IT im Anlagen- und Maschinenbau/Internet- und Workflow-Pilotanwendungen bei Liebherr Verzahntechnik

Informations-Management in der Produktion: Volle Töpfe, aber leere Teller

17.03.2000
Forschung, Softwarehaus und Anwenderunternehmen haben bei Liebherr zusammengearbeitet, um die Qualität der Information für die unterschiedlichen Anwenderbedürfnisse im Unternehmen kontinuierlich zu verbessern, und zwar ohne Customizing der ERP-Standardsoftware (Enterprise Resource Planning). Joachim Schuon*, Lars Soltau* und Stephan Wilhelm* beschreiben das Vorgehen.

"Zum Jahrtausendwechsel ist nichts Gravierendes passiert", können wir vernehmen. Auch im Entwicklungszentrum für Maschinensteuerungen bei Liebherr in Kempten blieben die befürchteten Kundenreaktionen aus. Dann ist ja alles in Ordnung, oder?

Leider noch lange nicht, denn die meisten Ressourcen der DV-Abteilungen waren in den vergangenen 18 Monaten hauptsächlich mit Euro und Y2K beschäftigt. Obwohl der Jahrtausendwechsel dem einen oder anderen Altsystem den Garaus gemacht hat, bleibt in vielen Betrieben ein Grundproblem unverändert bestehen: Die richtige Information ist gerade zum richtigen Zeitpunkt nicht direkt verfügbar, und Daten werden dem Anwender gebunden in den Masken der Systeme präsentiert. Im schlimmsten Fall müssen die benötigten Informationen mühsam aus mehreren Teilabfragen verschiedener Systeme zusammengesammelt werden.

Eine alltägliche Kundenanfrage in einem Servicecenter zeigt dies deutlich. Innerhalb einer Anfrage muss ein Teil zunächst mit Bezeichnung und Bestellnummer eindeutig identifiziert werden. Dazu verwenden die Spezialisten Zeichnungs- und Stücklistendaten der kundenspezifischen Maschinendokumentation.

Damit ein sofortiger Versand des Ersatzteils erfolgen kann, muss anhand der ermittelten Informationen der Lagerbestand abgefragt werden. Bei positiver Rückmeldung erfährt der erleichterte Kunde, dass das gewünschte Teil in 24 Stunden verfügbar sein wird. Was sich in diesem Beispiel so einfach liest, bedeutet in vielen Fällen einen enormen Recherche- und Zeitaufwand: Die Suche führt vom Zeichnungsarchiv über die Abfrage der Stücklisten und Stammdaten bis hin zur Lagerverwaltung jeweils mit verschiedenen DV-Systemen. Dabei wird grundsätzlich das entsprechende Know-how zur Bedienung der Systeme, die sich in Oberfläche und Benutzerführung unterscheiden, vorausgesetzt.

Die heutigen Ansprüche kann man nicht auf eine alteingeführte Software aus Cobol- und Großrechnertagen übertragen. Es ist jedoch verwunderlich, dass bei einer Neueinführung eines modernen Client-Server-Systems immer noch viele kundenindividuelle Ansprüche offen bleiben. Das liegt nicht an der Flexibilität der Systeme, sondern an den wirtschaftlichen Zwängen, möglichst zügig, kostengünstig und ohne Verlust von Altdaten ein System einzuführen, das als Standardsoftware vielfach erprobt und stabil verfügbar ist.

Eine kundenspezifische Anpassung ist beratungsintensiv und verschlingt einen Großteil des Budgets. Weiterer Nachteil: In nahezu keinem Fall übernimmt der Berater die Garantie, dass alle Anpassungen auch einen Releasewechsel überstehen. Die Devise lautet: Investitionsschutz hat gegenüber Individualansprüchen Priorität.

