Abschied von herkömmlichen Personalstrategien

"In Zielvereinbarungen stehen nur Banalitäten"

25.05.2001
Die Rekrutierung im Schnelldurchlauf sollte längst der Vergangenheit angehören. Mindestens fünf Vorstellungsgespräche pro Bewerber, strukturierte Aufgabenbeschreibungen und individuelle Jobangebote forderte Führungsexperte Reinhard Sprenger im Seminar "Hiring the Best"*. CW-Mitarbeiterin Ingrid Weidner unterhielt sich mit ihm über neue Ideen für erfolgreiche Personalstrategien.

CW: Müssen Unternehmen die heute 25- bis 30-jährigen Absolventen anders ansprechen als noch vor zehn Jahren?

Sprenger: Auf jeden Fall, denn die jungen Hochschulabsolventen stellen das eigene, selbstbestimmte Leben an die erste Stelle und sind nicht bereit, sich vorgegebenen Strukturen unterzuordnen. Unternehmen sollten deshalb diesen individuellen Lebensstil berücksichtigen und eine Arbeitsumgebung schaffen, die der Lebenssituation des Einzelnen angepasst ist. Nur dann fühlt dieser sich langfristig wohl.

CW: Reichen exklusive Recruiting-Events und Annoncen aus, um der Konkurrenz die guten Leute wegzuschnappen?

Sprenger: Sobald ein Unternehmen für seine Stellenangebote inserieren muss, hat es das Rennen um die besten Mitarbeiter schon verloren. Image und hervorragende Entwicklungsmöglichkeiten tragen dazu bei, dass die Bewerber gerne dort arbeiten möchten und sich selbständig darum kümmern. Um genügend talentierte Mitarbeiter für sich zu gewinnen, sollten die individuellen Wünsche der High Potentials stärker im Mittelpunkt stehen. In Zukunft müssen sich Unternehmen die Bewerber und ihre Talente genau ansehen und wenn sich die freie Position nicht für den Interessenten eignet, darüber nachdenken, ob es sich lohnt, um das Individuum herum neue Aufgaben und Geschäftsfelder zu entwickeln. Die Zeiten sind vorbei, als Personaler Mitarbeiter für bestimmte Positionen suchten. Künftig gilt es, für Bewerber und ihre besonderen Fähigkeiten eine passende Position zu finden oder erst im Unternehmen zu schaffen. Das heißt: Unternehmen bewerben sich bei den Mitarbeitern.

CW: Wie können Personalverantwortliche herausfinden, ob die Bewerber zu den High Potentials gehören?

Sprenger: Viele Unternehmen schenken der Personalauswahl noch zu wenig Aufmerksamkeit und bereiten die Interviews zu oberflächlich vor. Fünf Vorstellungsgespräche mit verschiedenen Ansprechpartnern und eine genaue Aufgabenbeschreibung halte ich für ganz wichtig. Bewerbungsunterlagen hingegen sagen nicht viel aus.

CW: Welches Auswahlprocedere empfehlen Sie Personalern?

Sprenger: In vielen Unternehmen funktioniert die Personalauswahl nach dem Ähnlichkeitsprinzip: Die Verantwortlichen stellen Mitarbeiter ein, die ihnen selbst ähnlich sind. Daraus entwickelt sich eine Tendenz zum Mittelmaß, und das ist die Vorstufe zur Langeweile. Innovative Ideen erwartet niemand mehr, sie kommen nur noch als zufällige Glückstreffer zustande. Andere versuchen beispielsweise mit Assessment-Centern (AC), die Genauigkeit der Erfolgsprognose zu erhöhen. Allerdings tendiert ein AC dazu, nur den Mainstream und den kleinsten gemeinsamen Nenner zuzulassen. Dadurch reduziert sich die Komplexität der Mitarbeiterschaft. Der künftige Wettbewerb erfordert aber genau das Gegenteil. Der wichtigste Qualitätsfaktor in der Diagnostik sind die Personalverantwortlichen selbst. Jede Mitarbeiterbeurteilung ist auch Selbst-Biografie. Der Philosoph Karl Popper empfahl für das wissenschaftliche Arbeiten, die aufgestellten Thesen zu falsifizieren. Personalverantwortliche können ihren ersten Eindruck von einem Bewerber beispielsweise aufschreiben, zur Seite legen und später versuchen, ihn zu widerlegen.

CW: Was sind Ihrer Meinung nach die gravierendsten Fehler bei der Personalauswahl?

