Informationsversorgung zaehlt im Fernsehgeschaeft zum A und O RTL krempelt seine DV mit R/3 und C++ vollkommen um Von Berthold Wesseler*

04.03.1994

"Unter der Oberflaeche liegt die Zukunft" - mit diesem Slogan wirbt RTL fuer "Seaquest DSV", eine der teuersten Serien der Fernsehgeschichte (1,5 Millionen Dollar pro Folge). Dieser Werbespruch beschreibt aber auch treffend, warum puenktlich zum zehnten Geburtstag des Koelner Fernsehsenders die Standardsoftware R/3 von der Walldorfer SAP AG eingefuehrt wurde.Als Herbert Lutterbach im August 1991 bei RTL die Leitung des neu geschaffenen Bereichs DV/Organisation uebernahm, war seine erste Aufgabe die voellige Neukonzeption der Informatikstrategie. Die bei RTL eingesetzte, typisch mittelstaendische kommerzielle Standardsoftware stiess an ihre Grenzen. Sie lief zudem auf einer HP 3000 unter dem Betriebssystem "MPE/XL" und der Datenbank "Image". Diese Architektur bot fuer Lutterbach keine zukunftstraechtige Basis fuer einen Neuanfang. Die Verkabelung der Terminals mit dem Rechenzentrum war je nach Bedarf erfolgt und dementsprechend unstrukturiert. Es gab also akuten Handlungsbedarf.RTL setzte sich damals ein aeusserst ehrgeiziges Ziel, erinnert sich Lutterbach. "Mitte 1991 nahmen wir uns vor, aus RTL in drei Jahren den Fernsehsender mit der besten Informationsversorgung und den modernsten DV-Systemen Deutschlands zu machen." Informationen stellen fuer Programmanbieter wie RTL eine entscheidende strategische Komponente dar, weil der in den letzten Jahren von sehr starkem Wachstum gepraegte Markt enger wird. Da das Fernsehgeschaeft zudem hochgradig turbulent und sehr schnellebig ist, muessen die DV-Systeme ebenfalls flexibel und reaktionsschnell sein.Der noch junge Markt verfuegt noch nicht ueber eine konsolidierte Wettbewerbssituation - staendige Anpassungen der Organisationsstruktur und der operativen Systeme sind die Folge. Lutterbach: "Jeden Tag ziehen Mitarbeiter um; im letzten Jahr lag allein der Aufwand fuer beauftragte Umzugsunternehmen bei neun Mannjahren. Auch strukturell muessen wir flexibel sein, denn ein Flop faellt schnell aus dem Programm, waehrend erfolgreiche Sendekonzepte ausgebaut werden. All das hat Auswirkungen auf die DV."Aktuelle und aussagekraeftige Kennziffern haben eine hohe Bedeutung fuer das RTL-Management, das bereits morgens um 11 Uhr mit Vorliegen der Einschaltquoten immer weiss, wie gut RTL am Tag zuvor war. Dieses Wissen hat alle RTLer gepraegt, so Lutterbach: "Es gibt ausser uns kaum eine Branche, die taeglich Kontrollzahlen ueber das Geschaeft von gestern hat. Entsprechend schnell fallen bei uns Entscheidungen, und ebenso schnell muessen auch wir Informationen bereitstellen." Zudem hat die DV die Aufgabe, den Sendebetrieb rund um die Uhr zu unterstuetzen.Im Zuge der Neugestaltung stand die Abloesung der wichtigsten Anwendungen an, darunter die Ablaufplanung, eine Cobol-Eigenentwicklung, eine integrierte kommerzielle Standardsoftware von AC-Service fuer Finanzbuchhaltung, Kostenrechnung sowie Lohn und Gehalt, Standardsoftware fuer Archiv und Anlagenbuchhaltung sowie mit 4GL- Sprachen erstellte Eigenentwicklungen fuer Disposition, Zeiterfassung und Einkauf. Dazu gesellten sich noch diverse PC- Programme, die jeweils stand alone eingesetzt wurden.Maxime beim Neubeginn war der Dienstleistungscharakter der