Programmprodukte als Implementierungen der Protokollschichten 1 bis 5:

IBM fährt auf der SNA- und der OSI-Schiene

09.01.1987

Das Thema "Offene Systeme" ist für die IBM seit einiger Zeit kein Reizthema mehr. Der Marktführer engagiert sich in allen Gremien, die sich mit der OSI-Normung beschäftigen und hat auch bereits erste Produkte entwickelt, hebt aber gleichwohl den Vorsprung seiner eigenen Kommunikation-Architektur SNA hervor. Otto Bernd Kirchner faßt die Position der IBM zusammen.

SNA ist eine von IBM im Jahr 1974 angekündigte Architektur, nach der seit diesem Zeitpunkt lBM-Hard- und Softwareprodukte für die Datenkommunikation entwickelt werden. SNA hat die Aufgabe, die technischen Voraussetzungen von Kommunikationsbedürfnissen innerhalb von IBM-Informationssystemen zu erfüllen. Zum damaligen Zeitpunkt war von Kommunikation unterschiedlicher Rechner keine Rede.

Sowohl OSI als auch SNA beschreiben die Funktionen und Parameter des Kommunikationsprozesses zwischen Systemen und Endbenutzern. Die beiden Architekturen, das heißt ihre Dienste, ihre Protokolle, und besonders ihre Zielsetzungen, weichen jedoch voneinander ab.

SNA ist der Rahmen für ein zusammenhängendes, homogenes Produktangebot, das auf hohe Leistung und Zuverlässigkeit für die Kommunikation zwischen IBM-Systemen orientiert ist.

OSI dagegen bildet den Rahmen für die Normung von KommunikationsprotokoIlen und -diensten zwischen unterschiedlichen Systemen ohne in deren Architektur einzugreifen. Das besondere Bestreben von OSI ist es, von herstellerspezifischen Geräten, Systemen und Architekturen unabhängig zu sein, das heißt, OSI ist auf Verträglichkeit unterschiedlicher Architekturen ausgerichtet.

Wegen dieses grundsätzlichen Unterschiedes geht SNA naturgemäß hinsichtlich der Management- und Steuerungsfunktionen ganz erheblich über OSI hinaus und beinhaltet

Funktionen für die Verwaltung von System-Ressourcen, für die Netzverwaltung, für Problembestimmung, Fehlermeldungen, Verschlüsselung von Daten, Durchführung von Netzwerktests und so weiter.

Ein derartig umfassendes leistungsorientiertes Netzwerkmanagement setzt Hard- und Softwareprodukte, die wie bei SNA nach einer einheitlichen Architektur entwickelt werden, voraus.

Natürlich besteht auch die Möglichkeit, daß ein Hersteller für seine Kommunikationsarchitektur das OSI-Schichtenmodell und damit die entsprechenden Normen zugrundelegt. In diesem Fall hat er jedoch zusätzlich Netzwerkmanagement- und

-steuerungsfunktionen selbst zu definieren und entsprechende Produkte zu entwickeln, um ein leistungsfähiges und zuverlässiges Kommunikationssystem zu erhalten.

IBM hat sich auch im Interesse seiner Kunden dafür entschieden, für Kommunikationsprodukte SNA als Architektur auch weiterhin zugrunde zu legen und die OSI-Standards als Basis für Produkte zu wählen, die der Kommunikation mit anderen Systemarchitekturen in offenen Netzen dienen.

Praktische Erfahrungen durch Pilotvorhaben

Seit Ende der siebziger Jahre arbeitet die IBM aktiv und engagiert in den OSI-Normungsgremien mit und entwickelt OSl-Produkte. Bereits vor einem Jahr hat die IBM als eines der ersten Unternehmen ein OSI-Programmprodukt der Ebenen 4 und 5 auf den Markt gebracht.

Praktische Erfahrungen werden mit Pilotprojekten gewonnen, aus der Vielzahl der IBM-Beteiligung sollen nur einige herausgegriffen werden:

* DFN (Deutsches Forschungsnetz)

Verbundnetz deutscher Forschungsinstitute, Universitäten und Hochschulen. Schon auf der CeBIT wurde das Message-Handling-Switching unterschiedlicher Hersteller demonstriert.

* MAP (Manufacturing Automation Protocol)

Projekt für die Fertigungssteuerung unter der Federführung von General Motors.

* Comtex (X.400-Projekt der Schweizer Post)

Die X.400-Implementierungen von 16 Herstellern werden bezüglich Protokollverhalten und Zusammenarbeit getestet.

Ein weiterer konstruktiver Beitrag für den praxisgerechten Einsatz von OSI-Protokollen ist der "OSI Verification Service" des internationalen OSI-Beratungszentrums in La Gaude. Im Rahmen dieses (kostenlosen) Dienstes wird die protokollgerechte Zusammenarbeit unterschiedlicher OSI-Protokollimplementierungen (verschiedene Hersteller) geprüft.

Die Summe der Erfahrungen mit diesen OSI-Projekten finden zum Beispiel ihren Niederschlag in der Entwicklung von OSI-Produkten der IBM.