Sprenger: Viele Unternehmen definieren nicht die Auswahlprämissen, sondern suchen Kandidaten und fällen Entscheidungen gleichsam impressionistisch und intuitiv. Ihre Unsicherheit reduzieren sie mit simplen Fragen und pseudoobjektiven Methoden wie Assessment-Centern.

CW: Welche Kriterien sollten Personaler bei einem Vorstellungsgespräch berücksichtigen?

Sprenger: Zunächst einmal sollte das Unternehmen ein genaues Anforderungsprofil erstellen: Was muss der Bewerber können? In welchen Situationen kommt das Können zum Tragen? Deshalb sollten sich die Interviewer im Vorfeld erfolgskritische Situationen überlegen und davon die Fragen ableiten. Beim Anforderungsprofil gibt es vier Ebenen: Neben der eigentlichen Aufgabe gehört die Führungskultur des Unternehmens dazu, der Chef und das Team. In allen Bereichen braucht das Unternehmen eine klare Aussage darüber, wie der neue Mitarbeiter in das Gefüge passen könnte. Aus allen Aspekten müssen die verschiedenen Gesprächspartner einen Interviewleitfaden zusammenstellen, um fundierte Aussagen jenseits der Standardantworten aus einem Bewerberratgeber zu erhalten.

CW: Welche Aspekte gehören Ihrer Meinung nach zur erfolgreichen Personalauswahl?

Sprenger: Die Probezeit hat einen hohen Aussagewert. Allerdings übersehen viele Unternehmen die Möglichkeiten dieser personaldiagnostischen Situation. Führungskräfte müssen die neuen Mitarbeiter in dieser Zeit genau beobachten, mit dem Anforderungsprofil vergleichen und die Ergebnisse auswerten, damit nicht am Ende die Erkenntnis steht: "Hired by capacity, fired by personality."

CW: Was gehört Ihrer Meinung nach für die High Potentials zu einem interessanten Arbeitsplatz? Was bewegt qualifizierte Mitarbeiter zum Bleiben?

Sprenger: Neben der besten Technik am Arbeitsplatz, spannenden Projekten und Herausforderungen muss das Unternehmen Möglichkeiten zur Selbstentwicklung und viel Freiraum bieten. Außerdem gehören interessante Kollegen und emotionale Wärme ebenfalls zu einem Arbeitsplatz, wie ihn sich junge Menschen wünschen.

CW: Die Liste hört sich nach einer Rundumversorgung an. Wie kann ein profitorientiertes Unternehmen diese Erwartungen erfüllen?

Sprenger: Mitarbeiter achten auf "kleine Nachbarschaften". Stimmt die Arbeitsatmosphäre im Team mit den Kollegen und Vorgesetzen und gestaltet das Unternehmen die Jobs flexibel für die Menschen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Mitarbeiter beim Unternehmen bleiben.

CW: Funktioniert die Personalbindung über das Gehalt?

Sprenger: Je austauschbarer die Unternehmen sind, desto mehr spielt Geld eine Rolle. Wer für Geld kommt, geht auch für Geld. Die Bezahlung muss angemessen sein, aber im Zweifelsfall gibt sie bei der Entscheidung nicht den Ausschlag.

CW: Helfen andere klassischen Methoden der Personalentwicklung, beispielsweise Coachings, als Bindungsinstrumente weiter?

Sprenger: Die mentale Entwicklungsgeschichte eines Menschen ist mit 20 Jahren weitgehend abgeschlossen. Der Spielraum für Veränderungen mit Personalentwicklungsmaßnahmen ist deshalb sehr klein. Unternehmen müssen sich von der Vorstellung lösen, Mitarbeiter einzustellen und sie sich dann zurechtzubiegen. Coaching hat meiner Meinung nach das Ziel, die Mitarbeiter auf eine festgelegte Linie zu trimmen. Das funktioniert nicht.

CW: Was empfehlen Sie stattdessen?

Sprenger: Für eine erfolgreiche Firma kommt es darauf an, sich die Talente und Fähigkeiten des Einzelnen genauer anzusehen, denn genau sie machen den Unterschied aus. Talent will sich immer artikulieren. Kann ein Individuum sein Talent nicht in die tägliche Arbeit einbringen, dann findet der Mitarbeiter sicher Möglichkeiten, seine besonderen Fähigkeiten in der Freizeit einzusetzen. Er erledigt den Job mit einer freizeitorientierten Schonhaltung, um sich abends als Vereinsvorsitzender oder als Fußballtrainer zu verwirklichen. Die Unternehmen bezahlen solche Mitarbeiter zwar, erhalten aber nur eine Anpassungsleistung.

