IPv6: Der fast vergessene Jubilar

02.12.2005
Das neue Internet Protocol erobert über die asiatische Hintertür das globale Netz.

Vor zehn Jahren wurde IP Version 6 (IPv6) als Nachfolger des Internet Protocol v4 aus der Taufe gehoben. Mit zahlreichen technischen Neuerungen sollte das auch gerne als IP NG (Next Generation) bezeichnete Protokoll den Datenaustausch im globalen Netz verbessern. Überzeugt von den technischen Vorzügen der sechsten Protokollgeneration, prophezeiten gar einige Analysten für das Jahr 2006 den großen IPv6-Rollout.

Hier lesen Sie …

• wie IPv6 durch die Hintertür Einzug hält;

• welche Vorteile das neue Protokoll bietet;

• wer es bereits nutzt;

• was heute bei Investitionsentscheidungen zu bedenken ist.

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Doch mittlerweile scheint das einst gefeierte Protokoll, zumindest in der westlichen Welt, vom Radar vieler IT-Manager verschwunden und sein zehnter Geburtstag vergessen zu sein. Kaum ein Anwender berücksichtigt bei seiner Netzplanung den Jubilar. Dabei könnte das Protokoll schneller als von vielen gedacht durch die Hintertür über Asien im globalen Netzverbund Einzug halten.

Die Asiaten haben nämlich mit einem der Schwachpunkte von IPv4 massiv zu kämpfen: Ihnen gehen die verfügbaren IPv4-Adressen aus, während IPv6 einen aus heutiger Sicht fast unendlichen Vorrat offeriert. Zwar bietet IPv4 theoretisch rund vier Milliarden IP-Adressen, doch ein Teil davon ist in der Praxis nicht nutzbar, da er für Sonderaufgaben wie Multicast (= Versand von Daten an eine Gruppe von Empfängern) oder Mehrpunktverbindungen reserviert ist. Erschwerend kommt hinzu, dass den ersten großen, meist amerikanischen Teilnehmern am Internet riesige Adressbereiche - die begehrten Class-A-Netze mit je 16,8 Millionen Adressen - zugeteilt wurden, die sie aber kaum voll ausnutzen. Ingesamt haben die Amerikaner fast 70 Prozent aller IPv4-Adressen für sich reserviert. Den Rest der Class-A-Netze haben die Europäer in Beschlag genommen - mehr als sie brauchen: In der Alten Welt sind noch mehr als 50 Prozent der zugeteilten Adressen frei.

Anders sieht es dagegen für Internet-Späteinsteiger wie Südamerika und vor allem Asien aus. So mancher US-amerikanische Provider besitzt so viele Adressen, wie für ganz Asien zur Verfügung stehen. "Aufgrund dieser Limitierung geht in Asien", so berichtet Uwe Nickl, deutscher Geschäftsführer bei der global agierenden Level 3 Communications, "der Trend dahin, bei Netzneubauten IPv6 einzusetzen." Ein prominentes Beispiel ist etwa NTT Japan. Der Carrier verwendet in seinem Backbone bereits das neue Protokoll. Und für Marc Bruchhäuser, Operations Manager beim virtuellen Netzbetreiber Vanco in Deutschland, könnte China beispielsweise ein Markt sein, der die Einführung von IPv6 vorantreiben wird, denn "alleine bis zu den Olympischen Spielen im Jahr 2008 soll die Zahl der vernetzten Kunden dort auf 800 Millionen steigen".

Neben der Adressfrage, die mittlerweile eher wirtschaftspolitische Dimensionen annimmt, wurden in den 90er Jahren immer wieder technische Gründe dafür angeführt, warum ein neues IP erforderlich ist. So sollte der Newcomer vor allem mit Features wie Quality of Services (QoS), Multicast oder Mobile IPv6 - also eine gemeinsame IP-Adresse für das Heimnetz und mobile Endgeräte - oder IP-Headern mit einer festen Länge die Anwender zur Migration bewegen. Letztere Funktion sollte etwa die Router von der Aufgabe befreien, überlange Pakete selbst zu fragmentieren, und so zu mehr Performance in den IP-Netzen beitragen.

Für alle diese Probleme, so Daniel Golding, Senior Analyst beim Beratungsunternehmen Burton Group, gebe es mittlerweile genügend Workarounds wie etwa NAT (Network Adress Translation) oder Mechanismen wie QoS oder IPsec. Sie hätten sich im IT-Alltag bewährt, so dass niemand aus technischen Gründen zum Umstieg auf IPv6 gezwungen sei. "IPv6 ist die falsche Technologie zur falschen Zeit", lautet Goldings vernichtendes Urteil.

Komplett anders schätzt dagegen Silvia Hagen, Gründerin und President des Schweizer Beratungsunternehmens Sunny Connection AG, die Situation ein. Sie sieht bereits heute einen Business Case für IPv6 und glaubt, dass neue Dienste eventuell für IPv4 nicht mehr verfügbar sein werden. Zudem bestehe für die Anwender die Gefahr, dass sie bereits in naher Zukunft Geschäftspartner in Asien über IPv4-Netze nicht mehr erreichen.

