Hohe Gesundheitsrisiken in der Chip-Produktion

11.09.1987

Wieder einmal ist die Halbleiter-lndustrie ins Kreuzfeuer der Kritik geraten: Ihr wird vorgeworfen, die Mitarbeiter in der Chip-Produktion hohen Gesundheitsrisiken auszusetzen (siehe CW Nr. 32 vom 7. August 1987, Seite 30, "IG Metall: Chip-Produktion macht krank"). Mit den Vorwürfen des IG-Metallers Karl-Heinz Janzen an Hersteller und Behörden wird sich im Gastkommentar der CW-Nr. 38 (vom 18.9.1987), Karl Birett, Leiter des zentralen Referats Chemische Sicherheit der Siemens AG, auseinandersetzen.

Der Staubgehalt in den "Clean Rooms" ist hundertmal niedriger als in einem modernen Krankenhaus. Und in den "sauberen Räumen" arbeiten Menschen, die in Kopfbedeckung, Kleidung und Handschuhen wie das reinste Operationsteam aussehen. Dabei müssen sie aufpassen daß sie nicht selbst über kurz oder lang als Patienten in einer Klinik landen. Denn in den Clean Rooms der Chip-Produktion geht es gar nicht so sauber zu, wie der Name sagt.

Hunderte zum Teil hochgiftiger Substanzen werden zur Herstellung jener elektronischen Bauteile gebraucht, die unsere Welt verändern. Bor, Phosphor und das krebserregende Arsen, Salpetersäure und Schwefelsäure, Chloride und Fluoride, Epoxydharze, Metalle, Säuren, Laugen, Lösemittel und viele andere Verbindungen sind charakteristisch für die Arbeitswelt in den Halbleiterwerken. Kein Wunder bei dieser illustren Familie gesundheitsgefährdender Chemikalien, daß da die Frage nach dem Arbeitsschutz immer drängender wird. Der Chip wird vor jedem Staubkörnchen geschützt. Wer schützt den Arbeitnehmer vor giftigen Gasen und Dämpfen?

Aus Kalifornien erreichen uns Meldungen über ein erhöhtes Fehlgeburten-Risiko bei in der Halbleiterindustrie tätigen Frauen und ganz allgemein über gehäuftes Auftreten von Erkrankungen in diesem Produktionsbereich. Arbeitsbedingte Erkrankungen sind in dieser Branche dreimal höher als im Durchschnitt der gesamte Industrie. Systembedingte Vergiftungen, die auf den Umgang mit giftigen Substanzen zurückzuführen sind, erreichen in der Chip-Produktion 46,7 Prozent der Berufskrankheiten, bei einem Wert von 21 Prozent für die gesamte Industrie. Die durch diese Vergiftungen verursachten Arbeitszeitverluste liegen in der "sauberen" Branche um siebenmal höher als im Durchschnitt. Registriert werden neben den Vergiftungen Brechreiz, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle, Hautverbrennungen, Verätzungen der Schleimhäute, Augenerkrankungen sowie Infektionen und Strahlenschäden. Diese Gesundheitsgefahren belegen uns amerikanische Untersuchungen. In der Bundesrepublik liegen bislang leider zu wenige Forschungsergebnisse vor. Immerhin diagnostizierte der Erlanger Arbeitsmediziner Professor Helmut Valentin bei dem betroffenen Personenkreis auffallend häufige Störungen der Leberfunktion.

Das alles ist hinreichend Grund zur Beunruhigung, vor allem wenn man daran denkt wie wenig wir über die Langzeitfolgen des Zusammenwirkens obengenannter und anderer Stoffe wissen.

Was ist zu tun? Ich denke, wir müssen zunächst einmal die Informationsbasis verbreitern und absichern. Relevante Daten und Fakten müssen auf den Tisch. Verharmlosung oder gar Verschleierung darf es bei derartigen Gesundheitsrisiken nicht länger geben. Hier sind vorrangig die Arbeitgeber gefordert. Sie sind zu verpflichten, die Gefahren zu ermitteln und abzubauen sowie die Belegschaften regelmäßig über die in den Betrieben eingesetzten Gefahrstoffe zu unterrichten. Gleichzeitig ist die Gesundheitsaufklärung der Mitarbeiter zu verstärken, damit falsche Sicherheitsgefühle abgebaut werden oder solche gar nicht erst aufkommen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, daß es für die Gesundheit keine sicheren Grenzwerte gibt, ganz abgesehen davon, daß nicht für alle der in der Chip-Produktion eingesetzten Stoffe solche Grenzwerte überhaupt vorliegen. Für die Beurteilung der Stoffgemische gibt es bislang nämlich keine Kriterien. Außerdem brauchen wir dringend eine wesentliche Verbesserung der Meß- und Beurteilungskapazitäten. Der Mangel an qualifizierten Fachleuten, die mit entsprechenden Geräten ausgestattet sind, kann nicht länger hingenommen werden.

