E-Business mit Linux, XML und Java

IBM präsentiert sich als Standardapostel

01.09.2000
Ganz im Tenor der letzten Monate nutzte IBM die diesjährige Entwicklerkonferenz "Solutions" in Las Vegas zu einem Plädoyer für Standards und Open Source. E-Business-Anwendungen brauchen eine einheitliche, herstellerneutrale Basisinfrastruktur, die auf Linux, XML, TCP/IP und Java basiert. Big Blue selbst will in diesem Umfeld mit darauf basierender Software und Services Geld verdienen. CW-Bericht, Sascha Alexander

"Das Schicksal eines typischen Computersystems ist oft dadurch gekennzeichnet, dass die Kosten den Wert der Anwendungen im Laufe der Zeit übersteigen und aus der geforderten einfachen Bedienbarkeit langsam eine immer komplexere, vernetzte und kaum noch wartbare Abhängigkeit mit anderen Systemen wird (Entropy Death)" - mit diesen Worten forderte Simon Phipps, Chief XML und Java Evangelist bei IBM, Ende letzten Jahres in einem Schreiben die Entwicklergemeinde auf, nach Auswegen aus der viel zu engen, weil teuren, unflexiblen und wartungsintensiven Verzahnung heutiger Anwendungen mit ihren Plattformen, mit anderen Systemen und mit Datenhaltungen zu suchen (siehe http://www-4.ibm.com/software/developer/library/parallel/index.html).

Der Weg aus diesem Dilemma besteht seiner Ansicht nach darin, "Daten von ihrer darunterliegenden Softwareplattform zu lösen und mit Hilfe von Standards die Implementierung und Upgrades, so weit es irgend geht, zu erleichtern". Viele der Veränderungen in der Softwareindustrie in den vergangenen zehn Jahren, so Phipps, hätten mit einer Wiederentdeckung und technischen Umsetzung dieser grundlegenden Forderungen zu tun gehabt. Die Basistechnologien und Standards, die sich dabei abzeichnen beziehungsweise durchgesetzt haben, sind TCP/IP, Stateless Client-Server-Computing, Java, XML und sein Vokabular sowie eine Public-Key-Infrastruktur.

Big Blue geht mittlerweile noch einen Schritt weiter und fordert lautstark, dass auch Betriebssysteme Teil einer offenen, standardisierten Infrastruktur für das E-Business und die Internet-orientierte Softwareentwicklung sein müssen. Vergessen ist die Zeit vor den Unix-Kriegen, als schon einmal die Hoffnung auf ein einheitliches Unix bestand. Künftig soll Linux die Plattform sein, die einerseits NT und Solaris aus dem Web verdrängt und andererseits die eigenen S/390-, RS/6000- und AS/400-Systeme und ihre proprietären Betriebssysteme ins Web-Zeitalter führt. Gebetsmühlenartig wurde dann auch auf der diesjährigen Entwicklerkonferenz den rund 4500 Teilnehmern seitens des IBM-Managements immer wieder klar gemacht, dass sich der Hersteller künftig auf breiter Basis und den finanziellen Mitteln eines Branchenriesen für Open Source und die genannten Standards bei der Softwareentwicklung einsetzen will.

Doch mit der derzeit von vielen Herstellern propagierten Linux-Unterstützung ist für Big Blue das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Vielmehr möchte das Unternehmen sich zum Vorreiter der Open-Source-Bewegung machen, indem es sich einerseits beispielsweise an den diversen Aktivitäten der Apache-Group, dem Gnome-Projekt und XML-Standardisierungsinitiativen beteiligt und andererseits der Entwicklergemeinde eigene Produkte wie das Linux- oder das Soap-Toolkit zugänglich macht.

Ferner kündigte IBM an, den Code von rund 100 Druckertreibern freizugeben sowie seine neuesten Softwareentwicklungen, die auf der Alphaworks-Seite (www.alphaworks.ibm.com) vorgestellt werden, an Interessenten gegen eine Gebühr von 1000 Dollar zu lizenzieren. Für denkbar hält es der Hersteller auch, zu einem noch nicht näher genannten Zeitpunkt, den Quellcode der Standard-Edition seines Javabasierten Applikations-Servers "Websphere" freizugeben. Als Erweiterung des Open-Source-Web-Servers "Apache" könnte die Engine genutzt werden, um Anwendungen unabhängig vom darunterliegenden Betriebssystem eine Laufzeitumgebung und Services zu bieten. Würde IBM Websphere tatsächlich der Open-Source-Gemeinde übergeben, brächte dies laut Marktbeobachtern das Geschäftsmodell vieler der rund 40 App-Server-Anbieter erheblich in Gefahr.