Die IBM bietet in Deutschland folgende Programmprodukte als Implementierung der OSI-Protokolle Schichten 1 bis 5 an (Stand Dezember 1986):

* OSI-Schichten 1 bis 3

- X.25 NCP Packet Switching Interface (NPSI). X.25 Network Control Program (NCP) Packet Switching Interface ermöglicht ACF/NCP-Benutzern den Anschluß der Communication-Controller IBM 3705/3725/3720 an X.25-Netze, welche Schnittstellen konform der CCITT-Empfehlung X.25 (Version 1980 oder 1984) bereitstellen. Eine spezielle Funktion des NPSI für Steuerung von Switched Virtual Circuits (SVCs) ist der "General Access to X.25 Transport Extension". Mit "Gate" wird die Steuerung der SVCs von NPSI in ein Host-Programm ("CTCP") verlagert; die Protokoll-Umsetzung verbleibt im NPSI.

- X.25/HDLC Communications Support (XHCS) ist die X.25-Unterstützung auf IBM-Serie/1 (Betriebssysteme RPS und EDX).

- Open Systems Network Support (OSNS). Zusammen mit X.25 NPSI stellt OSNS die Dienstleistungen der OSI-Schicht 3 bereit, mit Ausnahme von N-DATA confirmation-request und von N-DATA acknowledge. OSNS steuert alle SVCs zu X.25 DTEs, die zu ein oder mehreren physischen X.25-Anschlüssen gehören, unter Anwendung von Gate (OSNS ist ein CTCP für Gate; siehe NPSI). Mehrere OSNS-Benutzer können parallel bedient werden. OSNS wird zusammen mit seinen Benutzerprogrammen in einem MVS-Adreßraum ausgeführt.

* OSI-Schichten 4 und 5

- Open Systems Transport and Session Support (OTSS). OTSS stellt in Zusammenarbeit mit OSNS Dienstleistungen der OSI-Schichten 4 und 5 in einem Paket bereit.

Für Schicht 4 sind die OSI-Klassen 0 und 2 implementiert. OTSS Schicht 5 unterstützt die Funktionseinheiten Basic Combined Subset (BCS), halbduplex und Basic Synchronized Subset (BSS). OTSS wird, als Benutzerprogramm von OSNS, in dem gleichen Adreßraum als OSNS ausgeführt. Benutzerprogramme von OTSS benutzen ebenfalls diesen Adreßraum.

- General Teleprocessing Monitor for OSI (GTMOSI). GTMOSI erweitert die Unterstützung der OSI-Schicht 5 um folgende Funktionen:

- Basic Activity Subset (BAS),

- full duplex.

Außerdem können die Service-Primitive der Schicht 5 durch GTMOSI in einen anderen Adreßraum transportiert werden. Dadurch ist jetzt ein Anwendungsprogramm unter CICS oder IMS imstande, OSI für Kommunikationszwecke einzusetzen.

Für MVS sind damit durchgängige OSI-Implementierungen (Schichten 1 bis 5) mit nur noch einigen unwesentlichen Einschränkungen möglich. Viele Anwendungen können damit bereits auf IBM-Seite in heterogenen Netzen realisiert werden.

Trotz verschiedener intensiver Anstrengungen und einiger Teil-Implementierungen sind umfassende "Offene Systeme" noch Gegenstand von Forschungen, Diskussionen und experimentellen Pilotprojekten.

Bis zur kompletten Einführung von international akzeptierten Normen für alle gewünschten Funktionen des Referenzmodells werden noch einige Jahre verstreichen.

Erst dann wird es möglich sein, Kosten-Nutzen- und Leistungsvergleiche mit entsprechenden Herstellerarchitekturen durchzuführen.

Aber selbst wenn alle sieben Schichten des OSI-Architekturmodells, einschließlich der noch anstehenden System-Management-Fragen, vollständig spezifiziert und implementiert sind, ist damit erst ein Teil von benutzerorientierten Kommunikationsanwendungen und der erforderlichen Kooperation im heterogenen Systemverbund gelöst.

Zukünftige offene Informationssysteme müssen verstärkt die jeweiligen Anwendungen in diese erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten einbeziehen. Das bedeutet, über die technische Kommunikationsfähigkeit der Systeme hinaus, eine strukturierte Ausdehnung auf die Gesichtspunkte der Endbenutzer-Anwendungen. Wenn auch die sieben Schichten des OSI-Architektur-Modells den Eindruck erwecken, ein in sich geschlossenes System zu bilden, so täuscht dieser Eindruck. Oberhalb der Schicht 7 öffnet sich das generell unbegrenzte Gebiet der Endbenutzer-Anwendungen, deren Struktur und Inhalt noch weitgehend der Analyse bedürfen.

Es wird eine gemeinsame Aufgabe von Anwendern und Herstellern sein, für dieses zukunftsorientierte Gebiet praxisgerechte Lösungen zu erarbeiten.

Otto Bernd Kirchner ist Leiter OSI Koordination der IBM Deutschland GmbH in Stuttgart.