Nationale Förderprogramme haben der Branche nicht geholfen:

Hoffen auf ein Europa ohne DV-Subventionen

07.10.1988

Die Unterstützung einheimischer Firmen in vielen EG-Staaten hat dazu geführt, daß sich nie ein gesamteuropäischer Computerkonzern entwickeln konnte, der einer IBM halbwegs ebenbürtig wäre. Das Projekt Unidata scheiterte kläglich, Werner Gerdes warnt davor, im Binnenmarkt nach 1992 das Subventionsunwesen weiterzuführen.

Vor dreißig Jahren wurde der Vertrag zur Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterschrieben. Aus den ursprünglich sieben wurden zwölf Mitgliedstaaten mit einem Markt von mehr als 320 Millionen Einwohnern - dem US-amerikanischen Markt durchaus vergleichbar. Die vereinbarte Zollunion (Abschaffung der Binnenzölle, gemeinsamer Außentarif) wurde termingerecht installiert ebenso eine gemeinsame Agrarpolitik. Doch die nationalen Zollbeamten kontrollieren an den Binnengrenzen der "Gemeinschaft" immer noch den Personen- und Warenverkehr, denn es gilt, die Einhaltung der nationalen Steuer- und anderen Vorschriften zu überwachen. Und: Die gemeinsame Agrarpolitik verschlingt zwei Drittel des Gemeinschaftsetats, weil die eben durch diese Politik verursachte Überschußproduktion finanziert werden muß.

Die Zeit einer allgemeinen Europa-Euphorie, in der es zum guten Ton gehörte, Mitglied der Europa-Union zu sein, ist längst vergangen. Heute, nach dreißig Jahren EG, gehört es zum guten Ton, sich über die "Reparaturarbeiten" der Eurokraten zu amüsieren, etwa dann, wenn sie die Abschaffung der Paternoster beschließen. Die EG verkam in dreißig Jahren zu einem Krämerladen, in dem jeder Partner seine eingebrachten Vorteile erhalten wollte. Das ursprüngliche Ziel, einen gemeinsamen und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähigen Binnenmarkt mit einem völlig freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr zu schaffen, geriet über die Egoismen der Mitgliedstaaten völlig in Vergessenheit.

Das gilt auch für den gesamten Bereich der Elektronikindustrie, von der zu Recht behauptet wird, daß sie für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volks- oder Wirtschaftsgemeinschaft entscheidend sein wird. Aber anstatt europäische Elektronikfirmen dem Wettbewerb in einem großen Binnenmarkt auszusetzen, hat man dieselben mit Milliarden national subventioniert und bei öffentlichen Beschaffungen bevorteilt, immer in der unbegründeten Hoffnung, auf einem nationalen Markt könne eine zweite IBM entstehen.

Vor genau zwanzig Jahren warnte Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg, damals noch Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, anläßlich einer Bundestagsdebatte über die "technologische Lücke" vor diesem Irrweg: "Die Untersuchungen über den technologischen Rückstand Europas gegenüber Amerika haben bestätigt, daß die Schwächen der wissenschaftlichen, technischen und industriellen Entwicklung dieses Kontinents weniger auf einen Rückstand in der Forschung, den es sicher auch gibt, als vielmehr auf der Zersplitterung des europäischen Marktes... beruhen. Der notwendige Fortschritt hängt deshalb in hohem Maße davon ab, daß es gelingt, auf der Grundlage eines europäischen Binnenmarktes die notwendigen Rahmenbedingungen für eine hochmoderne Industrie mit starker Aktivität in Forschung und Entwicklung zu schaffen."

