Software-Produktionsumgebungen:

ILLUSIONEN beherrschen die Szene

26.10.1984

Es ist erstaunlich, mit welcher Naivität viele Anwender und sogar einige Softwarehäuser an das Problem der Software-Werkzeuge herangehen Fast immer wird die Schwierigkeit der Aufgabe, eine Software-Produktionsumgebung aufzubauen, maßlos unterschätzt. So wird meistens versucht, mit inadäquaten Mitteln, mangelnder Kompetenz und in einer völlig unzureichenden Zeit die SW-Entwicklungsverfahren eines Unternehmens umzustellen. Da die hochgesteckten Erwartungen in der gegebenen Zeit zu den geplanten Kosten unmöglich erreicht werden können, endet der Sprung nach vorn nicht selten in Enttäuschung und Verbitterung.

In diesem Beitrag, der allen enttäuschten Opfern der Software-Engineering-Forschung gewidmet ist, soll endlich einmal reiner Wein eingeschenkt werden. Wer danach immer noch Illusionen über die Kosten einer neuen Software-Produktionsumgebung pflegt, ist selber schuld und verdient es, irregeführt zu werden.

Erste Illusion: Eine Software-Produktionsumgebung lasse sich mit geringen Kosten realisieren.

Tatsache jedoch ist, daß keine Produktionsumgebung, die den Namen verdient, sich für weniger als 10 Millionen Dollar beziehungsweise 30 Millionen Mark entwickeln läßt. Wer das Gegenteil behauptet, ist entweder ein Lügner oder ein Narr.

Kleine Softwarehäuser ohne adäquate Finanzierungsmöglichkeiten haben auf diesem Gebiet nichts zu suchen. Sie können zwar einzelne Teile einer Produktionsumgebung liefern, schaffen aber damit mehr Probleme als sie lösen, nämlich die Probleme der Integration ihrer Produkte mit den anderen.

Der Anwender muß, um zu seiner Produktionsumgebung zu kommen, mehr für die Integration der Werkzeuge ausgeben als für die Werkzeuge selbst. Nur Hersteller und große Software-Institute sind in der Lage, eine wirklich allumfassende und integrierte Produktionsumgebung zu entwickeln und über viele Jahre hinaus zu warten.

Ebenso können es sich nur die allergrößten Anwender leisten, eine eigene Produktionsumgebung zu entwickeln und dann auch nur in Kooperation mit erfahrenen Softwarehäusern, da das Personal eines Anwenders selten die Erfahrung für solche Großprojekte hat.

Zweite Illusion: Eine Software-Produktionsumgebung lasse sich innerhalb von ein bis zwei Jahren realisieren.

Tatsache ist, daß komplexe Software-Werkzeuge mindestens drei bis fünf Jahre brauchen, um zu reifen. In den Software-Engineering Notes der ACM vom April 1984 beschreibt Bill Riddle die Entwicklungsgeschichte einiger namhafter Software-Produkte, darunter SREM, Unix und Smalltalk. Jedes dieser Produkte hat mehr als acht Jahre gebraucht, um marktreif zu werden und nochmals acht Jahre, um auf dem Markt akzeptiert zu werden. Riddles Artikel heißt: "The magic number 18 plus or minus 3", das heißt, eine Produktionsumgebung braucht zirka 18 Jahre, ehe sie ausgereift ist. Die Entwicklung selbst dauert rund sechs Jahre.

Das können sich Unternehmen wie IBM, Bell Labs, Rank Xerox oder das DOD (Department of Defense) leisten. Die deutschen Softwarehäuser haben dort ihre Probleme. Sie sind zu sehr zersplittert und unterkapitalisiert. Einzelne bescheidene Ansätze, wie sie heute auf dem deutschen Markt zu finden sind, haben gegen die integrierten Systeme der Amerikaner kaum eine Überlebenschance.

Dritte Illusion: Eine Software-Produktionsumgebung lasse sich mit nur wenig Personen (fünf bis zehn) realisieren.

Tatsache ist, daß mindestens 25 Personen erforderlich sind, um alle Teile einer Produktionsumgebung herzustellen und zu pflegen, das heißt mindestens fünf Projektgruppen mit jeweils fünf Personen. Dazu kommt das Verwaltungspersonal.

Wenn ein sogenannter Hersteller einer Produktionsumgebung zugibt daß er nur zehn Mitarbeiter für die Werkzeugentwicklung hat, dann kann man sicher sein, daß er nur ein Teilsystem anbietet. Die anderen Teile wird der Anwender anderswo suchen müssen.

Im deutschen Lande gibt es nur wenig Institutionen, die in der Lage sind, so viele Leute für eine solche Entwicklung vier Jahre lang zu binden, ehe die Entwicklung die ersten Früchte trägt. Hierzulande wird leider in zu kleinen Dimensionen gedacht. Statt an einem Ort den erforderlichen Großkuchen zu backen werden überall die gleichen kleinen Brötchen gebacken. Wenn es um eine integrierte Software-Produktionsumgebung geht, muß "geklotzt"

statt "gekleckert" werden.

Vierte Illusion: Eine Software-Produktionsumgebung lasse sich in kurzer Zeit (ein bis zwei Jahre) einfuhren.

Tatsache ist, daß - auch wenn eine fertige Produktionsumgebung vorliegt - es zwischen zwei und vier Jahren dauert, bis die Entwickler eines Anwenders das neue System akzeptieren.

In seinem Seminar "Einführung neuer Software-Technologien" behauptet der amerikanische Software-Methodenexperte Peter Freeman, amerikanische Unternehmen

brauchten zwei bis drei Jahre, um sich auf neue Software-Produktionsweisen umzustellen. Angesichts der Schwerfähigkeit deutscher Unternehmen kann man leicht ein Jahr dazu addieren.

Es müssen Pilotprojekte ausgeführt, Erfahrungen gesammelt und Mitarbeiter ausgebildet werden. All dies erfordert Zeit und Kosten; mehr, als die meisten Betriebe bereit sind zu investieren. Demzufolge geben sie oft auf, ehe der gewünschte Erfolg einsetzt. Danach wird ein zweiter oder dritter Versuch gestartet mit dem Ergebnis, daß der Betrieb am Ende mehr für die einzelnen gescheiterten Experimente ausgibt, als wenn er beim ersten Versuch ausgeharrt hätte.

Fünfte Illusion: Eine Software-Produktionsumgebung lasse sich vom weniger qualifiziertem Personal bedienen.

Tatsache ist, daß auf jeden Fall höher qualifizierte Leute für eine komplexe Produktionsumgebung gebraucht werden als für die konventionelle Programmierung. Ein Programmierer ist noch lange nicht unbedingt dazu qualifiziert, zu spezifizieren oder zu testen.

Dies trifft übrigens auch für andere Produktionsbereiche zu. Man braucht weniger, aber qualifiziertes und vor allem spezialisiertes Personal. Es ist nicht zu erwarten, daß jemand alles beherrscht. Die in anderen Industriezweigen zunehmende Spezialisierung wird sich auch in der Software-Entwicklung durchsetzen.

Ein Unternehmen, das sich eine neue Software-Produktionsumgebung wünscht, braucht viel Geld, viel Zeit, qualifiziertes Personal und viel Geduld. Denn eine Software-Produktionsumgebung ist für die geistige Arbeit das, was früher die Fabrik für die physische Arbeit war, nämlich eine ungeheure Kapitalinvestition mit weitreichenden Konsequenzen für die Arbeitswelt.

*Harry M. Sneed ist Geschäftsführer der Software Engineering Service GmbH, Neubiberg bei München.