DV. Getreu dem Konzept von RTL-Chef Helmut Thoma bietet sie zentral ausschliesslich Dienste an, die an jeder "Datensteckdose", an jedem Standort verfuegbar sind: Datenbank-, Mail-, Fax- oder auch Programmservices. So wird zum Beispiel der SAP-Anwendungsservice gerade ins Netz eingespeist.Unabhaengigkeit von den Lieferanten Die DV-Strategie zielte auf einen hohen Grad an Unabhaengigkeit von einzelnen Lieferanten, um sich langfristig ein breites und preisguenstiges Angebot an Systemkomponenten offenzuhalten. Die neue RTL-Architektur basiert auf einer durchgaengigen Infrastruktur. Die Verkabelung wurde so ausgelegt, dass sie sich an jedem Arbeitsplatz den jeweils individuell benoetigten Bandbreiten anpassen laesst. Horizontal - auf den Etagen - wurde eine strukturierte Ethernet-Vollverkabelung gewaehlt. Die Etagen untereinander sind via FDDI-Glasfaserringe vernetzt. Damit ist nicht nur die Basis fuer die interne Kommunikation vorhanden, sondern auch fuer die Nutzung externer Informationsquellen und die Einbindung von Dienstleistern.Ueber die Frage, ob Standardsoftware oder Individualsoftware eingesetzt werden sollte, wurde nicht lange debattiert. Die Grund-linie ist fuer Lutterbach klar: "Funktionen des Kerngeschaefts, zum Beispiel Programmplanung oder der Verkauf der Werbezeiten, werden mit Individualloesungen abgedeckt, die auf RTL-Belange optimiert sind. Ansonsten verwenden wir ueberall dort, wo es moeglich ist, Standardsoftare."Zunaechst entwickelte man bei RTL ein Pflichtenheft, das die gewuenschte Funktionalitaet beschrieb und die damit angestrebten Ziele definierte. Ausserdem sollte das System in die Infrastruktur und das Architekturkonzept passen.Die Anbieter, die fuer RTL ueberhaupt in Frage kamen, mussten eine gewisse Unternehmensgroesse, installierte Basis und Marktpraesenz in Deutschland vorweisen. Zudem sollte die Software nicht veraltet sein; als Indiz dafuer wurde das Jahr der Markteinfuehrung herangezogen. Eine Handvoll Unternehmen kam in die engere Wahl, unter anderem SAP. R/3 steckte damals noch in den Kinderschuhen, weshalb anfangs auch nicht sehr viel fuer das Angebot der Walldorfer sprach; SAP konnte RTL kein stabiles R/3 praesentieren. Selbst Kernfunktionen waren unbefriedigend realisiert. Dieses Bild wandelte sich allerdings im Januar 1993, als das Walldorfer Softwarehaus staerker auf die Beduerfnisse und Anforderungen des Fernsehsenders einging. Ende Januar 1993 fiel dann die formale Entscheidung fuer die R/3- Komponenten Finanz- und Rechnungswesen, Anlagenbuchhaltung und Kostenrechnung. Die Vorbereitungen fuer den Echtbetrieb von R/3 und die Umstellung der bestehenden Anwendungen dauerten also nur knapp ein Jahr.Den Ausschlag fuer die Entscheidung pro SAP gab neben dem hohen Abdeckungsgrad der funktionalen Anforderungen die Implementierung auf Standardkomponenten, die sich ohne groessere Probleme in die RTL-Architektur einpassen liessen. "Zwar hatte R/3 zu dem Zeitpunkt noch keine sehr grosse Marktpraesenz, doch sie deutete sich an. Zudem waren wir von der Langlebigkeit des Produktes ueberzeugt", bringt Lutterbach die Argumente fuer R/3 auf den Punkt: "Wir sahen das Potential, auf Nebenkriegsschauplaetzen wie Buchhaltung und Kostenrechnung moeglichst sorgenfrei eine stabile, laengerfristig tragbare Loesung zu erhalten."Die R/3- Anpassung dauerte drei Monate