CW: Wie schätzen Sie die in Mode gekommenen Leistungsbeurteilungen, Zielvereinbarungen und 360-Grad-Feedback-Runden ein, bei denen jeder jeden beurteilt?

Sprenger: Leistungsbeurteilungen haben nur einen einzigen Sinn: Sie sind ein Beleg dafür, dass die Person nicht mehr gebraucht wird. Wenn ein Unternehmen seine Mitarbeiter wirklich braucht, beurteilt es sie nicht. Kreative und leistungsmotivierte Mitarbeiter arbeiten, weil es ihnen Spaß macht und sie ihren Job gerne machen und nicht, weil in ihren Zielvereinbarungen Banalitäten festgeschrieben sind. Die 360-Grad-Feedback-Methode sehe ich als Umzingelung des Individuums. Zu den Aufgaben einer Führungskraft gehört es, die anderen bei der Arbeit zu stören und den Hang zur Routine aufzulösen. Es geht nicht nur um runde Tische, sondern auch um eckige Entscheidungen. Applaus kriegt man dafür selten. Deshalb sind solche Feedback-Runden unsinnig.

CW: Welche Alternativen zur Beurteilung bieten sich Ihrer Meinung nach an?

Sprenger: Interessant ist die Frage: Was trage ich dazu bei, dass der andere sich so verhält wie er sich verhält? Der Mitarbeiter reagiert in seinem Verhalten auch auf den Chef und auf Kollegen. Komplexität lässt sich nicht auf einfache Formeln reduzieren. Deshalb greifen Mitarbeitergespräche zu kurz.

CW: Wenn Sie die gängigen Instrumente der Personalentwicklung als Kinderkram ablehnen, was empfehlen Sie stattdessen?

Sprenger: Verantwortung und das Gefühl, "es kommt auf mich im Unternehmen an", motiviert die Mitarbeiter. Die New Economy hat viele träge Unternehmen wachgerüttelt. Jetzt geht es darum, den Veränderungswillen im Arbeitsalltag in kleinen Unternehmenseinheiten umzusetzen und die Jobs für die Menschen zu flexibilisieren. Die Old Economy hat keinen Grund, sich selbstgefällig zurückzulehnen, und sich allzu stolz auf die Schultern zu klopfen.

CW: Die anklingende Rezession und Pleitewelle bei den Dotcoms bedeutet für viele High Potentials, dass sie sich nach neuen Jobs umschauen müssen. Ist der McKinsey-Slogan vom "War of Talents" Schnee von gestern? Können sich Unternehmen wieder beruhigt zurücklehnen, weil die Bewerber Schlange stehen?

Sprenger: Keineswegs. Bis zum Jahr 2012 scheiden in Deutschland netto jährlich zwischen 350 und 380 000 Menschen aus Altersgründen aus dem Erwerbsleben aus. Von einer Entspannung kann deshalb keine Rede sein, denn jedes dritte Unternehmen ist in seinem Wachstum durch Personalknappheit gehandicapt. Hinzu kommen viele mittelständische Firmen, deren Gründer noch keine Nachfolger haben.

*Seminar "Hiring the Best", Veranstalter ZfU Zentrum für Unternehmensführung, Zürich.

Heraus aus der SchubladeZwar sind neue Führungsstile immer wieder en vogue, doch die meisten Manager kultivieren noch immer ihre alten Gewohnheiten. Im 21. Jahrhundert sind erst die Wenigsten angekommen. Reinhard Sprenger entlarvt in seinem neuen Buch "Aufstand des Individuums" mit netten Beispielen und in süffisantem Ton viele so genannte Neuheiten und ihre Nutzlosigkeit. Weder dem in Mode gekommenen 360-Grad-Feedback noch Coachings oder Mitarbeiterbefragungen gibt er in seiner Analyse eine Chance.

Dagegen brauchen Unternehmen nach Meinung des Autors wesentlich mehr Phantasie, um sich als attraktive Arbeitgeber für ihre Mitarbeiter zu präsentieren. Individualität heißt für Sprenger das Schlüsselwort. Um erfolgreich zu sein, sollten Firmen stärker auf Persönlichkeiten und weniger auf Durchschnittstypen setzen. Viele nützliche Anregungen und fundierte Analysen bieten sowohl für die praktische Personalarbeit als auch für visionäre Konzepte jede Menge Ideen.

Reinhard K. Sprenger: Aufstand des Individuums. Warum wir Führung komplett neu denken müssen. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2000, 297 Seiten, 49,80 DM. ISBN 3-593-36560-X.