Versorgungswirtschaft

IT - das Öl im Getriebe des Stromwettbewerbs

02.06.2000
Der Wettbewerb krempelt die Strombranche komplett um. Neue Softwareinstrumente werden benötigt, um die veränderten Geschäftsprozesse und Aufgaben bewältigen zu können. Der Wettbewerb der Systeme ist in aller Schärfe entbrannt. Wie die Anbieter ihre Claims neu abstecken, zeigt Gerhard Großjohann*.

Der Wettbewerb hat das Leben für die EVU kompliziert gemacht, mit weit reichenden Folgen auch für die benötigte Informationstechnik. Früher hatte man zementierte Strukturen: einen festen Kreis von Energieabnehmern, wenige, großteils unveränderliche Tarife, starre Organisationsformen - alles in allem leicht abzubilden in Softwaresystemen.

Dass die Kunden heute ihren Lieferanten wählen können, dass die EVU nicht nur zueinander in Konkurrenz getreten sind, sondern dass der Gesetzgeber auch die strikte Trennung der Bereiche Erzeugung, Transport und Vertrieb fordert, verändert die Situation von Grund auf. Die EVU müssen sich nicht nur zwei- oder dreiteilen, sondern auch gleichzeitig lernen, mit den für sie neuen Geschäftsprozessen des Wettbewerbs umzugehen, wie Angebotsentwicklung, Pricing, Vertriebs- und Produkt-Management, Netzbetreiber- beziehungsweise Netznutzungs-Management, Lastprofil-Management, Netzfahrplan-Management, Einkaufsoptimierung, Marketing, Customer Care, Vertrags- und Auftrags-Management, E-Commerce etc. - und alles schnell, schnell, schnell.

Auch die IT-Anbieter bringt das aus der Puste. Sie sollen rasch Instrumente bereitstellen, die bei der Lösung dieser Aufgaben helfen, obwohl zentrale Spielregeln in der Verbändevereinbarung II gerade erst auf eine halbwegs verlässliche Basis gestellt wurden. In Umbruchzeiten werden Märkte neu verteilt, heißt es - das gilt auch für Softwareanbieter. Etablierte IT-Firmen müssen vorhandene Produkte umstricken oder Tools neu entwickeln. Junge Unternehmen drängen mit innovativen, flexiblen Lösungen auf den Markt. Endzeitstimmung bei den einen, Goldrausch bei den anderen.

Ein schneidender Wind weht in der Verbrauchsabrechnung, die unter den IT-Systemen erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Christian Hartlieb, Geschäftsführer der Somentec Software GmbH in Langen, erklärt die Aufwertung: "Die Abrechnung ist das Getriebe des EVU, damit wird Leistung übersetzt und Liquidität gewährleistet. Was nutzt es, mit tollen Tarifen Tausende Kunden zu gewinnen, wenn man sie nicht abrechnen kann?" Doch die Abrechnung ist komplex geworden: Neue, vielfältigere Tarifformen, kurze Vertragslaufzeiten, häufige Preisschwankungen, die Abrechnung von Netzzugangsentgelten, Bündel- oder Gruppenkunden, die Abrechnung mehrerer Energiearten, energienaher Dienstleistungen und subventionierter Produkte (zum Beispiel Strom plus Fernsehgerät, wie bei der Berliner Ares Energie AG) oder Rabattsysteme müssen abgebildet werden.

Mancher Anbieter kommt ins Schnaufen

Da kommt mancher Anbieter ins Schnaufen. Relativ sicher fühlen darf sich SAP, das mit der Branchenlösung "IS-U/CCS" (R/3) für große EVU praktisch die einzige Alternative für das Massengeschäft darstellt, so die Einschätzung des KPMG-Strategen Guido Wendt. IS-U/CCS ersetzt das Vorläufermodell "Riva" (R/2), dessen Wartung nur bis 2004 gewährleistet wird. In Bedrängnis bringen könnte die Walldorfer zwar das "Cheops"-System der IfS GmbH in Essen, doch dessen Einführung musste schon wiederholt verschoben werden.