Auch die Gesundheitsüberwachung der Arbeitnehmer ist zu verbessern. Regelmäßige Untersuchungen des Personals in Verbindung mit einer Zuordnung zu den jeweiligen Arbeitsstoffen schützen nicht nur Leben und Gesundheit, sondern lösen auch leichter die Nachweisprobleme bei Berufskrankheitsverfahren.

Information und Aufklärung ist Sache der Arbeitgeber, der Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte. Allerdings sollten dabei die gewerkschaftlichen Vertrauensleute und die Betriebsräte alle Möglichkeiten nutzen und Initiativen ergreifen, um in den Betrieben Problembewußtsein zu schaffen und die Qualität des Arbeitsschutzes zu erhöhen.

Nachdrücklich appelliere ich auch an die Arbeitsmedizin, sich stärker als bisher mit den Gesundheitsgefahren in der Halbleiterindustrie zu beschäftigen. Es kann doch wohl in einem sozial hochentwickelten Land wie der Bundesrepublik nicht länger angehen, daß eine ganze Branche, eine zukunftsträchtige dazu, unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes nahezu gar nicht existiert. Wir brauchen mehr wissenschaftliche Ergebnisse. So verdienstvoll einige Einzelleistungen auch sind: Die Erforschung der Ursachen arbeitsbedingter Gesundheitsgefährdungen sollte keinesfalls dem Zufall überlassen bleiben. Hier bedarf es einer planmäßigen, umfassenden Forschung, auf deren Grundlage schließlich praxisbezogene Handlungsanleitungen zur Umsetzung der Forschungsergebnisse zu entwickeln sind.

Die Berufsgenossenschaften, die für sich einen hohen Anspruch auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes reklamieren, müßten mehr Forschungsgelder zur Verfügung stellen und entsprechende Schwerpunkte setzen. Sie müßten ihren technischen Aufsichtsdienst ausbauen, damit arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse auch umgesetzt und die Betriebe umfassend beraten und kontrolliert werden.

Bundesregierung und Gesetzgeber sind aufgefordert, vor allem die seit vergangenen Oktober geltende Gefahrstoffverordung zu novellieren. Die Bestimmungen über krebserzeugende Stoffe müßten drastisch verschärft werden. Es ist dringend erforderlich, daß die zuständigen Behörden eine bessere Grundlage erhalten, um die Verwendung gefährlicher Arbeitsstoffe zu verbieten und den Einsatz ungefährlicher Ersatzstoffe vorzuschreiben. Entsprechende Initiativen sind auch auf internationaler Ebene nötig. Deshalb ist die Kritik des Europäischen Gewerkschaftsbundes das EG-Aktionsprogramm "Europa gegen den Krebs" vernachlässige das Thema arbeitsbedingter Krebsrisiken, berechtigt. Im Zuge der wirtschaftlichen Harmonisierung dürfen die sozialen Interessen der Arbeitnehmer nicht vernachlässigt werden.

Das Engagement für einen hohen Arbeitssicherheitsstandard und für einen besseren Arbeitsschutz im nationalen und internationalen Rahmen betrachten die Gewerkschaften als eine zentrale Aufgabe.

Ihre Arbeitsschutzpolitik dient dem Ziel, die Gesundheit und damit die Arbeitskraft der Arbeitnehmer zu erhalten. Und unter dieser Zielsetzung beurteilen sie auch die Planung, Einführung und Anwendung neuer Techniken und die Arbeitsbedingungen in sogenannten neuen Industrien. Die Risiken einer neuen Technik sind bereits in der Planung zu ermitteln. Einführung und Anwendung dürfen nur unter Bewältigung der Risiken erfolgen. Der letzte Gewerkschaftstag der IG Metall stellte fest: "Arbeit darf nicht krank machen!" Ob die Risiken des technischen Wandels überwiegen oder seine Chancen genutzt werden, ist keine Frage technischer Sachzwänge, sondern eine politische Frage. Sorgen wir gemeinsam für eine menschengerechte Gestaltung von Arbeit und Technik. Erhalten wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen und verbessern wir die Arbeits- und Lebensqualität in neuen Industrien wie der Chip-Produktion sowie in allen Bereichen der Wirtschaft!