Informations-Manager in heiligen Hallen

In Bibliotheken entstehen neue Berufe zwischen IT und Geisteswissenschaft

08.09.2000
Ganz ist das Bild von weltvergessenen Bücherwürmern und Ärmelschoner tragenden Aktenstöberern noch nicht verblasst: Doch Fachkräfte in Bibliotheken und Archiven kommen längst nicht mehr ohne Computer aus. "Informationsdienstleistungen" heißt mittlerweile ihr Produkt. Das verändert den Beruf und schafft neue Arbeitsfelder für IT-Spezialisten. Von Helga Ballauf*

Sondersammelstelle, Magazin, Bibliotheksinspektoranwärterin - Begriffe aus der alten Welt der Folianten und ihrer akribischen Verwalter. Informations-Manager, virtuelle Fachbibliothek, retrospektive Digitalisierung - neue Bezeichnungen, die auf den Trendwechsel in der Arbeit von Bibliothekaren, Archivaren und Dokumentaren verweisen. Die Informationstechnologie revolutioniert das Beschäftigungsfeld in doppelter Hinsicht: Bei den klassischen Aufgaben des Metiers - Beschaffen, Erfassen, Erschließen, Archivieren und Vermitteln von Informationen - ist der Rechner als Arbeitsmittel unverzichtbar geworden. Neu hinzu kommt der Umgang mit IT-basierten Medien wie CD-ROM und Internet-Datei.

"Wir stehen vor einem Mentalitätswandel", beschreibt Marianne Dörr, Leiterin der Abteilung Digitale Bibliothek in der Bayerischen Staatsbibliothek, die Herausforderung für die Zunft. Das heißt: Die Trennung der Aufgabengebiete von Bibliothekaren, Archivaren und Dokumentaren wird undeutlicher. Im Zeichen des elektronischen Publizierens mit Hyperlinks, laufenden Aktualisierungen und der Verbindung von Text-, Bild- und Tonelementen verliert die klassische Vorstellung von einem abgeschlossenen Werk seine Konturen. Angesichts der Flut ständig neuer Publikationen "müssen sich die Bibliothekare wohl vom Ziel verabschieden, auch künftig alles wissenschaftlich Relevante vollständig zu sammeln", vermutet Dörr.

Es gibt jedoch durchaus fruchtbare Verbindungen von Tradition und Moderne. Beispiel dafür ist der "Server für die Frühe Neuzeit" (www.sfn.uni-muenchen.de). In Zusammenarbeit von Universität und Staatsbibliothek ist ein Fachinformationsdienst entstanden, der ständig aktualisierte Listen über verfügbare Bücher und einschlägige Forschungsprojekte sowie ein Online-Rezensionsjournal bietet. Wer sich zum Beispiel für die Hexenforschung interessiert, kann wertvolle mittelalterliche Schriftstücke und Zeichnungen in digitalisierter Form zu Hause am Bildschirm studieren.

Der Server ist ein Prototyp für das Informations-Management wissenschaftlicher Bibliotheken im 21. Jahrhundert. Er macht deutlich, welchen neuen Aufgaben und Qualifikationsanforderungen sich die Fachkräfte stellen müssen. Es geht dabei vor allem um die nutzerorientierte Aufbereitung und Vermittlung des Dokumentationsbestands, um die direkte Kooperation mit Forschern und Wissenschaftlern und um vertiefte Kenntnisse über die Möglichkeiten von Rechnern und Netzwerken. Die retrospektive Digitalisierung alter Grundlagenliteratur ist nur eine der Anwendungen.

Wenn das CD-ROM-Laufwerk ausgemustert wird

In den USA gibt es bereits das Berufsprofil des "Systemlibrarian", berichtet Dörr, bei dessen Tätigkeit nicht mehr die inhaltliche Erschließung von Publikationen im Mittelpunkt steht, sondern deren systematische Strukturierung mit Hilfe der IT. Eine wichtige Schnittstelle für die Arbeit von Soft- und Hardwarespezialisten einerseits und Dokumentationsexperten andererseits ist das Archivwesen. Egal, ob es um die Produkte des Electronic Publishing geht oder um digital verfügbare alte Bestände - folgende Fragen sind von hoher Brisanz: Wie haltbar sind die Speichermedien, und wann muss zur Rettung der Informationen umkopiert werden? Und wie lässt sich vermeiden, dass etwa eine CD-ROM nicht mehr gelesen werden kann, weil das passende Laufwerk längst ausgemustert wurde? Lösungen werden derzeit in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt gesucht.