Das so sinnfällige Engagement für Standards und Open Source darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass IBMs Strategie auch eine Reihe technischer und strategischer Fragen aufwirft. So ist derzeit kaum zu überblicken, inwieweit die bisherigen als auch die zahlreichen neuen Produkte, die insbesondere im Rahmen der "Websphere-Plattform" vorgestellt wurden, schon heute miteinander integriert sind. Irving Wladawsky-Berger, Vice President Technology and Strategy der Enterprise Systems Group, erklärte in Las Vegas, dass es beispielsweise noch keine Linux-Unterstützung für Cics, "Websphere Enterprise Edition", "Numa Q" und für das vor kurzem angekündigte Monterey-Derivat "AIX5L" gebe. Auch bedeute ein Linux-Support je nach Szenario etwas anderes: zum einen eine native Integration mit der eigenen Hard- und Software, zum anderen einen "pragmatischeren Ansatz" , der Linux-Interfaces für proprietäre Systeme wie AIX und Numa Q vorsehe, und drittens die Einbindung von Linux über Partitionen, wie dies für S/390-Rechner kürzlich vorgestellt wurde.

Eine weitere Frage ist, wie Big Blue die Zukunft seiner vielen Betriebssysteme und Middleware als Anwendungs- und Entwicklungsplattformen sieht. "Wie sich Software weiterentwickelt, ist schwer einzuschätzen. Deshalb haben wir die Investitionen in unsere eigenen, proprietären Produkte bisher nicht verringert", weicht Wladawski-Berger aus. Linux helfe als "Enabling Layer", die Softwareentwicklung und Anwendungsintegration zu vereinfachen und bringe die Industrie zusammen. "Darauf aufsetzend bleibt viel Raum für Produkte von Firmen wie IBM, um Geld zu verdienen. Sie bringen einen einmaligen Mehrwert für den Kunden und brauchen nicht Open Source zu sein." Er erwarte allerdings, dass mit der Zeit immer mehr Anwendungsteile Open Source werden.

Im Gespräch mit der CW versuchte auch Scott Hebner, Director E-Business Technology Marketing, Befürchtungen zu zerstreuen, dass Linux den anderen 35 IBM-Betriebssystemen den Rang ablaufen könnte: "Das Allerletzte, was unsere Kunden brauchen, ist noch ein weiteres Betriebssystem. Wir glauben aber, dass das Internet der Beginn einer industrieweiten Standardisierung einer offenen Infrastruktur ist. Linux ist darin ein Bestandteil." Big Blues Strategie sei es kurz gesagt, "zur ersten Wahl bei Middleware für Linux zu werden sowie mit Schulungen und Ausbildungen Geld zu verdienen".

Ein interessantes Anwendungsszenario sieht Wladawski-Berger beispielsweise in der "Multi-Image-Facility" für S/390-Rechner, die es ermögliche "Tausende von Linux-Images" auf einer Maschine laufen zu lassen. Sehr gute Aussichten hätten auch die neuen "Solutions Series for Linux Clusters" für Netfinity-Server: "Ich glaube, dass die Möglichkeit, Linux-Images auf dem Server zu clustern, eine sehr beliebte Methode sein wird, wie Web-Anwendungen künftig genutzt werden."

Auf der Konferenz versuchte IBM zugleich Befürchtungen zu begegnen, die Anstrengungen bei der Produktintegration und vor allem die Kontaktaufnahme zur Open-Source-Gemeinde könnten in einen Alleingang bei der Softwareentwicklung münden. Bob Timpson, zuständig für Solution Developer Marketing, räumte ein, dass IBM bisher kein besonders gutes Marketing für Entwickler gemacht habe, aber es sei klar, dass "ISVs die Architektur der IT-Welt bestimmen". IBM wolle auch künftig auf Partner setzen und allein in diesem Jahr rund 600 Millionen Dollar in Serviceprogramme für Entwickler investieren.

