Multimedia/Rapid Prototyping: Anwenderwuensche praegen die Entwicklung

Interaktives Fernsehen braucht einfache Benutzeroberflaeche

08.03.1996

Umfangreiche Datenmengen werden digitalisiert und mit neuen Methoden komprimiert. Der Information-Highway waechst. Die interaktive Nutzung von TV-Diensten mittels spezieller Kanaele zur Rueckkopplung und zum Informationsaustausch zwischen Konsument und Sender wird moeglich. Set-top-Boxen erlauben die Auswahl und Steuerung von Daten in beiden Richtungen: Die Sendeanstalt bestimmt das Angebot; die Benutzer entscheiden, welche Serviceleistungen sie in Anspruch nehmen (zum Beispiel Teleshopping, Pay-Radio, Video on demand).

Auswahl von Programmen mit einfachen Mitteln

Interaktive Dienste koennen sich nur durchsetzen, wenn sie einfach zu benutzen sind. Bisher wurde diese Anforderung bei Pilotprojekten oft nicht ausreichend beruecksichtigt. Insbesondere koennen grafische Oberflaechen, wie man sie von Computern kennt, nicht einfach uebertragen werden. TV-Bedienkonzepte muessen folgendes beruecksichtigen. Die Benutzer haben teilweise keinerlei Erfahrung mit Computern und interaktiven Systemen. Sie wollen den Komfort, den sie vom Fernsehen gewohnt sind: eine Fernbedienung, die sie bequem vom Sessel aus bedienen koennen.

Die Anzahl der Fernsehkanaele wird in absehbarer Zeit (drei bis fuenf Jahre) von heute 30 auf maximal 500 anwachsen, das heisst, es muss mit einfachen Mitteln eine Auswahl von Programmen und Diensten aus einer grossen Anzahl von Moeglichkeiten zu treffen sein. Der Fernseher wird ueberwiegend zur Unterhaltung genutzt und sollte nicht an Arbeit erinnern: Aufwendiges Einlernen wird nicht akzeptiert. Klassische Elemente der Orientierung und Navigation muessen ueberdacht und durch neue Konzepte ergaenzt oder ersetzt werden.

Design und Realisierung

Fuer Design und Realisierung interaktiver Systeme eignet sich ein iterativer Entwicklungsansatz. Sein Vorteil besteht darin, dass das System bezueglich Funktionalitaet, Aesthetik sowie Informations- und Dialoggestaltung in mehreren Entwicklungszyklen (Anforderungsdefinition, Design, Prototyping, Evaluation) verbessert werden kann.

Zunaechst muessen die Anforderungen genau definiert werden. Zu klaeren sind das Profil der Zielgruppe, Umfang und Detailgrad der darzustellenden Information sowie die Festlegung der wesentlichen Ziele, die durch die Anwendung erreicht werden sollen.

Beim Design kommt es vor allem auf Benutzbarkeit (Usability) und Gesichtspunkte der Software-Ergonomie an. Benutzbarkeit bedeutet, dass der Benutzer beim Loesen von Aufgaben unterstuetzt wird. Dabei ist eine uebersichtliche Navigation wichtig. Der Benutzer sollte sich immer ueber vier Punkte im klaren sein: Wo bin ich? Warum bin ich hier? Wo komme ich her? Wohin kann ich gehen? Dazu kann die intuitive Verstaendlichkeit von Bedienstrukturen und Informationsdarstellungen beitragen.

Methoden des Rapid Prototyping

Das Rapid Prototyping von Systemen ermoeglicht eine fruehzeitige Pruefung der Produkte. Die fruehzeitige prototypische Realisierung eines Systems ist fuer eine effiziente und effektive Entwicklung unumgaenglich, um Fehler rechtzeitig zu beheben.

Damit das Produkt am Ende akzeptiert wird, bietet es sich an, nach jeder Prototypenversion eine Evaluation vorzunehmen, moeglichst unter Einbezug von Endbenutzern (Bullinger, 1993). Zum Test der Dialogentwuerfe etwa reichen bereits einfache Computersimulationen der Benutzungsoberflaeche aus.

Nach Studien von Nielsen (1994) koennen bereits mit drei bis vier Testpersonen bis zu 75 Prozent der moeglichen Bedienschwierigkeiten ermittelt werden. Methodisch bieten sich die Beobachtung der zum lauten Denken ermutigten Testpersonen sowie die Videoaufzeichnung ihrer Bemuehungen an. Ferner sollte gemessen werden, wie lange die Probanden brauchen, um bestimmte Musteraufgaben zu loesen. Zum Abschluss koennen die Benutzer Bedienbarkeit und Verstaendlichkeit und Akzeptanz des Prototypen bewerten. Dies geschieht mit einem standardisierten Fragebogen zur Software-ergonomischen Qualitaet und durch ein strukturiertes Interview. Ferner werden die Benutzer gebeten, Ideen zur Verbesserung des Prototypen zu aeussern.

