Im MIT-Labor funktioniert der Mensch bereits als Netzwerk

Internet-Makler drohen den Handel zu verdrängen

05.07.1996

"Abends um halb sieben gehört die Mami mir" - landab, landauf war dieser Schlachtruf der Gewerkschaften in den letzten Wochen während der Diskussion um neue Ladenöffnungszeiten zu hören. Ein Slogan, der für die Arbeitnehmervertreter möglicherweise zum Bumerang wird: Sollte die rasante Entwicklung in Sachen Online-Dienste und Multimedia weiter anhalten, könnte Mutter nämlich bald ganztags ihren Kindern zur Verfügung stehen.

Immer mehr Unternehmen setzen auf Online-Dienste als neue Verkaufsformen, die die Möglichkeit bieten, rund um die Uhr für die Kunden erreichbar zu sein. Ein Konzern, der konsequent in Richtung Cybermall marschiert, ist die Karstadt AG. Zwar dienen die bislang in den Filialen installierten Multimedia-Terminals - neudeutsch Points of sales - bislang noch der Kundeninformation, doch die nächsten Schritte werden bereits vorbereitet.

Nachdem der Konzern zwei Jahre lang mit dem "Music Master", einem multimedialen Informations- und Bestellterminal, Erfahrungen gesammelt hat, ist in den nächsten Wochen die zweite Ausbaustufe dieser Kiosksysteme geplant. Über die Prototypen, die der Handelsriese in Stuttgart und Nürnberg aufstellt, können sich reiselustige Verbraucher über Last-Minute-Reisen informieren. In der Anfangsphase sind vorerst jedoch nur Freiplatzabfragen möglich. Ab Herbst sollen die Systeme, die online mit dem Reservierungssystem der Deutschen Lufthansa und Start verbunden sind, das elektronische Buchen und Bezahlen von Reisen erlauben.

Ab diesem Punkt ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, die Systeme, die heute an die 2-Mbit/s-Leitungen des Konzerns angeschlossen sind, auf Internet- beziehungsweise Online-Kurs zu trimmen. "Für uns ist es letztlich unerheblich, ob es ein Kiosk oder ein anderes Trägersystem ist", erläutert Ragnar Nilsson, bei Karstadt Direktor der Informationswirtschaft, die Strategie. Dieser Prämisse entsprechend hat der Konzern die Software der Kiosksysteme so ausgelegt, daß sie auch für den Online-Einsatz beim Home-User geeignet ist.

Endziel ist schließlich der Aufbau einer Cybermall, die virtuell die realen Kaufhäuser widerspiegelt und den Kunden zu Hause am PC oder Fernseher zum Einkaufen einlädt. Einer der Gründe, warum der Konzern sein Online-Engagement zielstrebig ausbaut, ist die Befürchtung, daß moderne Makler im Internet oder anderen Online-Diensten langfristig den traditionellen Handel aushebeln und eine direkte Verkaufsbeziehung zwischen Kunden und Produzenten aufbauen könnten.

Wie real diese Gefahr ist, zeigt das Beispiel CUC International Inc. Das US-Unternehmen, das derzeit rund 38 Millionen Mitglieder hat, offeriert im Internet (Adresse: www.cuc.com) rund 250000 Produkte, deren Verkaufspreise zehn bis 50 Prozent unter Liste liegen. Der Gefahr, von den Cyber-Maklern überholt zu werden, wollen die Essener hierzulande mit ihren eigenen Angeboten zuvorkommem.

Doch nicht nur die Vorstellung von einem rund um die Uhr geöffneten virtuellen Kaufhaus reizt die Karstadt AG am Online-Geschäft. Vielmehr erhofft sich Nilsson auch eine engere Kundenbindung. "Online sagen uns die Kunden nämlich, wer sie sind, und wir können dann darauf eingehen", so der Direktor. Derzeit ist ein solches Data-Mining, bei dem beispielsweise der Käufer eines Golfschlägers hinterher zielgruppengerecht die passende CD-ROM mit Reiseangeboten bekommt, noch Zukunftsmusik.

Als drittes Ziel verbindet der Konzern mit den Online-Aktivitäten den Versuch, die Konsumenten enger an das Unternehmen zu binden. Für Nilsson ist die Kundenbeziehung im Zeitalter des globalen elektronischen Handels ein wettbewerbsentscheidender Faktor, da der Konkurrent nur noch einen Mausklick entfernt ist. Im Online-Bereich wird es dem Karstadt-Direktor zufolge deshalb nicht reichen, "immer buntere Bilder zu transportieren", vielmehr müsse mit Lockmitteln auf der eigenen Internet-Site um den Anwender geworben werden.

Unternehmen wie die Karstadt AG scheinen die These von Nicholas Negroponte, Gründer und Direktor des Medialab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), zu untermauern, daß die Europäer technologisch in Sachen Internet einen Vergleich mit den USA nicht scheuen müssen. Vernichtend ist dagegen das Urteil des Internet-Gurus zur Aufgeschlossenheit europäischer Anwender gegenüber neuen Verfahren: Hier hinke Europa den USA fünf Jahre hinterher. Ebensowenig ließ Negroponte die Führungsschicht in den Unternehmen ungeschoren davonkommen. Die heutige Generation von Managern bezeichnet der MIT-Professor als die digitalen Obdachlosen des Cyberspace. Aufgrund ihrer Berührungsängste sei es nicht weiter verwunderlich, daß in manchen Unternehmen neue Technologien nur zögerlich Einzug halten, wie beispielsweise E-Mail in der Alten Welt in weniger als fünf Prozent der Unternehmen genutzt wird. Als Gegenmittel empfahl der Internet-Spezialist, wie bei einigen US-Unternehmen üblich den Mitarbeitern beim Upgrade der PCs die alten Rechner zu schenken, so daß sie zu Hause streßfrei üben können.

Wenig Probleme mit neuen Ansätzen haben Negropontes Mitarbeiter am MIT. Ungeachtet aller Bandbreitenprobleme im Internet arbeitet man bereits an der nächsten technologischen Ausbaustufe des globalen Netzes: Unter dem Arbeitstitel "Things that think" entwickeln die Forscher Gegenstände, die künftig via Internet untereinander kommunizieren sollen. Dazu gehören beispielsweise intelligente Tische, die sich automatisch auf die Höhe ihres Benutzers einstellen, oder wiederbeschreibbares elektronisches Papier. Am skurrilsten klingt die Idee, den Menschen künftig als Personal Area Network mit dem Internet zu verknüpfen und im körpereigenen Netz Informationen zu speichern. Diese tauscht der virtuelle Mensch in den Szenarien der Forscher dann per Handschlag mit den Mitmenschen aus.

Hierzulande fungiert das Media Center in Friedrichshafen, das am 1. Juli seinen operativen Betrieb aufnahm, als Partner des MIT-Medialab. Beide Einrichtungen tauschen regelmäßig Forscher aus.