im Markt etablieren können. Bislang ist es eher so, daß wir im Markt die Komponenten zusammensuchen, die die gewünschte Lösung ergeben, und sie dort ergänzen, wo es noch Probleme gibt.

PRIORITÄTEN

"Ein Unternehmen muß immer von oben geführt werden", erklärt Christian Stolorz kategorisch. Damit meint er eine hierarchische Abfolge von der Strategie zur Technik:

- An erster Stelle muß klar sein, was die Firma kann, was sie erreichen will und mit welchen Kunden.

- Es folgen die Fragen nach den kaufmännischen Umsetzungsmöglichkeiten, nach Kosten, Nutzen und Vermarktung.

- Erst danach kommt die Informationstechnik ins Spiel. Sie, aber nicht sie allein, bietet Instrumente zum Erreichen der vorher definierten Ziele an.

*CSC Ploenzke wurde 1969 als EDV-Studio Ploenzke gegründet.