Ein praktisches Umsetzungsbeispiel

Fuer die private deutsche Pay-TV-Sendeanstalt Premiere war im Rahmen des digitalen Fernsehens ein Konzept zur On-Screen- Navigation bei der Programmauswahl zu entwickeln. Als Ausgangsbasis lagen vom Auftraggeber Konzepte und Designvorschlaege vor, deren Benutzbarkeit bewertet und verbessert werden sollte. Entsprechend der iterativen Vorgehensweise am Fraunhofer-Institut fuer Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart sollte das End- produkt immer wieder prototypisch vorweggenommen und Benutzertests unterworfen werden. Die Gestaltung uebernahm ein interdisziplinaeres Team aus Psychologen, Informatikern und De- signern. Das Design sollte eingefuehrte Premiere-Symbole verwenden und dadurch einen werbewirksamen Wiedererkennungswert haben. Im einzelnen kam folgendes dabei heraus.

Der "Pilot" (siehe obige Abbildung) ist eine Bildschirmeinblendung, die sich ueber das laufende Fernsehbild legt und textlich ueber Sendungen informiert. Am oberen Bildschirmrand wird sowohl eine Senderkennung des unterlegten Fernsehprogramms als auch die aktuelle Uhrzeit eingeblendet. Diese Anzeigen aendern sich bei der Informationssuche nicht.

Der Benutzer kann mit den Richtungstasten (Windrose) seiner Fernbedienung die Textinformation der Nachbarkanaele im Pilot anzeigen, ohne den auf dem Bildschirm angezeigten Fernsehkanal zu wechseln. Durch die Textinformation ist er in der Lage, sich sowohl ueber das parallele Angebot anderer Sender zu informieren (horizontale Links-rechts-Tasten), als auch ueber spaetere Sendungen auf diesen Sendern (vertikale Tasten). Interessiert den Benutzer eine Sendung, so drueckt er die Bestaetigungstaste "OK" auf der Fernbedienung und wird in das gewuenschte Programm geschaltet.

Das Basismenue ("Guide"): Diese Oberflaeche erlaubt dem Zuschauer, zwischen acht Alternativen zu waehlen. Das Grundlayout findet mit anderen Inhalten an verschiedenen Positionen des Systems Verwendung (Hauptmenue Guide, Genreauswahl, Aboauswahl etc.). Die Kopfzeile des Bildschirms enthaelt den Menuetitel, so dass der Benutzer ueber seinen derzeitigen Stand im System Bescheid wissen kann. Es folgt der Informationsblock, der in einen Bildteil auf der linken und in einen Textteil auf der rechten Seite gegliedert ist. Der Textteil wird bedarfsweise an seiner rechten Seite mit einem Pfeil ausgestattet. Der Text kann dann mit Hilfe der Richtungstasten geblaettert werden. Der untere Achterblock enthaelt Auswahlfelder, mit denen der Benutzer in unterschiedliche Bereiche verzweigen kann. Bewegt sich der Zuschauer mit seinen Richtungstasten auf den unteren Auswahlfeldern, so wird im oberen Informationsteil das entsprechende Bild mit Textinformation gezeigt.

In vier Richtungen kann Text geblaettert werden

Die Programmuebersicht: Der Uebersichtsbildschirm ist dem Aufbau einer Fernsehzeitschrift nachempfunden und bietet einen Ueberblick ueber die laufenden und die demnaechst kommenden Sendungen. Diese Darstellung zeigt voreingestellt das Programm des betreffenden Tages und auf Wunsch auch fuer jeden beliebigen der folgenden sieben Tage.

Es werden Anfangszeiten, Genres und Titel der Beitraege angezeigt, ausser den Titeln in entsprechenden Gliederungsfarben. Der Text kann in vier Richtungen geblaettert werden. Dazu muessen alle Textfelder so lange mit Tastendruck uebersprungen werden, bis der Rand des Bildausschnitts erreicht ist. Fuer das Blaettern gibt es zwei Ablaeufe: In der Horizontalen koennen Sender eingestellt werden, in der Vertikalen die Zeiten von 6.00 Uhr desselben Tages bis 5.59 Uhr des folgenden Tages.

Die Genre-Auswahl: Der Benutzer kann bestimmte Sendungsgenres vorwaehlen und bekommt dann eine entsprechende Liste.

Von seinem Aufbau her unterscheidet sich diese Genre-Auswahl nicht vom Basismenue. Allerdings verzweigt sie bei der Wahl von umfangreichen Rubriken (zum Beispiel "Kino") in ein Untermenue mit identischem Aufbau und einer weiteren inhaltlichen Gliederung. Sobald der Benutzer ein Feld anwaehlt, das einem anderen Genre angehoert, wechseln Bild und Text in der oberen Bildschirmhaelfte.