Schleichender Vormarsch

Schon die gegensätzlichen Meinungen dieser beiden Berater verdeutlichen das Dilemma für den Anwender: Muss er sich bereits heute mit dem Thema IPv6 auseinander setzen, oder kann er abwarten?

Eine Frage, die niemand dem Anwender mit letzter Sicherheit beantworten kann. "Zurzeit schleicht sich IPv6 langsam in alle Netze, Betriebssysteme und Anwendungen", fasst Bruchhäuser das Meinungsbild der Branche zusammen. So betreiben fast alle Carrier heute Teile ihrer Netze mit IPv6 oder experimentieren damit. Während die Telekom hierzulande mit einem eigenen IPv6-Backbone zwischen den Standorten Darmstadt, Münster und Berlin eine Art Showcase-Projekt realisiert, plant beispielsweise Telia Sonera für 2006 die komplette Umstellung ihres Netzes.

Google setzt auf IPv6

Eine weitere starke Nachfrage nach IPv6-fähigen Netzen sieht Level-3-Manager Nickl aus dem universitären Bereich kommen, "dieser hat fast eine Vorreiterrolle in Sachen IPv6". So gebe es heute fast keine Hochschulausschreibung mehr, in der nicht IPv6 verlangt werde. Zudem pusht die EU-Kommission im Rahmen des Programms "eEurope" den Einsatz von IPv6, denn Brüssel hat Angst, technologisch gegenüber Asien und Amerika ins Hintertreffen zu geraten. Deshalb will man vermeiden, wie beim heutigen Internet mit IPv4 den USA folgen zu müssen und diesen das ganze Wirtschaftspotenzial der neuen Technik zu überlassen.

In den USA sind viele Regierungsbehörden und vor allem das Verteidigungsministerium in Sachen IPv6 aktiv. So will die US-Armee ihre Soldaten als Information Warrior mit IPv6-fähigen "Soldiers Computer" ausstatten. Ein weiteres Beispiel, wie die nächste IP-Generation langsam Einzug hält, ist Google. Der Internet-Dienstleister hat sich bereits IPv6-Adressen reserviert.

Auch wenn es sich bei IPv4 und IPv6 um zwei unabhängige Layer-3-Protokolle handelt, die von sich aus nicht miteinander kommunizieren können, hält es Vanco-Manager Bruchhäuser für sehr wahrscheinlich dass IPv4 und IPv6 mehrere Jahre nebeneinander existieren. Über diverse Transitionsmechanismen werden die beiden Protokolle dann miteinander kommunizieren, so dass es für Bruchhäuser nur noch eine Frage der Zeit ist, bis IPv4 und IPv6 standardmäßig im Dual-Stack-Betrieb benutzt werden. Betriebssysteme wie Windows XP SP2 haben bereits entsprechende Dual-Stacks. Der Gedanke an einen Dual-Stack-Betrieb erfreut allerdings die Carrier weniger, denn sie müssen im Prinzip gleichzeitig "zwei" Netze aufbauen und betreuen, was natürlich ins Geld geht. Diese Kosten, wagt Level-3-Geschäftsführer Nickl den Blick in die Kristallkugel, "werden dann nach einer Übergangsfrist an den Anwender weitergegeben und IPv4-Altkunden für den erhöhten Aufwand zur Kasse gebeten".

Wenn man etwa die eigenen Supportkosten bedenkt, rechnet sich bei größeren Corporate Networks eine IPv6-Migration schon heute, denn die neue Version vereinfacht die Netzkonfiguration. So kann ein IPv6-fähiges Interface aus seiner Layer-2-MAC-Adresse eine "linklokale Adresse" errechnen, mit der es sich auf die Suche nach den Routern in seinem Netzsegment macht. Der Router kann dann dem Gerät eine Unicast-Adresse aus seinem Adressbereich zuweisen. Der ganze Vorgang verläuft vollautomatisch, und im Gegensatz zu IPv4 ist kein separater DHCP-Server erforderlich.

Beim Kauf berücksichtigen

Angesichts der vielen Vorteile und hinsichtlich der Investitionssicherheit rät Nickl dazu, heute schon "IPv6-ready" Equipment zu kaufen, "wobei ich persönlich einen Aufpreis von zehn bis 15 Prozent akzeptieren würde, um zukunftssicher zu investieren". Egal, ob Router, IP-Telefone oder VoIP-TK-Anlagen, fast alle professionellen Netzausrüster haben entsprechende Produkte im Portfolio. Den Ratschlag sollten vor allem global agierende Unternehmen mit Partnern in Asien oder Anwender berücksichtigen, die ihr Netzequipment länger einsetzen. "Wer beispielsweise seine VoIP-Anlage fünf bis sechs Jahre verwenden will, muss damit rechnen, dass das Thema am Ende des Lebenszyklus noch relevant wird", so Nickl.

Investiert ein Anwender dagegen nach drei bis vier Jahren aufgrund der Abschreibungszyklen wieder in neues Netzequipment, so ist IPv6 heute für Unternehmen, die netztechnisch hauptsächlich im europäischen Raum agieren, kein Muss.