Infineon baut am ultimativen IT-System

08.07.2005
Der Halbleiterkonzern hat seine Prozesse für Bestellwesen, Auftragsabwicklung und Logistik global standardisiert und in einer einzigen Lösung abgebildet.

Die Halbleiterbranche ist volatil - nicht nur das Produktangebot, auch Geschäftsprozesse ändern sich schnell. Unternehmensweite IT-Projekte mit langer Laufzeit verbieten sich hier fast von selbst. Trotzdem arbeitet die IT-Abteilung von Infineon unter Leitung von CIO Karl Pomschar an einem großen Wurf: Mit dem Programm Goal (Global Order to Cash Application Launch) hat der Halbleiterhersteller weltweit seine Prozesse für die Planung, das Bestellwesen und die Logistik vereinheitlicht und unterstützt diese mit einer hochintegrierten IT-Lösung, deren Kernstück eine logische SAP-Instanz darstellt. "Wir stemmen derzeit eines der größten Projekte in der gesamten Hightech-Industrie", ist sich Pomschar sicher.

Bevor Infineon Mitte 2003 das Programm startete, schuf der Konzern mit zahlreichen anderen Projekten die Basis, auf der nun das Programm Goal aufsetzen kann. Innerhalb der vergangenen vier Jahre hat Infineons IT-Abteilung sowohl ein Human-Resource-(HR-) als auch ein Customer-Relationship-Management-System eingeführt, einheitliche Datenstrukturen implementiert und eine hochkomplexe Supply-Chain-Management-Architektur aufgebaut.

Im Rahmen von Goal werden Bestellwesen, Auftragsabwicklung und Logistik standardisiert und in einem weltweit einheitlichen IT-System abgebildet. "Viele unserer Kunden sind selbst global aufgestellt - die können wir nicht mit einer länderspezifischen Organisation bedienen", begründet Michael Schmelmer, Vice President und Head of IT Business Transformation, die Entscheidung, weltweit nur eine Instanz des Systems einzuführen. Selbstverständlich seien der Standardisierung Grenzen gesetzt, wenn es beispielsweise um die Abbildung länderspezifischer Exportvorschriften und Zollformalitäten gehe: "Standardisierung bedeutet nicht, alles rigide glatt zu bügeln, aber die Prozesse müssen weltweit einheitlich sein."

In der Endausbaustufe werden insgesamt 1300 bis 1500 Mitarbeiter aus den Bereichen Planung, Kundensupport, Distribution, Logistik, Vertrieb, Marketing und Finanzen mit dem neuen System arbeiten. Die Implementierung erfolgt schrittweise. In der Region Nafta (USA, Kanada, Mexiko) und Teilen Europas ist die Lösung bereits in Betrieb, rund 200 Mitarbeiter arbeiten in Übersee seit Anfang Mai damit, in Europa sind bislang 100 Arbeitsplätze damit ausgestattet. In einer zweiten Rollout-Phase, die noch diesen Herbst abgeschlossen wird, erhalten alle anderen europäischen Mitarbeiter den Zugriff auf das System. Bis Anfang 2006 sollen auch die weiteren Regionen Asien/Pazifik, Japan und China mit der neuen Lösung arbeiten. Dieses Vorgehen erfordert ein ausgeklügeltes Release-Management, da sichergestellt sein muss, dass weltweit alle Infineon-Mitarbeiter dieselbe Version benutzen. Die derzeit eingesetzte Lösung befindet sich kurz vor Abschluss der Stabilisierungsphase, vor dem nächsten Rollout in Europa wird sie weiter optimiert.

Die terminliche Abstimmung stellte Infineons IT-Mannschaft bereits während der Entwicklung der neuen Lösung vor komplizierte Aufgaben. Das Kernprojekt des Goal-Programms umfasst die vollständige Integration eines SAP-Systems (R/3 Enterprise 4.7) mit einem Supply-Chain-Management- und Planungssystem von i2. Die Entwicklung einer geeigneten Schnittstelle erwies sich als äußerst komplex. Die Anwender selbst arbeiten ausschließlich in der SAP-Oberfläche. Benötigt ein Mitarbeiter Informationen aus dem SCM-System von i2, stellt das führende SAP-System über die Schnittstelle eine Verbindung her. Synchron leitet das SCM-System die Antwort an das SAP-System zurück und präsentiert sie dem Anwender. Letzterer bekommt davon nichts mit, da der Prozess automatisch im Hintergrund abläuft. "Die Integration hatte es in sich und ist in dieser Form wohl einmalig", erklärt Wolfgang Keichel, Senior Director Goal.

Koordination vieler Teilobjekte

Zum Kernprojekt kamen eine Reihe von unterstützenden Teilprojekten. Rund 30 IT-Vorhaben leiteten sich direkt ab, um das Kernprojekt in die Verfahrenslandschaft einzupassen, weitere 30 waren indirekt betroffen. Dabei reichte die Bandbreite von der Aufbereitung bestehender Datenbestände bis hin zum Aufbau neuer Kunden- und Produktstrukturen. Außerdem mussten etliche Legacy-Systeme vorübergehend über Schnittstellen angebunden werden, bis ihre Funktionen vom Kernsystem übernommen werden konnten. Ein Beispiel für indirekte Auswirkungen des Programms ist die Anpassung der bereits genutzten Reporting-Anwendungen auf SAP-BW-Basis.