Das Serviceangebot: Ueber die klassischen fernsehspezifischen Bereiche hinaus kann der Benutzer auf verschiedene Online-Dienste wie Teleshopping oder Videospiele zugreifen.

Nach zwei Prototyping-Iterationen wurde das beschriebene System positiv bewertet. Die Benutzer lobten die formale und farbliche Gestaltung. Durch die einfache Navigationsstruktur mit dem Programmguide als zentralem Hauptmenue wurden kaum Schwierigkeiten beim Auffinden von Systemkomponenten beobachtet. Der Pilot und die Programmuebersicht werden von den Benutzern als hilfreiche und nuetzliche Systemkomponenten eingestuft und koennen sehr schnell und zuverlaessig bedient werden. Die Informationsdarstellung bezeichneten die Benutzer als sehr uebersichtlich.

Proprietaere Oberflaechen

Die Moeglichkeiten des interaktiven Fernsehens werden zukuenftig immer mehr Menschen zur Verfuegung stehen. Parallel dazu wird die Anzahl der angebotenen Dienste steigen.

Jeder Diensteanbieter gestaltet zur Zeit die Benutzungsoberflaechen seines Angebotes komplett nach proprietaeren Vorstellungen und Prinzipien, so dass die Benutzer durch viele unterschiedlich gestaltete Benutzungsoberflaechen ueberfordert werden.

Diese Entwicklung verringert die Akzeptanz interaktiver Dienste. Es empfiehlt sich daher, einheitliche und ergonomisch fundierte Bedienkonzepte und -elemente zu entwickeln. Am IAO sind im Rahmen des Esprit-6994-Projektes "Face"E (Familiarity Achieved through Common User Interface Elements) bereits Vorarbeiten zur Vereinheitlichung von Benutzungs-Schnittstellen bei elektronischen Heimgeraeten abgeschlossen worden.

Zur Zeit arbeitet das IAO im Rahmen des europaeischen Forschungsprojektes "Musist" (Multimedia User Interfaces for Interactive Services and TV) an der Entwicklung ergonomischer Benutzer-Interfaces und innovativen Konzepten fuer interaktives Fernsehen.

Ferner ist unter Leitung des IAO eine ISO-Normungsgruppe zu Benutzungs-Schnittstellen von multimedialen Systemen ins Leben gerufen worden (ISO 14915).

Literatur:

Bullinger, H.-J.: Benutzergerechte Gestaltung von Software - Eine Herausforderung an den Industriestandort Deutschland. In W. Coy, O. Gorny, I. Kopp & C. Skarpelis (Hrsg.), Menschgerechte Software als Wettbewerbsfaktor. Teubner Verlag, Stuttgart 1993

Hermanns, A.: Multimedia im Marketing, Kongressunterlagen Werbung und Illusion, Frankfurt 1993

Koller, F.: Gestaltung von Multimedia-Systemen. Fachgruppe Ergonomie und Informatik, November 1992

Nielsen, J.: Estimating the number of subjects needed for a thinking aloud test. Int. J. Human Computer Studies, 41, 1994, Seite 385-397

Nielsen, J., Molich, R.: Heuristic evaluation of user interfaces. Proc. ACM CHI90, Seattle, WA, 1-5 April 1990, Seite 249-256

Spiegel special: TV total, Macht und Magie des Fernsehens; Spiegel-Verlag, Rudolf Uhlstein GmbH & Co KG, Hamburg, Ausgabe 8/1995 Seite, 47 ff.

Wozencroft, J.: Die Grafiksprache des Neville Brody. Bangert Verlag, Muenchen 1992, Seite 144-145.

Kurz & buendig

Um Benutzerfreundlichkeit der grafischen TV-Oberflaeche ging es dem Pay-TV-Anbieter "Premiere" aus Hamburg. Mit Rapid Prototyping sollte die Fraunhofer-Gesellschaft in Stuttgart einen Vorschlag der Hamburger optimieren. Kriterien sollten sein:

- Konsistenz von Navigationsstruktur und Oberflaeche,

- intuitive Verstaendlichkeit der Bedienung,

- emotionale Kriterien, zum Beispiel Spass, Attraktivitaet des Systems sowie

- Software-ergonomische Kriterien, das heisst Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfaehigkeit, Steuerbarkeit, Erwartungskonformitaet, Fehlertoleranz und Erlernbarkeit.

Jeden neuen Prototypen liessen die Stuttgarter zusammen mit Endbenutzern testen und bewerten.

*Diplominformatiker Franz Koller und Diplompsychologe Michael Burmester arbeiten bei der Fraunhofer-Gesellschaft - IAO in Stuttgart.