Bezüglich der Zukunft von Java und des Verhältnisses zu Sun, hielten sich die Sprecher auf der Konferenz merklich zurück. Dennoch gewinnt IBMs Haltung gegenüber dem umstrittenen Standardisierungsverfahren Java Community Process an Schärfe. "Wir sind fest davon überzeugt, dass Java ein offener Standard werden muss. Sun hatte 1999 der Entwicklergemeinde versprochen, Java einem entsprechenden Gremium zu übergeben, aber dies bisher nicht getan", beschwert sich Hebner. Seiner Ansicht nach wird die Open-Source-Bewegung früher oder später auch Java erfassen. Dadurch würden viele der noch vorhandenen technischen und qualitativen Probleme verschwinden.

Microsofts geplante C++-Variante C#, die von manchen Analysten als Java-Pendant gehandelt wird, spielt hingegen keine Rolle: "Wir müssen unseren Kunden nicht noch eine proprietäre Technologie anbieten. Sollte es aber je ein populärer offener Standard werden, dann würden wir es unterstützen."

Allerdings muss IBM in puncto Produktstratgie künftig einen flexibleren Ansatz fahren. Bestes Beispiel hierfür ist die zu Jahresbeginn vorgestellte Websphere-Softwareplattform, die diverse neue und alte Infrastruktur-Produkte und -Dienste zusammenführt. Marktbeobachter vermuten, dass IBMs Ankündigung der Websphere-Plattform auch im Zusammenhang mit der etwa zeitgleich von Microsoft vorgestellten ".Net-Strategie" steht, die ebenfalls auf die Schaffung einer Web-orientierten Servicelandschaft ausgerichtet ist.

Der gleichnamige App-Server, der ursprünglich als Entwicklungsplattform und Laufzeitumgebung für Java-basierte Web-Anwendungen konzipiert war, fungiert in dieser Plattform zwar auch künftig als Hub für die Integration von Backend-Systemen mit dem Frontend. Doch damit ist es heute nicht mehr getan. Laut Valerie Olague, Director of Websphere Software Platform Marketing bei IBM, verlangen Kunden mittlerweile weitere Funktionen, mit denen sich beispielsweise B-to-B-Anwendungen aufbauen lassen. Jetzt gehe es um transaktionsorientierte Geschäftsanwendungen, die integriert werden müssten. Websphere avanciere deshalb zu einer stärker lösungsorientierten Middleware, erklärt die Managerin. IBM und insbesondere ihr ärgster Wettbewerber, BEA Systems, haben zu diesem Zweck mittlerweile ihre App-Server durch Dienste wie Portale, Personalisierung oder Workflow sowie vorgefertigte Anwendungsbausteine in Form von Enterprise Javabeans erweitert oder solche Services angekündigt. Zugleich räumt sie ein, dass sowohl die Integration zwischen den Produkten und dem Applikations-Server noch enger werden muss als auch eine stärkere Aufteilung in Komponenten notwendig ist, um flexibler Anwendungsbausteine etwa für ASPs anbieten zu können.

Dass eine Kopplung von Websphere nur schrittweise erfolgt, zeigt das Beispiel Domino-Integration. Laut Olague sei es der Wunsch der Domino-Entwicklergemeinde gewesen, aus der proprietären Umgebung auszubrechen, um künftig auch mit Java, EJB, Servlets Transaktionen anstoßen zu können. Websphere-Kunden ihrerseits erhielten kollaborativen Support. "Würde Lotus versuchen, diese Funktionen in Domino zu entwickeln, müsste die Websphere-Runtime noch einmal erschaffen werden", sagt Olague.

Technisch erfolgt der Zugriff einer Websphere-Anwendung auf Domino bisher über das Plugin für Domino 5, "Go Webserver API" (GWAPI) . Erst mit Websphere 3.02 kann der Groupware-Server alternativ über das "Domino Server API" (DSAPI) angesprochen werden (Informationen unter http://www.developer.ibm.com/devcon/mag.htm). Letzteres ermöglicht in Anlehnung an das "Internet Server Application Programming Interface" (ISAPI) für Microsofts "Internet Information Server" die Implementierung von eigenen Authentifizierungsmechanismen, die Übersetzung von Namen, die Modifikation des Logging und der Fehlerbehandlung, die Filterung der Eingangsdaten sowie die HTML-Ausgabe.

Wie zentral der Erfolg von Websphere für IBMs Java- und E-Business-Strategie ist, zeigt sich in den Ankündigungen und Aktivitäten der letzten Monate. So sollen in den nächsten Jahren Millionen von Dollar in Forschung und Support für Middleware-Technologie fließen. Im Juli legten die Marketiers ferner ein Entwicklerprogramm auf, das die Zahl der Websphere-Programmierer bis Ende 2000 auf rund fünf Millionen ansteigen lassen soll.

