Internet-Company macht erstmals Gewinn Microsoft ueberlaesst Netscape das Web-Geschaeft nicht kampflos

03.11.1995

CAMBRIDGE (CW) - Im Senkrechtstarter Netscape Communications Corp. sieht das Marktforschungsinstitut Forrester Research keineswegs den Nachfolger von Microsoft. Vielmehr werde das Unternehmen durch Bill Gates' Softwareschmiede kraeftig unter Druck geraten.

Trotz des erfolgreichen Boersengangs koenne Netscape innerhalb der naechsten 24 Monate wieder vom Markt verschwinden, falls der Fuehrungsmannschaft um Jim Clark auch nur minimale Fehler unterliefen, warnen die Analysten vor einer zu euphorischen Einschaetzung des Softwareherstellers. Durch Kooperationen mit Adobe, Sun, Novell, Silicon Graphics, Digital Equipment, AT&T, Deutscher Telekom und MCI sowie einen Marktanteil von 70 Prozent bei World-Wide-Web-Browsern sei laut Forrester der Eindruck entstanden, Netscape habe den gesamten Web-Markt bereits okkupiert. Der Erfolg wurde jedoch durch die kostenlose Abgabe der Software in einen unreifen Markt erzielt, analysieren die Marktforscher. Manche Branchenbeobachter hatten angesichts der Popularitaet Netscapes vermutet, das Unternehmen werde zum "neuen" Microsoft. "Doch was ist, wenn Bill Gates selbst in diesen Markt will?" fragte ein amerikanisches Wirtschaftsblatt anlaesslich der Neuemission der Netscape-Aktien einen Analysten. Diese Frage ist heute aktueller denn je: Bill Gates wird Netscape das WWW-Geschaeft nicht kampflos ueberlassen.

Greift Microsofts Strategie der totalen Integration der Web- Kommunikation in die eigene Produktpalette, koenne das Netscape innerhalb von zwoelf bis 18 Monaten "an die Wand druecken", so die Analyse der Auguren. Eine Moeglichkeit waere, dass Microsoft die Internet-Software "Explorer", die den Web-Zugang ohne MSN- Mitgliedschaft erlaube, kostenlos mit Windows 96 ausliefere. Auch bei kuenftigen Word-Versionen sei die Integration eines Web- Browsers vorstellbar. Angriffsflaeche sieht Forrester indes nicht nur auf der Browser-Seite, sondern auch bei der Web-Server- Software. Werde Microsofts "SQL Server" mit entsprechenden Web- Server-Funktionen ausgestattet, verringere dies die Margen, die Netscape mit Web-Servern erzielen koennte, drastisch, spekulieren die Marktforscher.

Um gegen die Bedrohung gewappnet zu sein, muesse Netscape die Evaluierungskopien seiner Browser-Software kurzfristig in Umsatz verwandeln. Als Wettbewerbsvorteil erachten die Analysten die Innovationskraft des Unternehmens, das die von Sun entwickelte Sprache "Java" sowie die Personal Digital IDs von Verisign in seine Software integriert hat. Die juengste Version 2.0 des "Navigators" bezeichnet Forrester Research als beeindruckend. Auch die Uebernahme von Collabra sei ein cleverer Schachzug gewesen. Kurzfristig koenne Netscape allerdings aus den neuen Technologien kein Kapital schlagen.

Bisher sah die finanzielle Situation des Unternehmens, das mit mehr als drei Milliarden Dollar an der Boerse bewertet ist, nicht gerade rosig aus. Immerhin erzielte Netscape im dritten Quartal seinen ersten Gewinn und sorgte damit fuer Ueberraschung bei den Boersenanalysten, die mit fuenf Cent Verlust pro Aktie gerechnet hatten. Dem Unternehmen aus San Mateo, Kalifornien, blieb bei einem Umsatz von 20,8 Millionen Dollar (Vorjahr: 11,9 Millionen Dollar) ein Nettogewinn von 1,4 Millionen Dollar beziehungsweise vier Cent je Anteilsschein uebrig. 60 Prozent der Einnahmen kamen laut Netscape ueber den Verkauf des Web-Browsers herein.