Fuer die R/3-Einfuehrung wurde im Februar 1993 aus den Bereichen Buchhaltung, Kostenrechnung und DV ein Kernteam von vier Mitarbeitern gebildet, das zunaechst geschult wurde. Im April 1993 hat diese Mannschaft R/3 erstmals bei RTL installiert. Anschliessend wurde von Mai bis Juli 1993 ein Feinkonzept fuer Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung erarbeitet. Die Anpassung (Customizing) des R/3-Systems an die RTL- Anforderungen nahm einen Zeitraum von drei Monaten (August bis Oktober 1993) in Anspruch. Es waren nur marginale Aenderungen und geringfuegige Erweiterungen notwendig, die weniger als fuenf Prozent des Gesamtsystems betrafen.Neben dem Test lief die Dokumentation. Zeitgleich gingen von Oktober bis Dezember 1993 die Schulung der uebrigen Mitarbeiter und die Uebernahme der Daten in die neue Buchhaltung ueber die Buehne.Am 2. Januar 1994, genau am zehnten Geburtstag von RTL, wurde R/3 auf einem Unix-Rechner HP 9000 mit Oracle-Datenbank in Betrieb genommen. Der alte HP-Rechner dient noch als Programm-Server und Gateway, bis Mitte 1994 die letzten Folgen der Umstellung beseitigt sind. Die gesamte Unterstuetzung bei der R/3-Einfuehrung kam von SAP selbst. Lutterbach: "Auf Vertriebspartner von SAP wuerde ich dabei auch in den naechsten zwei Jahren nicht setzen, denn das Produkt hat doch noch seine Probleme und reichlich Fehler. Die Berater mussten haeufig auf die Entwickler in Walldorf zurueckgreifen, weil sie auftretende Fragen nicht beantworten konnten. Das faellt SAP-eigenen Beratern doch einfacher als Kollegen aus anderen Unternehmen."Die Sorgfalt bei der Einfuehrung hat sich bewaehrt. "Ich habe selten bei einem so umfangreichen Standardpaket einen derart reibungslosen Uebergang erlebt," freut sich Lutterbach. Erfolgsentscheidend sei dabei gewesen, dass dem kleinen Projektteam die alleinige Entscheidungskompetenz bei der Realisierung zugebilligt wurde. Insgesamt arbeiten jetzt ueber 30 Sachbearbeiter mit R/3. Das Antwortzeitverhalten sei gut, obwohl die Software fuer manche Ablaeufe laenger brauche als vermutet. Doch da sieht Lutterbach kein Problem, zumal die Kosten fuer eine Verbesserung nicht hoch waeren.Auch bei der Funktionalitaet sind seiner Meinung nach kleine Abstriche zu machen: "Manche Funktionen wie die Bankbuchhaltung sind nicht fuer normale Firmen, sondern fuer Groesstunternehmen geeignet. Sie sind fuer den Sachbearbeiter einfach noch zu umstaendlich; hier waeren Vereinfachungen wuenschenswert."Die Betriebskosten fuer R/3 sind ueberschaubar: Das Teuerste ist die Einfuehrung. Der Rechner selbst kostet rund 250 000 Mark. Relativ kostspielig war, die Buchhaltung komplett neu mit PCs auszustatten. Dort wird kuenftig mit 17-Zoll-Bildschirmen gearbeitet. "An einem grossen Bildschirm kann man zwei Bilder nebeneinander sehen, und wir haben festgestellt, dass unsere Sachbearbeiter durchaus mehrere SAP-Modi parallel nutzen", erklaert Lutterbach. Nach der erfolgreich abgeschlossenen R/3-Einfuehrung machen sich Lutterbach und seine Mitarbeiter jetzt an die Modernisierung der Systeme fuer das Kerngeschaeft - PC-gestuetzt, weil flexibler. Auch hier setzt RTL auf den neuesten Stand der Technik. Alle Eigenentwicklungen laufen nur noch unter Windows und werden objektorientiert in C++ realisiert.* Berthold Wesseler ist freier Fachjournalist in Bergisch-Gladbach.