Ein Projekt dieser Komplexität und Größenordnung wird natürlich auch durch Veränderungen im Unternehmen beeinflusst, was die zeitliche Abstimmung der verschiedenen Teilprojekte erschwerte. Veränderungen in den Strukturen und Verantwortlichkeiten der operativen Einheiten wirken sich immer auch auf die Prozesslandschaft aus. Ad-hoc-Projekte mit einer höheren Priorität für Infineon erhöhten das Risiko von besonderen Engpässen.

Hohe Ausfallsicherheit

Das System muss weltweit rund um die Uhr verfügbar sein. "Ein so sensibles System wie die Auftragsbearbeitung darf keinesfalls länger als 30 Minuten ausfallen, da die Kunden auf Lieferung innerhalb von 24 Stunden angewiesen sind", begründet Schmelmer die hohen Anforderungen. Infineon arbeitet daher mit zwei getrennten Systemen auf Hochverfügbarkeits-Clustern. Wenn ein System im Batch-Betrieb läuft oder Patches aufgespielt werden müssen, übernimmt automatisch das jeweils andere die Transaktionen des operativen Geschäfts. Zudem strukturierte der Halbleiterhersteller auch die Support-organisation neu. Der "Customer Support Model" getaufte Ansatz soll die Nähe zu den Anwendern gewährleisten und arbeitet nach dem Follow-the-sun-Prinzip. So können Störungen rund um die Uhr von den international verteilten Standorten aus behoben werden.

Die Sicherstellung der Datenqualität war ein weiterer wichtiger Aspekt. Ein falsch eingegebenes Lieferdatum kann beispielsweise den kompletten Planungsprozess durcheinander bringen. Projektleiter Keichel nennt dies den "Fluch der Integration". Während früher der Mensch als Kontrollinstanz zwischen den verschiedenen Legacy-Systemen gewirkt habe, pflanzten sich durch den hohen Automatisierungsgrad Fehler nun innerhalb von Sekunden durch das gesamte System fort. Neben der Bereinigung des Datenmaterials im Vorfeld der Implementierung legt Infineon daher großen Wert auf Plausibilitätsprüfungen. So macht das System Anwender schon bei der Dateneingabe auf eventuelle Fehler aufmerksam. Zusätzlich sind im Reporting-System verschiedene Kontrollmechanismen verankert. Hierfür wurden Messpunkte eingebaut, die beispielsweise den Datenabgleich zwischen Logistik und Finanzbereich überwachen.

Obwohl Pomschars Mannschaft im Vorfeld Problemszenarien analysierte und so weitgehend vermeiden konnte, gab es doch einige Schwierigkeiten. Wie so oft bei Projekten dieser Größenordnung wurde der Schulungsaufwand für die Mitarbeiter unterschätzt. "Die Mitarbeiter sind die alten Prozesse und Systeme gewöhnt. Bis die User wieder eingespielt sind, dauert es einige Zeit", berichtet Projektleiter Keichel. Erschwerend kam eine Mehrbelastung der Mitarbeiter während des Rollouts in den USA durch den Anstieg der Transaktionen um 40 Prozent hinzu.

Trotz der hohen Komplexität des gesamten Vorhabens stand stets die Zufriedenheit der Infineon-Kunden im Vordergrund: Das Geschäft durfte von der Umstellung nicht beeinträchtigt werden. Viele der belieferten Branchen wie die Automobilindustrie arbeiten mit sehr engen Lieferterminen. Deren Einhaltung wird über die beiden Hochverfügbarkeits-Cluster sichergestellt. Ferner gehen bei Infineon bereits rund 80 Prozent aller Bestellungen elektronisch ein. Das hatte unter anderem einen enormen Testaufwand zur Folge. So prüft Infineon bei Änderungen am System nicht nur die neuen Elemente, sondern das komplette System. Derzeit ist das Unternehmen dabei, diese Testumgebung zu automatisieren, um den Aufwand künftig zu reduzieren. "Change-Management, Release-Management und geeignete Testverfahren spielen für derart übergreifende Systeme eine wesentlich wichtigere Rolle, als das früher der Fall war", resümiert Vice President Schmelmer.

Dass das anspruchsvolle Programm Goal so gut im Zeitplan liegt, führt Pomschar vor allem auf die außergewöhnlich gute Zusammenarbeit mit den verschiedenen Fachabteilungen zurück. Hier habe zudem die uneingeschränkte Unterstützung aller Vorstandsmitglieder enorm geholfen. Last, but not least lobt der CIO die hohe Motivation seiner Mitarbeiter. "So ein Projekt stemmen Sie nur mit einer wirklich guten Mannschaft."

Mit dem geplanten Abschluss von Goal Ende 2006 wird Infineon die Integration seiner Geschäftsprozesse und -systeme weitgehend beendet haben. Auf dem weiteren Weg wartet bereits die nächste Aufgabe: Infineon plant, die beiden Bereiche Business und Produktion über eine EAI-Architektur lückenlos miteinander zu verbinden.