Da es kaum praktikabel ist, dass jede Bibliothek ein "Hardwaremuseum" einrichtet, so Marianne Dörr, kommen vor allem zwei Wege in Frage: die Migration, also die Übertragung der Dokumente in die jeweils neueste Systemgeneration, und die Emulation, bei der die alte Hardware auf dem neuen Rechner nachgebildet wird. Die Migration ist zeit- und kostenintensiv; die Entwicklung der Emulation steckt noch in den Kinderschuhen. Künftig werden wohl beide Verfahren nebeneinander bestehen.

Nur große Bibliotheken mit angeschlossenen Rechenzentren werden sich eigenes Fachpersonal für diese ständige Pflege des Datenbestands leisten können, glaubt Dörr: "Daneben werden sich am Markt eigene IT-Dienstleister für diesen Bereich etablieren." Mussten Bibliothekare und Archivare früher ein Auge darauf haben, dass der Papierfraß nicht wertvolle alte Schriften zerstört, benötigen sie in Zukunft ein ausgeklügeltes logistisches System zur Rettung des digitalen Bestands vor dem Verfall. Elektronische Publikationen stellen die Informations-Manager beim Sammeln und Erschließen vor neue Aufgaben. Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt ist gerade dabei, mit Verlagen, die elektronische Zeitschriften herausbringen, die regelmäßige und lückenlose "Ablieferung" der Veröffentlichungen zu regeln.

Brisant ist die Frage, ob sich bei Online-Produkten die Kategorie "abgeschlossenes Werk" noch halten lässt. Gehören Hyperlinks dazu? Welche Version eines wissenschaftlichen Aufsatzes im Internet sollen Bibliothekare archivieren? Welches Dokument in der schier unendlichen Datenflut des Netzes ist für die Nachwelt erhaltenswert? Die Suche nach neuen professionellen Kriterien des Selektierens und Archivierens läuft international - und übers Web. Dörr berichtet: "Aus Australien und Kanada liegen allererste Eckpunkte vor. Wir brauchen noch viel Zeit für die Diskussion."

Alles ist im Fluss.

Das "Berufsbild 2000" für Bibliothekare, das die Berufsverbände vor zwei Jahren veröffentlichten, gibt konsequenterweise nur einen Rahmen vor. Dieser prognostiziert, dass die Aufgabenfelder im Medien- und Informationsbereich zusammenwachsen. Kunden- und Serviceorientierung stehen im Mittelpunkt der Tätigkeit; der öffentliche Zugang zu Informationen und Wissen erfolgt zunehmend on demand und online. Die Fachkräfte schaffen durch medienübergreifende und integrierte Informationserschließung einen "informationellen Mehrwert".

Digitale Bibliothek verbindet Kultur und Technik

In der Praxis haben einige Fachhochschulen ihr Studienangebot für das Informations- und Dokumentationswesen bereits aktualisiert (Übersicht unter: http://www.dgd.de). Seit kurzem gibt es außerdem die Möglichkeit, sich in einer dreijährigen betrieblichen Ausbildung zu Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste zu qualifizieren. Dörrs Mitarbeiter in der Digitalen Bibliothek sind größtenteils "Zwitter", wie sie sagt. "Geisteswissenschaftler mit informationstechnischem Know-how." Ein Beispiel dafür, wohin in der gesamten Branche die Reise geht.

Als Arbeitgeber kommen längst nicht mehr nur öffentliche Bibliotheken und Archive in Frage, sondern zunehmend auch die Privatwirtschaft. Selbst Anbieter von Web-Katalogen und Suchmaschinen brauchen inzwischen fundiert ausgebildete Spezialisten für die Informationserschließung. Langsam ändert sich auch das Bild der Bewerber, die sich für das Arbeitsfeld interessieren, berichtet Dörr: "Galt die Bibliothek früher als Rückzugsort, so ist der Publikumskontakt für uns heute das A und O. Das gefällt den jungen Kollegen. Für viele von ihnen ist auch die Anforderung reizvoll, Technik und Kulturgüter zu verbinden."

*Helga Ballauf ist freie Journalistin in München.