Ist das Kartellrecht ungerecht?

25.08.2008
Amerikanische Gesetzgebung und deutsche Gründlichkeit haben die Arbeit der Kartellwächter in Brüssel beeinflusst. Dadurch schießen sie mit ihren Urteilen weit über das Ziel hinaus.

Man mag Microsoft, Bill Gates oder Steve Ballmer mögen oder auch nicht: Die EU-Wettbewerbskommission hat mit ihrem Vorgehen gegen Microsoft völlig überzogen reagiert. Ähnliches gilt für andere Verfahren, etwa gegen Unternehmen aus Deutschland, darunter die Düsseldorfer Thyssen-Krupp-Elevator AG, die SGL-Carbon AG aus Wiesbaden oder die Prym AG aus Stolberg bei Aachen. In allen Fällen mussten wegen wettbewerbsrechtlicher Verstöße Bußgelder bezahlt werden, die an die Substanz der jeweiligen Firmen gingen. Das legt den Verdacht nahe, dass im Wettbewerbsrecht der EU eine Art Amerikanisierung stattgefunden hat, die niemand vorhergesehen hat und die ursprünglich auch niemand wollte.

Die Strafen sanktionieren Verstöße gegen das Verbot von Preisabsprachen und das Verbot des Missbrauchs von Marktmacht. Ihren Ursprung haben die einschlägigen Kartellgesetze im Sherman Antitrust Act von 1890, mit dem der Senator John Sherman den Raubrittern des Frühkapitalismus, den Rockefellers und Vanderbilts, Einhalt gebieten wollte. Das Ganze geschah in einem Land, das außer einer Verfassung aus tausend Worten wenig Regelwerk zu bieten hatte. Man könnte deshalb den Sherman Act als eine Art zeitlich begrenztes Maßnahmegesetz betrachten.

Amerikanisches Recht passt nicht zu Europa

So ist es aber nicht gekommen. Der Sherman Act überlebte das 20. Jahrhundert, und zu Zeiten Ludwig Erhards fanden die beiden Verbote sowohl Eingang in ein neues Wettbewerbsgesetz (GWB) als auch fast gleichzeitig und in ähnlichen Worten in den EU-Vertrag. Seit den 50er Jahren wirkt hier ein Regelwerk, das bei genauerer Betrachtung mit unserem Wirtschaftssystem und unserer Wirtschaftskultur nicht kompatibel ist. In Deutschland (auch im übrigen Europa) gab und gibt es ausgereifte, über Jahrhunderte entwickelte Regeln von Zünften, Innungen, Gilden, Kammern und Verbänden, die ein Extremverhalten wie das der amerikanischen Frühkapitalisten gar nicht erlaubten beziehungsweise erlauben, auch wenn mit der Einführung der Gewerbefreiheit im 19. Jahrhundert mancher den Bogen überspannte. Aber die vorhandenen Institutionen (plus Gewerbeaufsicht und Gewerkschaften) machen einen Sherman Act nicht nur überflüssig, sie widersprechen ihm sogar.

Kammern und Verbände regeln seit langem den Wettbewerb

Die freiwillige und zwangsweise Mitgliedschaft in den genannten Vereinigungen hatte schon immer und von Anfang an die Aufgabe, Wettbewerbsbedingungen zu setzen und zu regulieren. Diese Einrichtungen koordinierten stets auch Konditionen und Preise. Mal hatten sie den Zweck, die Mitglieder zu schützen, mal sollten sie die Konditionen zum Wohl der Allgemeinheit vorgeben. Diese Faktoren haben zwar im Zuge der Liberalisierung stark an Einfluss verloren, aber fest steht: Unser Wirtschaftssystem war und ist schon lange in vielerlei Hinsicht gegen Ausbeutung und Missbrauch gewappnet.

Amerikaner kopieren den EU-Perfektionismus

Was von Ludwig Erhard und seinen Getreuen, insbesondere Franz Böhm, befürwortet und implementiert wurde und heute derartige Auswüchse zeigt, war und ist deshalb eine Art Fremdkörper in unserem Wirtschaftsleben. Das schlechte Gefühl, das wir dabei haben, ist Ausdruck eines Zusammenpralls der Kulturen. Dass ausgerechnet Microsoft betroffen ist, erschwert die Bereinigung der Situation: Bei dieser US-amerikanischen Firma ist das Denken in den Kategorien des Sherman Act "von Geburt an" gelernt. Argumente gegen den Sherman Act an sich haben firmenintern keinen Raum. Man wehrt sich gegen Maßnahmen, nicht gegen das Gesetz. Das weitere Pech von Microsoft ist, dass der Sherman Act in Brüssel mit deutscher Gründlichkeit zusammengetroffen ist. Die Brüsseler geben zu, sich in den letzten Jahren in ihrer Arbeit am deutschen Bundeskartellamt orientiert zu haben.