Zu den interessanten Vorhaben rund um die Websphere-Plattform gehört die Nutzung der unter Federführung von AT&T, IBM, Lucent und Motorola entwickelten Voice-XML-Spezifikation. Diese soll in Zukunft als Grundlage eines Standards für die sprachgesteuerte Internet-Nutzung dienen und liegt seit März dem World Wide Web Consortium (W3C) zur Empfehlung vor. Ein erstes Toolkit ist Teil des angekündigten Release 3.5 von Websphere. Ein anderes lukratives Gebiet, auf dem IBM derzeit intensiv arbeitet, umschreibt der Hersteller mit "Transcoding". Hierunter fällt beispielsweise die Übertragung von Daten mit Hilfe des Wireless Access Protocol (WAP). Mit der "Websphere Everyplace Suite" steht ein erstes Release einer entsprechenden Messaging-Plattform zur Verwaltung, Umwandlung, Zustellung und Verschlüsselung von Daten und Content für diverse Ausgabegeräte bereit. Version 1.1 für AIX und Solaris soll im dritten Quartal ausgeliefert werden.

Ankündigungen

Patterns for E-Business

Unter www.ibm.com/framework/patterns hat Big Blue Informationen und Downloads für das Design von E-Business-Anwendungen mit Hilfe von Patterns zusammengestellt. Die ersten sechs solcher Muster betreffen die Einsatzgebiete User-to-Business, User-to-Online-Buying, Business-to-Business, User-to-User, User-to-Data sowie Application Integration.

Projekte mit Linux und Open Source

Seit August bietet IBM den Open Source Server (OSS) for Linux. Das Repository stellt Quellcode für das Betriebssystem zusammen, der von Big Blue und seinen Partnern entwickelt wurde. Es sind derzeit neun Projekte auf der Site, darunter der Apache Web-Server sowie das Concurrent Version System (CVS), das der Versionskontrolle und der Verwaltung von Quellcode dient. Ferner das Bug-Tracking-Tool "Jitterbug" sowie "Majordomo", ein Werkzeug, mit dem sich Mailing-Listen im Internet organisieren lassen. Näheres unter http://service2.boulder.ibm.com/devcon/news0600/art10.htm

Informationen rund um Websphere

Innerhalb seiner Entwicklerplattform Developerworks hat Big Blue die Websphere Developer Domain eröffnet. Unter http://www7b.boulder.ibm.com/wsdd/wsddoverview.html finden sich dort Downloads, Tutorials, Tipps, technische Artikel sowie allgemeine Informationen für Benutzer des Applikations-Servers und seiner Programmierumgebung.

IBM Extreme Blue

Mit dem Forschungsprogramm "Extreme Blue" erhalten US- Informatikstudenten die Möglichkeit, sich einen Sommer lang an der Entwicklung neuer Open-Source-Anwendungen und Mobilfunktechnologie zu beteiligen. Zu den Projekten gehört das Werkzeug für den Linux-Desktop "Sash Weblications for Linux", das System-Management von verteilten Linux-Servern sowie die "Tspaces"-Technologie. Letztere ist eine Middleware, die die Kommunikation zwischen Anwendungen und Ausgabegeräten ermöglicht (http://www.almaden.ibm.com/cs/Tspaces).

Kooperation mit Rational Software

Die Kooperation mit Rational Software wird ausgebaut. Nachdem im Juni eine XML Metadata Interchange Bridge für den Datenaustausch zwischen IBMs Entwicklungsumgebung "Visual Age for Java" und dem Modellierungswerkzeug "Rational Rose" vorgestellt wurde, soll Websphere künftig auch die OO-Methode "Rational Unified Process" unterstützen und die benötigte Dokumentation mitliefern.

Java-Benutzer

Eine Ad-hoc-Umfrage unter den rund 4500 Konferenzteilnehmern ergab:

-48 Prozent haben Server-seitig Java produktiv im Einsatz, 17 Prozent befinden sich in der Planungsphase, und zwölf Prozent wollen die Technologie in Zukunft nutzen.

-24 Prozent nutzen Enterprise Javabeans, und 24 Prozent wollen die Technologie in Zukunft einsetzen.

-37 Prozent der Anwesenden verwenden einen Websphere-Server, und weitere 21 Prozent planen dies.

Abb: Middleware und Services rund um Websphere sollen die Infrastruktur für das E-Business entstehen lassen. Quelle: IBM