Europäer kämpfen gegen US-Übermacht

Das war - wie gesagt - vor zwanzig Jahren; doch Stoltenbergs Warnung wurde ignoriert. Nun aber soll, so hat der Europäische Rat unter der Präsidentschaft des Bundeskanzlers Kohl beschlossen, bis Ende 1992 das verwirklicht werden, was 30 Jahre lang an nationalen Egoismen scheiterte: der europäische Binnenmarkt mit einem völlig freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr. Das bedeutet nicht nur die Angleichung der Steuersysteme und die Harmonisierung der vielfältigen Normen. Das bedeutet auch die Liberalisierung der öffentlichen Beschaffungen. Siemens wird ein gleichwertiger Anbieter in Frankreich und Bull ein gleichwertiger Anbieter in der Bundesrepublik sein. Und IBM, Hewlett-Packard und NCR, deren Konzernzentralen in den USA sitzen, die aber in der EG entwickeln, produzieren und vertreiben? Man darf gespannt sein, ob die EG einen Handelskrieg mit den USA riskiert, um die trotz 20jähriger Milliarden-Subventionierung nach wie vor desolate Situation der heimischen Elektronikindustrie nicht zum Fiasko werden zu lassen.

Die jüngste Datamation-Statistik verdeutlicht, wie wenig nationale Förderungsprogramme geholfen haben, europäische Computerfirmen international wettbewerbsfähig zu machen.

* Die acht größten US-amerikanischen DV-Hersteller erzielen mehr als 50 Prozent ihres Umsatzes außerhalb der USA (Tabelle 1 und Grafik 1). Dagegen begnügen sich die acht größten europäischen Hersteller vornehmlich mit dem ihnen vertrauten Absatzgebiet Europa: Nur 15,2 Prozent ihres DV-Umsatzes wird außerhalb Europas (einschließlich USA) erzielt (Tabelle 2 und Grafik 2).

* Die Siemens AG lobt sich zwar zu Recht als zweitgrößter DV-Anbieter Europas, aber ihr Marktanteil in Europa liegt immer noch unter 10 Prozent. Auf dem Weltmarkt dürfte Siemens die zum Überleben notwendige Marktanteilsgrenze von 4 Prozent noch nicht überschritten haben.

* Es ist zwar - auch mit Hilfe öffentlicher Beschaffungen - gelungen, den Marktanteil der IBM in Europa zu senken, aber die Dominanz der US-amerikanischen Hersteller auf dem europäischen Markt ist mit einem Marktanteil von über 60 Prozent nach wie vor ungebrochen. Und: Immer noch hält die IBM in Europa einen Marktanteil von etwa 40 Prozent.

Die Beherrschung des DV-Marktes durch IBM und andere US-amerikanische Hersteller war vor mehr als zwanzig Jahren der Auslöser für staatliche Förderungsprogramme in der Bundesrepublik, Frankreich und Großbritannien. Allein die Bundesrepublik subventionierte die heimische Computerindustrie von 1967 bis 1987 mit über 4 Milliarden Mark (Grafik 3) direkter Zuwendungen. 80 Prozent der direkten Subventionen flossen an Großfirmen, davon fast 1,9 Milliarden (ist 47,1 Prozent) an den Siemens-Konzern.

Von Europa und einem europäischen Binnenmarkt, der besser als Subventionen auch europäischen DV-Firmen Chancen für einen befriedigenden Marktanteil hätte bieten können, war in den Förderungsprogrammen überhaupt nicht oder nur am Rande die Rede. So hieß es im Zweiten DV-Programm der Bundesregierung (1971-1975): "Schaffung ausgewogener Wettbewerbsverhältnisse auf dem stark expandierenden DV-Markt, wobei auch den DV-Unternehmen mit Basis in der BRD ermöglicht werden soll, einen ihrer Leistungsfähigkeit adäquaten Marktanteil am Binnenmarkt und darüber hinaus in Europa und auf dem Weltmarkt zu erringen."

Im Dritten DV-Programm (1976-1979) war eine ähnliche Zielsetzung zu lesen: "Ziel der Bundesregierung ist daher, daß in der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der Achtziger Jahre eine Datenverarbeitungs-Industrie besteht, die ... aus eigener Kraft lebensfähig und damit von staatlichen Zuwendungen unabhängig ist ... (und) als einflußreicher Partner für eine weltmarkterschließende internationale Zusammenarbeit in Frage kommt."