Es kann vorkommen, dass mit der Einführung des Systems nicht nur die Bildschirmoberfläche gewechselt wird, sondern auch der gesamte Unternehmenssprachgebrauch dem Standardvokabular des Systems weichen muss. So wird aus einer Maschine eine Installation oder aus einer altbekannten Fertigungsnummer eine Projektnummer. Heutige Qualitätsstandards orientieren sich stärker an der Qualität der Daten, das heißt der Konsistenz, der Aktualität und der Verfügbarkeit des Zahlenmaterials. Dabei bleiben die eigentlichen bedarfs- und benutzerrelevanten Informationen, deren Qualität sich durch Transparenz und Aussagekraft definieren würde, oftmals unberücksichtigt. Ein Beispiel einer aktuellen Baan-Einführung zeigt, dass Lagerorte mit kryptischen Zeichenketten codiert sind oder Gerätearten über Zahlen definiert werden. Die tatsächliche Bedeutung dieser Codes erschließt sich dem Benutzer erst über die entsprechenden Zuordnungstabellen.

Alte Strukturen belassen, Investitionen sichernBei der Einführung des ERP-Systems bei Liebherr Verzahntechnik stand von vornherein fest, dass weder die Mittel noch die Ressourcen für eine kundenspezifische Anpassung verfügbar sein würden. Also wurde die Standardsoftware auch weitestgehend standardisiert eingeführt. Dennoch wünschten sich die Benutzer eine den eigenen Bedürfnissen angepasste und dem kontinuierlichen Wandel des täglichen Informationsbedarfs flexibel adaptierbare Lösung. Was wie ein Entscheidungsdilemma klingt, wurde im Rahmen eines geförderten Projekts als Vorhaben definiert. Zusammen mit weiteren industriellen Partnern und Softwarehäusern wurden Anforderungen festgelegt und Lösungswege erarbeitet, die unter anderem lauteten:

-bestehende Systeme und Strukturen belassen und verwenden,

-Qualität der Information verbessern nach dem Motto: "Alle notwendigen Information auf einen Blick",

-Recherche- und Reaktionszeiten verkürzen,

-Benutzerkomfort durch individuelle Oberflächengestaltung erhöhen,

-vertraute Browser-Umgebung verwenden sowie

-vom Informationsnutzer keine tief greifende Systemkenntnis verlangen.

Um diese Anforderungen zu erfüllen, wurde eine mehrschichtige Systemarchitektur geschaffen, in der die bestehenden Systeme den Unterbau bilden und ihren Informationsvorrat zur Verfügung stellen. Eine vermittelnde Schicht dient zur Kommunikation zwischen diesen Systemen und zur Definition der einzelnen Informationsbedürfnisse bei bestimmten Prozess-Schritten.

Der Datenzugriff auf Systeme der unteren Schicht erfolgt variabel über die angebotenen Interfaces: Die Möglichkeiten reichen von einer Kommunikation über Corba (Common Object Request Broker Architecture) bis zum lesenden Direktzugriff auf die Daten. Im Web-Server, der vom Systemhaus Slab aufgesetzt wurde, wird diese Flexibilität durch den Einsatz von so genannten Servlets erreicht: Java-Klassen, die im Kontext des Web-Servers ablaufen und deren Ausgabe vom Web-Server direkt an den Browser gesandt wird.

Für die Zwischenschicht steht die gesamte Mächtigkeit von Java mit seinen vielfältigen Klassenbibliotheken zum Beispiel für Corba und den Zugriff auf relationale Datenbanken zur Verfügung. Die ERP-Daten für Stücklisten und Lagerbestand werden über JDBC (Java Database Connectivity) direkt aus der Datenbank gelesen; die Konstruktionsdaten stehen als PDF (Portable Document Format) oder VRML-Dateien (Virtual Reality Markup Language) auf einem File-Server.

Die Interaktion mit dem Benutzer findet über die dritte Ebene, die Repräsentationsschicht, statt. Innerhalb dieser Ebene wird zur Anzeige aller Informationen konsequent der Browser eingesetzt. Die Akzeptanz des Browsers als Benutzer-Frontend ist sehr viel höher als bei proprietären Graphic User Interfaces (GUIs), da viele User bereits aus dem privaten Umfeld mit Browser-basierten Frontends vertraut sind. Damit die Informationen dem individuellen Bedarf gerecht werden, wurde mit der POBB-Analyse des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) genau ermittelt, welche Person welche Informationen zu den einzelnen Prozessschritten benötigt und aus welchen DV-Systemen diese stammen.

