GI-Präsident Heinrich Mayr im CW-Gespräch

"Im Grunde herrscht Vollbeschäftigung"

30.05.2003
Die IT-Industrie wünscht sich, dass Informatikstudenten stärker auf bestimmte Berufsbilder hin ausgebildet werden und weniger als Generalisten die Unis verlassen. Nach Ansicht von Heinrich Mayr muss es jedoch vorrangig darum gehen, Absolventen auf ein langes Arbeitsleben vorzubereiten. Mit dem GI-Präsidenten sprach CW-Redakteurin Ingrid Weidner.

CW: Der IT-Arbeitsmarkt ist am Boden. Zur CeBIT haben Sie aber junge Menschen noch ermutigt, Informatik zu studieren. Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

Mayr: Seit Informatik Ende der 60er Jahre zur eigenständigen Disziplin wurde, gab es am Arbeitsmarkt immer ein Auf und Ab. Die strukturelle Arbeitslosigkeit von Informatikern liegt bei zwei bis drei Prozent, es herrscht im Grunde Vollbeschäftigung. Schätzungsweise gibt es pro Jahr 12000 Arbeitsplätze für Absolventen, demgegenüber schließen jährlich nur zirka 6000 ihr Studium ab. Die Lücke wird mit Quereinsteigern gefüllt. Eine Kurzsichtigkeit wie Anfang der 90er Jahre, als nach Negativmeldungen und Entlassungen die Zahl der Studienanfänger dramatisch einbrach, dürfen wir uns nicht mehr leisten. Sonst ist die nächste die Katastrophe schon programmiert.

CW: Welche Fähigkeiten benötigt ein Informatiker, und was sollte er im Studium lernen?

Mayr: Abstrahieren, also die Gegebenheiten und Probleme aus unterschiedlichen Anwendungsbereichen erkennen und diese mit Erfahrungswissen kombinieren. Informatiker müssen in Prozessen denken können. Dazu bedarf es einer ganzen Reihe von Grundlagen. Informatik ist eine Querschnitts- und Grundlagendisziplin mit formal-, ingenieur-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Wurzeln. Angehende Informatiker müssen ihre Werkzeuge verstehen, also zum Beispiel Software-, Rechner- und Netzwerktechnik. Dann müssen sie lernen, sich immer wieder auf neue Anwendungsbereiche einzustellen und diese zu verstehen. Ein Studium ohne den permanenten Bezug zu den Anwendungen gibt keinen Sinn, da die Informatik für die Anwendungen lebt.

CW: Die Industrie vermisst den Praxisbezug der Hochschulausbildung. Gibt es Lösungen?

Mayr: Zunächst: Die Universität bildet vor, nicht aus. Die Forderungen der Industrie, die Lehre immer auf die aktuellen Moden auszurichten, sind zu kurzsichtig. Nicht alles, was in ist, hat Bestand. Bewährte Ansätze und die Erfahrungen damit werden zu schnell abgewertet und vergessen, bevor sie in der Breite verstanden worden sind. Damit werden aber auch die alten Fehler immer wieder neu gemacht. Das kann schnell zu Oberflächlichkeit führen. Nicht alles, was nicht neu ist, ist altmodisch, aber da bestehen Ressentiments. Wir gehen zwar auf viele Forderungen ein, können aber nicht alle Grundlagen über Bord werfen.

CW: Wie könnte eine engere Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Wirtschaft aussehen?

Mayr: Die Universitäten müssen sich der Praxis öffnen und Kooperationen mit Unternehmen eingehen. Die Studierenden lernen dann in gemeinsamen Projekten. Grundsätzlich sind Universitäten nicht dazu da, Arbeitskräfte für die Industrie auf einen ganz bestimmten Job hin auszubilden. Wir haben die Aufgabe, Menschen auf ein langes Berufsleben akademisch vorzubilden, die Lernfähigkeit soll ja noch in 30 Jahren gegeben sein. Und das gerade in unserer dynamischen Disziplin. Wenn wir nur auf den momentanen Bedarf hin ausbilden, dann könnten diese Absolventen in zehn bis 15 Jahren die Anforderungen nicht mehr erfüllen und müssten ausgewechselt werden. Eine solche Produktion von Wegwerf-Arbeitskräften fände ich inhuman und unsozial.

CW: Welche Qualifikationen fehlen den Studierenden in ihrer Ausbildung?

Mayr: Der Sprache kommt eine wichtige Rolle in der Ausbildung zu, und damit meine ich nicht nur das Erlernen einer Fremdsprache. Ein Informatiker muss auch das Deutsche richtig beherrschen, die Präzision im Ausdruck ist bei den heutigen Abiturienten nicht besonders ausgeprägt. Wir achten in unseren Lehrveranstaltungen deshalb darauf, dass die Studierenden eine klare und präzise Ausdrucksweise erlernen.

