US-Bundesgericht: Redefreiheit geht vor

Internet-Zensur ist verfassungswidrig

21.06.1996

Per einstweiliger Anordnung ist das erst im Februar dieses Jahres durch die Unterschrift von Präsident Bill Clinton wirksam gewordene Gesetz "Communications Decency Act" (CDA) aufgehoben. Der CDA hatte es mit Androhung einer Geldstrafe von bis zu 250 000 Dollar Privatpersonen und Firmen untersagt, "unanständiges" und "offenkundig anstößiges" Material in Netzen zu verbreiten. Das Ziel war vor allen Dingen der Schutz Minderjähriger vor Pornografie.

Gegen das Gesetz, nicht aber gegen dessen Intention, hatte die American Civil Liberties Union (ACLU) vor einem Bundesgericht in Philadelphia Klage eingereicht. Dabei vertrat die ACLU zugleich einige Dutzend Unternehmen, darunter America Online, Compuserve, Prodigy, Apple und Microsoft sowie verschiedene Buch- und Zeitschriftenverlage.

In einem einstimmigen Urteil schlossen sich drei Bundesrichter der ACLU-Argumentation an. Sie befanden, es gebe für Online-Dienste und Zugangs-Provider keine effektive Möglichkeit, das Alter der einzelnen Anwender zu erkennen. Der bedeutendste Aspekt des Urteils aber ist seine Erklärung, das Gesetz verstoße gegen das Grundrecht auf Redefreiheit.

"Das Internet kann geradezu als eine permanente, weltweite Konversation angesehen werden", zitiert die "Financial Times" Stewart Dalzell, einen der Richter in diesem Verfahren. "Die Regierung darf diese Unterhaltung nicht mittels des CDA unterbrechen. Als die teilnehmerstärkste Form der Massenkommunikation, die jemals entwickelt wurde, verdient das Internet den umfassendsten Schutz vor Regierungseingriffen."

Revision vor dem Obersten Gerichtshof?

Loren Fena, Vorsitzende der mit der ACLU klagenden Bürgerrechtsbewegung Electronic Frontier Foundation, erkennt eine grundsätzliche Bedeutung des Richterspruchs: "Wir sind erfreut, daß das Gericht darüber hinausgegangen ist, das Gesetz abzuweisen, und positiv festgehalten hat, welche verfassungsmäßigen Prinzipien alle Versuche vereiteln, das demokratischste Massenmedium, das die Welt je gesehen hat, zu regulieren." Schon wenige Stunden nach Bekanntgabe des Urteils prangte auf Tausenden Web-Seiten der Schriftzug "Freedom of Speach".

Bis Redaktionsschluß gab es keine Stellungnahme seitens des Weißen Hauses oder von einflußreichen Kreisen aus dem US-Senat oder - Repräsentantenhaus, wie die Legislative nun verfahren will. Entweder muß ein neues Gesetz her, oder das US-Justizministerium stellt innerhalb von 20 Tagen beim Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten als letzter Instanz einen Revisionsantrag.

Einen Tag vor dem Urteil, am 11. Juni, hatte der Ministerrat der EU entschieden, daß es in Europa keine inhaltlichen Einschränkungen für das Internet oder andere Netze geben werde. Er wies damit im Europa-Parlament eingebrachte Zusätze zu einer seit sieben Jahren bestehenden Direktive des Parlaments zurück. Statt dessen folgte der Ministerrat einer Empfehlung der Europäischen Kommission, den Geltungsbereich dieser Vorgabe auf TV-Sendungen zu beschränken.

Die Direktive begrenzt den Inhalt und die Dauer von Werbeblöcken im Fernsehen und verlangt, daß die Mehrheit der Sendungen aus europäischen Produktionen stammen muß. Zugleich brauchen TV-Sender nur noch die Sendelizenz eines Landes, um Beiträge in die geplanten digitalen Fernsehnetze aller 15 EU-Mitgliedsstaaten einzuspeisen.