Nicht selten unterschied sich die Sichtweise eines Servicetechnikers auf Informationen gänzlich von der eines Entwicklungsingenieurs, und der Informationsbedarf ließ sich nur durch die Kombination mehrerer Informationen aus unterschiedlichen Systemen beziehungsweise Systemmodulen decken. So ergeben sich die Identifikation eines Ersatzteils und die Zusage der prompten Lieferung aus den Einzelinformationen Zeichnung, Stückliste und Lagerbestand.

Genau diese drei Informationen werden in der vermittelnden Schicht aus den DV-Systemen abgefragt und in der Repräsentationsebene in einer Darstellung angezeigt - "Information auf einen Blick".

Der ursprüngliche Ansatz zur Anzeige basiert auf einer Datenkonvertierung zu HTML (Hypertext Markup Language). Jede Ansicht von Daten wurde als Template definiert und auf einem Application-Web-Server abgelegt. Auf Anfrage wird dieses Template durch ein Servlet mit den entsprechenden Daten gefüllt und beim Client als HTML-Seite ausgegeben. Bei der Konvertierung zu HTML und der Beschreibung der Daten als Web-Seite gehen leider wertvolle Informationen unter. Das liegt in der Natur der Beschreibungssprache HTML, die zur Anzeige am Bildschirm und für das menschliche Auge entwickelt wurde.

Durch die Vermengung von Layoutanweisungen und Daten geht beispielsweise die Bedeutung einer Zahl in der Tabellenzeile einer Stückliste verloren, und nur der Benutzer ist in der Lage, diese Zahl innerhalb der Spaltenbezeichnung als "Teile-ID" und nicht als "Lagerbestand" zu interpretieren. Will der Anbieter die Zeilen einer Tabelle spaltenweise umsortieren, führt das zu einer erneuten Datenbankanfrage und zu einer neuen, Server-seitigen HTML-Konvertierung. Das Problem: Die übergeordnete Bedeutung von Informationen steht zur weiteren maschinellen Verarbeitung oder zum Austausch mit anderen Anwendungen nicht mehr zur Verfügung.

Informationsgewinn durch XMLDie konsequente Trennung von Informationen in ihre wesentlichen Bestandteile hilft, Informationen zu erhalten:

-Struktur: inhaltliche Definition der Datenelemente und Attribute, deren Auftreten, Reihenfolge und Verschachtelung innerhalb einer Document Type Definition (DTD);

-Darstellung: formale Beschreibung zur optischen Repräsentation auf dem Ausgabemedium mit XSL/XSLT;

-Inhalt: eigentliche Daten, die entsprechend den Regeln der Strukturdefinition die XML-Daten bilden.

Das klingt zunächst etwas befremdlich. Am Beispiel einer Maschinenstückliste wird schnell klar, worum es sich handelt.

Eine gebräuchliche und vielfach verbreitete Baukastenstückliste enthält neben den Stücklistenkopfdaten die eigentlichen Stücklisteneinträge in tabellarischer Form. Die Tabellenspalten beinhalten in der Regel Positionsnummer, Teile-Ident-Nummer, Teilebezeichnung und Einbaumenge. Jede Zeile in der Stückliste entspricht genau diesem Muster, und die Summe der Zeileneinträge mit der Kopfinformation kann als Struktur definiert werden. Diese Strukturbeschreibung wird in einer DTD abgebildet. Diese bildet das Regelwerk für die Reihenfolge, die Verschachtelung und die Beschreibung der inhaltlichen Daten durch XML-Metatags. Damit sind die Daten nicht mehr formal, sondern inhaltlich beschrieben und dem Kontext entsprechend maschinell auslesbar.