Unter dem Druck des Markts hat die RWE-Tochter sich zu einem Politikwechsel entschlossen. "Die Forderung, eine bestehende Anwendungslandschaft in einem Schritt durch Einführung eines neuen, komplexen, voll integrierten Systems in den gewünschten Zustand zu bringen, erweist sich als irreführend", sagt IfS-Geschäftsführer Peter Miebach. "Die Entwicklung einer Anwendungslandschaft muss deshalb in beherrschbaren und kalkulierbaren Schritten geschehen." In der Praxis heißt das, es werden nun vorrangig die Tools entwickelt, die der Markt am dringendsten verlangt, beispielsweise für das Durchleitungs-Management. Gerüchten, IfS wolle sich von Cheops verabschieden, tritt Miebach entgegen: "Wir arbeiten daran massiv weiter, allerdings in veränderter Form."

Diesen Sommer werde man mit dem Modul für das Durchleitungs-Management an den Markt gehen, das ins bestehende hauseigene System "EAS" eingefügt werden soll.

Was die EVU allerdings am wenigsten haben, ist Zeit. Und so stellt sich die Frage, ob alle betroffenen Anwender im RWE-Konzern angesichts dramatisch wachsenden Handlungsbedarfs in Nibelungentreue am IfS-System festhalten, zumal ein neues Produkt selten auf Anhieb ohne Bugs läuft. Noch unsicherer ist, ob EVU aus konkurrierenden Konzernen (Unternehmen des Preussen-Elektra-Konzerns sind die zweitgrößte IfS-Kundengruppe) weiterhin EAS nutzen wollen. Die RWE streiten ja mit den zur E.On Energie AG fusionierenden EVU Preussen Elektra AG und Bayernwerk AG um die Vorherrschaft auf dem deutschen Strommarkt. Weitere Pikanterie: RWE-Fusionspartner VEW ist SAP-Kunde.

Es ist kein Geheimnis, dass die EVU sich mit ihren Softwarepartnern nicht verheiratet fühlen. Gleich scharenweise lassen sich mittelgroße und kleinere Anwender beispielsweise von Schleupen- und Neutrasoft-Produkten andere Systeme präsentieren. Zu den Gewinnern könnten unter anderem Wilken mit "CS/2 Energ:GY" und Somentec Software mit "XAP" gehören. Von einer möglichen Marktbereinigung ist die Rede, auf jeden Fall werde es wesentliche Verschiebungen bei den Marktanteilen geben.

Schnittstellen schaffenNicht minder spannend zu geht es in den Bereichen Vertrieb und Energiedaten-Management. Auf diesem Feld tummelt sich inzwischen eine breite Masse von etablierten und neuen Anbietern, die jedoch oft nur einzelne Module für isolierte Anwendungen liefern. Das große Problem besteht darin, diese Tools in die bestehende IT-Landschaft zu integrieren und ein funktionierendes Gesamtsystem herzustellen, was bedeutet: Schnittstellen schaffen. Denn gefragt sind integrierte Systeme, die alle benötigten Funktionen abdecken. So sieht das zumindest Jürgen Lange, Vorstand der deutsche Eccplus AG in Frankfurt am Main, die mit "Eccplus" nach eigenen Angaben "das bislang einzige durchgängige System für das Customer-Relationship-Management und das Energiedaten-Management" entwickelt hat, das beide neuen Rollen des Vertriebs und des Netzbetriebs unabhängig voneinander unterstützt.

Was die Sache so kompliziert macht, ist die Vielzahl und Komplexität der Anforderungen, die in den IT-Systemen unter einen Hut zu bringen sind. KPMG-Manager Wendt konstruiert ein Beispiel: "Nehmen wir einen mittelständisch geführten Fleischgroßmarkt, der - als Bündelkunde im Verbund mit anderen Märkten aus seiner Region - einen Spezialtarif für Strom erhält. Dem kann das EVU beispielsweise auch noch Gas, Wasser oder energienahe Dienstleistungen verkaufen. Wenn der Kunde das Angebot annimmt, bekommt er einen Extrabonus. Bindet er sich für zwei Jahre, ist ein weiterer Rabatt fällig. Dann wird der Unternehmer sicher erwarten dürfen, für seinen privaten Energieverbrauch ebenfalls Sonderkonditionen zu erhalten. Solche Dinge im IT-System abzubilden ist extrem schwierig."