CW: In der Arbeitslosenstatistik tauchen vermehrt IT-Fachkräfte zwischen Mitte 40 und Anfang 50 auf. Sind Informatiker in diesem Alter besonders von Arbeitslosigkeit bedroht?

Mayr: Entscheidend ist, welche Vorbildung diese Menschen haben, ob es so genannte Computerexperten sind oder Programmierer, die sich in einem ganz bestimmten Bereich ausgepowert haben und keine Chance hatten, sich weiterzubilden. Oder ob sie keine Ausbildung haben, die es ihnen ermöglicht, sich schnell in neue Themenfelder einzuarbeiten. Unternehmen müssen das Wissen ihrer Mitarbeiter auf einem bestimmten Niveau halten. Nur dann können diese auch noch mit 55 oder 60 leistungsfähig sein. Es liegt nicht am Alter, dass Leute ausgebrannt sind. Umgekehrt sollten Angestellte wie Unternehmer denken, die Wissen und Leistung anbieten, die es auf einem wettbewerbsfähigen Niveau zu halten gilt. Weiterbildung ist also eine Hol- und Bringschuld.

CW: In der Realität sparen Unternehmen gerade bei der Weiterbildung. Was empfehlen Sie?

Mayr: Viele Unternehmen suchen neue Mitarbeiter, weil die vorhandenen nicht mehr dem Anforderungsprofil entsprechen. Sie verstehen Qualifizierung nicht als strategisches Mittel der Personalentwicklung, sondern als Gratifikation in guten Zeiten. Sobald die Zeiten schlecht werden, wird an der Gratifikation gespart. Die Vorteile scheinen auf der Hand zu liegen: Das Unternehmen verdient doppelt, weil es die Kursgebühren spart und der Mitarbeiter produktiv arbeitet. Doch der Mehrwert, den er erwirtschaftet, wird immer geringer. Dann wird nach neuen Fachkräften gesucht, und man wundert sich, wenn es keine gibt. Das ist eine unakzeptable Entwicklung. Informatiker sollten mindestens jedes zweite Jahr eine Art Wissens-Upgrade erhalten.

CW: Weit über die Hälfte der IT-Angestellten sind Quereinsteiger und besonders von Arbeitslosigkeit betroffen. Fehlen ihnen wichtige Grundlagen für die tägliche Arbeit?

Mayr: Von den 600000 IT-Beschäftigten verfügen zirka 15 Prozent über einen Hochschulabschluss in Informatik, rund 25 Prozent über einen Hochschulabschluss in einem anderen Fach. Ist dieses wirtschaftsnah, haben sie oft einen näheren Bezug zur Anwendung. Graduierte der Mathematik oder Physik haben gute Voraussetzungen, allerdings ist das ein teurer Umweg. Wichtig ist eine abgeschlossene Ausbildung. Wer nachgewiesen hat, ein rundes Curriculum durchlaufen und bewältigt zu haben, hat Vorteile. Das gilt auch für die neuen IT-Berufe, wenn auch die Berufsmöglichkeiten damit eingeschränkt sind. Problematisch ist, wenn Quereinsteiger sich nicht selbst weiterbilden. Deshalb sollten wir Programme entwickeln, die ihnen eine Spezialisierung ermöglichen.

CW: Welche Berufsfelder bieten gute Zukunftschancen?

Mayr: Mit Sicherheit nicht das reine Programmieren, dazu braucht man kein Studium. Es geht um das Softwareengineering, um die Softwaretechnik, um methodisches Planen, Konzipieren, Entwerfen und Konstruieren. Dazu kommen Datenbank- und Netzwerktechnik. Das sind zwar keine neuen Themen, sie werden aber bei zunehmender Vernetzung der Wirtschaft wichtiger. Aber auch im Maschinen- und Fahrzeugbau wächst der Bedarf an integrierten, eingebetteten und vernetzten Systemen. Zu nennen sind weiter die Robotik, Medical und Social Care, E-Business, der Aufbau von digitalen Wertschöpfungsketten, der Lernmarkt, die Gestaltung von Wissens- und Lernwelten und die Biotechnologie. Aber ich glaube nicht, dass man dafür spezifische Studiengänge einrichten sollte. Besser ist es, ein solides Bachelor-Studium in Informatik mit entsprechenden Vertiefungs- und Anwendungsfächern anzubieten und die Spezialisierung in Master-Studien zu ermöglichen.

Zur Person

Heinrich Mayr übernahm im Jahr 2000 das Präsidentenamt der Gesellschaft für Informatik (GI). Der 55-jährige Professor für Angewandte Informatik lehrt seit 1990 in Klagenfurt, Österreich. Seine wissenschaftliche Karriere startete er mit einem Informatikstudium an der Technischen Universität Karlsruhe.