Aber selbst das ist noch nicht alles. Die amerikanischen Antitrust-Behörden beobachten den EU-Perfektionismus mit großem Interesse und kopieren ihrerseits die harte Vorgehensweise der EU-Kommission. Microsoft wird deshalb in den letzten Jahren in den USA schärfer unter die Lupe genommen als je zuvor.

Bußgelder sind Teil von Behördenbudgets

Ein Kernproblem besteht darin, dass Microsoft an die EU-Kommission mittlerweile in drei unterschiedlichen Teilbeträgen Bußgelder für angebliches Fehlverhalten in Höhe von insgesamt zirka 1,7 Milliarden (!) Euro gezahlt hat. Bei der Festsetzung von Bußen in dieser Größenordnung kann es sich aber nicht mehr um kleinere Verfehlungen handeln, das heißt, bei diesen Höhen konvertiert die Buße zur Strafe, zur recht markanten Strafe, die nur für Vergehen oder Verbrechen gerechtfertigt wäre (In Deutschland beträgt die gegen Firmen verhängbare Höchstbuße für Ordnungswidrigkeiten eine Million Euro). "Strafen" können jedoch nur Strafrichter in regulären Strafverfahren, nicht Behörden. Im Grunde müsste erst ein neues "Firmenstrafrecht" erfunden werden. Das verlangen die im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung. Die Bußen des Wettbewerbsrechts werden jedoch in verwaltungsgerichtlichen Verfahren (in Deutschland nur formal beim OLG angesiedelt) verhandelt, die keine "Waffengleichheit" kennen, wie sie das Strafverfahrensrecht vorschreibt. In derlei Verfahren wird lediglich der Sachverhalt und das Behördenhandeln auf Rechtmäßigkeit hin überprüft. Für Millionenstrafen der genannten Größenordnung reicht eine verwaltungsgerichtliche Verhandlung nicht aus.

Die Verletzung der grundgesetzlichen Prinzipien hat allzu menschliche Folgen: Die Behörden kassieren selbst die Bußen - die eigentlich Strafen sind -, und die Bearbeiter freuen sich. Die Mitarbeiter beglückwünschen sich gegenseitig ob der finanziellen Erfolge, die sie für das Kartellamt oder die EU-Kommission erzielt haben. Das geht so weit, dass Brüssel mit Argusaugen nach Bonn zum Bundeskartellamt schielt und umgekehrt. Jeder passt auf, dass der eine ja nicht dem anderen die lukrativen Fälle wegnimmt. Die Bußen sind schon seit langem Teil des Brüsseler Etats - Einnahmen, auf die die dortigen Behörden sich verlassen können.

In Deutschland: Strafgeld geht an wohltätige Vereine

Von deutschen Gerichten kennen wir eine andere Praxis: Richterliche Geldstrafen kommen wohltätigen Zwecken und Organisationen zu, werden von den Richtern in entsprechende Schatullen verteilt. Der Staat kassiert das Geld nicht selbst, er fördert Wohltätigkeit zu Lasten der Täter. Unser Staat klopft seinen Richtern nicht auf die Schultern, weil sie seine Einnahmen erhöht haben.

Tatsächlich gibt es keinen Grund, dieselbe Praxis nicht auch in den Kartellverfahren einzuführen. Das böse Spiel mit den exorbitant hohen Bußen hätte schnell ein Ende, wenn in Berlin das Kartellgesetz in diesem Sinne geändert und die Berliner Regierung es schaffen würde, auch die Brüsseler Einnahmen aus den Kartellverfahren nicht der Behörde, sondern Dritten zukommen zu lassen.

Wer sich wehrt, wird noch härter bestraft

Man kann die überzogenen Bußen also kippen, indem man das Bundesverfassungsgericht anruft. Derlei Widerstand ist derzeit jedoch nicht opportun. Die Macht der Behörden gebietet das Wohlverhalten ihnen gegenüber, weil jeder, der sich gegen Maßnahmen der Kartellbehörden auch nur ansatzweise wehrt, Gefahr läuft, noch härter als zuvor bestraft zu werden - was ebenfalls rechtsstaatlich bedenklich ist. Das könnte sich ändern, wenn die Bußen kleiner werden oder die Stimmung dreht. Noch also ist Microsofts Kampf nicht verloren. (hk)