Verschiedene DatentöpfeIm Wettbewerb ist Kundenorientierung gefragt. Ein funktionierendes IT-System befähigt die EVU, effizient zu arbeiten. "Das ganze Geheimnis ist das Kundendaten-Management", so Wendt. Ein Problem sei, dass momentan in den EVU verschiedene Datentöpfe existierten, jeweils getrennt für die Vertriebsbereiche Strom, Gas, Wasser. Diese Daten müssten zusammengeführt werden, wenn man Kunden mit Energiedienstleitungen aus einer Hand versorgen wolle. Doch das ist noch nicht möglich. Wilhelm Pumm, IT-Experte bei der Unternehmensberatung Ray & Berndtson in Frankfurt am Main: "Eine Abrechnungsplattform, die als Open Link alle Leistungen mit der dahinterliegenden Komplexität integriert, läuft heute noch bei keinem Anwender."

Eine weiteres Schlagwort: Data Mining. Wie erhält und verwaltet man Informationen über Kunden, um diese Daten in Verbrauchergruppen (Cluster) einzuteilen, für die wiederum spezielle Tarife kreiert werden können? Stichwort Customer-Relationship-Management (CRM): Front-Office-Lösungen (etwa von Siebel, Vantive, Clarify, Update.com) helfen bei Organisation und Verwaltung von Kundenkontakten und Dienstleistungsangeboten. Lohnen sich Millionenausgaben, die große EVU für solche Systeme hinblättern müssen, insbesondere dann, wenn man bereits das dafür konzipierte SAP-Tool "Customer Interaction Center" (CIC) angeschafft hat? Es hängt wie immer von vielen Faktoren ab, so von den Funktionen, die gefragt sind (CRM-Software nur fürs Beschwerde-Management lohnt sich nicht) oder von der Kosten-Nutzen-Relation. Auf jeden Fall wächst die Komplexität des Software-Gesamtsystems, denn selbstverständlich muss dieses Tool integriert werden.

Thema E-Commerce: Was leistet das Internet zur Kundenbindung oder im Bereich der Materialbeschaffung? Noch ist das Internet ein Kommunikationskanal, der nur von einem Bruchteil der Kunden genutzt wird. Außerdem steht die Entwicklung noch ganz am Anfang. "Viele Lösungen sind heute ein Fake", so KPMG-Mann Wendt. Oft würden die bei den EVU online eingehenden Informationen (etwa Adressdatenänderungen und Zählerstandsmeldungen) vom Bildschirm abgelesen und per Hand ins hauseigene System eingetippt. Für solche Aufgaben hat KPMG einen Prototypen entwickelt, der die Daten automatisch und ohne Medienbruch in das SAP-System übernimmt.

Schließlich eine der wichtigsten Fragen: Wie viel Geld darf und soll für neue Softwarelösungen ausgegeben werden? Wendt warnt vor Aktionismus. Es habe keinen Sinn, Unsummen in neue Systeme zu stecken, die möglicherweise noch nicht ausgereift sind und deren betriebswirtschaftlicher Nutzen nicht nachgewiesen ist. "Zunächst muss ich wissen, wie meine strategische Positionierung aussehen soll, dann, welche Geschäftsprozesse unterstützt werden müssen."

Doch muss sich jedes EVU überhaupt eine umfangreiche eigene IT-Architektur leisten? Nein, meint Jürgen Lange. Seine Philosophie heißt Application-Service-Providing (ASP): Unternehmen lassen sich die benötigte Software nicht mehr im Unternehmen installieren, sondern sie greifen online auf eine Server-Farm zurück, in der IT-Aufgaben zentral für mehrere Unternehmen erledigt werden. So könne man mit der neuen Software schneller produktiv werden, als wenn die Tools jeweils separat vor Ort installiert würden. Außerdem fahre der Anwender damit billiger, könne immer mit der neuesten Technologie arbeiten und müsse sich auch um die Wartung nicht mehr kümmern. Insbesondere für kleinere Stadtwerke sei das eine intelligente und attraktive Lösung. Die EVU blieben rechtlich eigenständig und profitierten von Synergieeffekten etwa des gemeinsamen Customer- Relations- und Energiedaten-Managements. "Viele Unternehmen denken im Moment über so etwas nach."

*Gerhard Großjohann ist freier Journalist in Steinhagen.

Abb: Vor allem im mittleren und unteren Bereich des liberalisierten Strommarkts spielt die Musik für IT-Anbieter: Energievertrieb, Netzbetrieb und Verbrauchsabrechnung. Quelle: Deutsche Eccplus AG