Hierbei ist allerdings anzumerken, daß es in der Vergangenheit zwei ernsthafte, allerdings völlig untaugliche Versuche gegeben hat, eine europäische DV-Industrie zu etablieren. Der erste Versuch war die Unidata, ein längst vergessener Zusammenschluß von Computeraktivitäten der Siemens AG mit französischen und britischen Aktivitäten. Er scheiterte kläglich, weil kein Partner bereit war, wirkliche Kompetenzen in die Unidata einzubringen und weil zuviel qualifiziertes Personal für die daraus resultierende gegenseitige Überwachung gebunden wurde. Der zweite Versuch kam mit dem Nora-Bericht aus Frankreich. In ihm hieß es, daß die Marktmacht der IBM so bedrohlich sei, daß nur noch eine Regierung als gleichwertiger Partner der IBM auftreten könne. Er scheiterte aus den gleichen Gründen. Geblieben ist der im Nora-Bericht kreiierte Begriff "Telematique".

Anzumerken ist auch, daß die kleinstaatlerische Förderung der DV-Industrien gleichermaßen von der sozialliberalen wie auch von der christlichliberalen Bundesregierung betrieben wurde, obwohl der jetzige Bundesforschungsminister Riesenhuber vor der "Wende" ohne jede Einschränkung erklärt hatte, daß die Förderungsbürokratie nichts vom Markt verstünde und daß staatliche Zuwendungen den Wettbewerb verfälschten. Die Hoffnung trog.

Die vor mehr als zwanzig Jahren geschürte Angst vor der "technologischen Lücke" in der DV-Industrie hat zwei Jahrzehnte lang Milliarden staatlicher Mittel lockergemacht, um die selbstverschuldete Lücke zu beseitigen. Nun wird eine weitaus gefährlichere Lücke propagiert: Die Bedrohung der deutschen Volkswirtschaft durch japanische Chips. Auch diese (wiederum selbstverschuldete) Lücke hat Ängste geweckt und, wie gehabt, staatliche Millionen gekostet. Die Millionen haben nichts bewirkt, wenn man einmal davon absieht, daß die seit zwanzig Jahren fließenden Subventionen offensichtlich alle Hemmungen beseitigt haben: Die betroffene deutsche Industrie fordert vom Forschungsminister 26 Milliarden Mark an Zuwendungen bis zum Jahre 2000, um diese neuerliche Lücke zu füllen. Von Europa keine Rede. Auch nicht davon, daß der Siemens-Konzern diesen Betrag zum größten Teil aus liquiden Mitteln selbst aufbringen könnte. Zuweilen ist das böse Wort vom "Staat als Reparaturbetrieb der Wirtschaft" so abwegig nicht. Man darf nur hoffen, daß das Forschungsministerium die geforderten Zuwendungen nicht aufbringen kann, weil milliardenschwere Raumfahrtprojekte finanziert werden müssen.

Doch zurück zu "Europa '92". Ein völlig freier Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft verlangt nicht nur die Harmonisierung und Liberalisierung der öffentlichen Beschaffungen. Er verlangt auch die Beseitigung der nationalen Subventionspraktiken, denn auch sie verfälschen - wie Forschungsminister Riesenhuber schon 1981 zutreffend sagte - den Wettbewerb. Hoffentlich kommt die Brüsseler EG-Bürokratie nicht auf die Idee, die bisher nationalen Förderungen und Förderungsbürokratien zusammenzufassen und wie gehabt mit höheren Geldbeträgen fortzuführen. So ganz sicher kann man da nicht sein, denn auch Brüssel fördert schon sei Jahren Elektronikprojekte. Warum sollte die Macht der Gewohnheit nicht auch in Brüssel gelten?