Um die bereits erwähnte Dreiteilung zu komplettieren, muss für die Repräsentation der Daten eine Transformations- und Formatierungsdefinition aufgestellt werden, die angibt, welche Daten auf den Ausgabemedien Bildschirm, Papier, DVD etc. optisch dargestellt werden sollen und wie. Diese Angaben werden innerhalb von Stylesheets verankert. Für die Beschreibung steht eine eigene Sprache zur Verfügung, XSL und XSLT für Transformationen.

Wird diese Dreiteilung durchgeführt und werden die Daten entsprechend den Vorgaben der DTD in XML aufbereitet, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten zur weiteren, Client-seitigen Datenverarbeitung. Durch den Einsatz verschiedener Stylesheets lassen sich auf ein und denselben XML-Datensatz die unterschiedlichsten Sichten auf Informationen generieren. Durch integrierte Funktionen ist die XML-Stückliste beliebig sortierbar. Der Servicetechniker kann zum Beispiel die elektrischen Komponenten in einer defekten Baugruppe auflisten oder sich codierte Artikelgruppen im Klartext anzeigen lassen. Jede Funktion wird auf dem lokalen Rechner ausgeführt, sodass nach der Übertragung von strukturierten Daten und Stylesheet keine weitere Anfrage und Belastung des Servers notwendig ist. Damit ist diese Art des Datenaustauschs besonders für mobile Anwendungen auf Laptops geeignet, die nicht kontinuierlich mit einem Server verbunden sind.

Ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess (KVP)Welche vielfältigen Möglichkeiten die neue Technologie ermöglicht, wird durch die ersten Pilotanwendungen bei Liebherr sichtbar. Die Reaktionen der Benutzer sind positiv. Durch die gezeigte Lösung wird oft das Denken in neuen Dimensionen ermöglicht. Bedarf, der im Umfeld des ERP-Systems nicht ausgesprochen, ja noch nicht einmal empfunden wurde, scheint nun in greifbare Nähe gerückt zu sein.

Innerhalb kurzer Zeit kamen von den betroffenen Anwendern bereits Verbesserungsvorschläge für Weiterentwicklungen, Garantie für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) der Informationen. In den nächsten Projektschritten sollen weitere Informationen aufgenommen werden, die bisher nicht strukturiert oder zentral abgelegt wurden. Das Potenzial des Erfahrungswissens der Techniker und Serviceleute soll breiter zugänglich werden und die Qualität der Informationen durch den Einsatz von neuen Medien erhöht werden.

Bei aller Euphorie gibt es immer wieder eine Kluft zwischen dem technisch Machbaren und dem praxisgerecht Verwendbaren. So beschränken sich die Anwendungen momentan auf den Einsatz des Internet Explorer 5.0, für die Erstellung der Stylesheets gibt es bislang keine geeigneten Editoren, der Sprachstandard von XSL/ XSLT ist noch nicht endgültig verabschiedet, und XML-Daten benötigen ein geeignetes Datenbanksystem.

In vielen Fällen lösen sich die Probleme durch den rasanten Wandel innerhalb kurzer Zeit von selbst. Was heute nicht möglich ist, ist im Bereich der Internet-Technologien von morgen verfügbar und übermorgen schon wieder verbessert.

* Joachim Schuon ist Leiter Steuerungsentwicklung und Elektrokonstruktion bei der Liebherr Verzahntechnik (joachim.schuon@lvt.liebherr.com) in Kempten, * Lars Soltau Geschäftsführer der Slab Informationtssysteme (ls@slab.de) in Böblingen und * Stephan Wilhelm ist Mitarbeiter des Fraunhofer IAO in Stuttgart (stephan.wilhelm@iao.de)

Abb.1: XML und ERP-Systeme

Durch integrierte Funktionen ist die Stückliste beliebig sortierbar. Quelle: IAO

Abb.2: Architekturebenen

Die bestehenden Systeme bilden den Unterbau und stellen den Informationsvorrat zur Verfügung (siehe Seite 75). Quelle: IAO

Abb.3: Client-Browser

Die Akzeptanz des Browsers als Benutzer-Frontend ist sehr viel höher als bei proprietären Graphic User Interfaces. Quelle: IAO