Serie Mehrwertdienste: Neuer Faktor der Produktpolitik, Teil 3:

Höhere Effizienz durch Deregulierung

27.05.1988

Aus dem Blickwinkel des Jahres 1987 - also zu Beginn der öffentlichen Diskussionen über eine Liberalisierung des Fernmeldewesens auch in der Bundesrepublik - prognostizierte Carl Christian von Weizsäcker, Wirtschaftswissenschaftler an der Uni Köln, eine Verdopplung des VAN-Marktvolumens weltweit bis 1990 (vergleiche Teil 2 dieser Serie in CW Nr. 21, Seite 18.)

Nur noch anderthalb Jahre trennen uns von dieser Marke: Schrittmacherdienste haben beispielsweise die EG-Kommission geleistet und zahlreiche Standardisierungsgremien weltweit. Jetzt befinden sich die ersten ganz großen Anbieter auch hierzulande in den Startlöchern. Teil 3 dieser Serie von Arnulf Heuermann, Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Instituts für Kommunikationsdienste (WIK) der Deutschen Bundespost in Bad Honnef, befaßt sich mit der Analyse der derzeitigen Struktur des Mehrwertdienste-Marktes.

Das gemeinsame Ziel der weltweiten Deregulierungstendenzen ist letztlich die Erhöhung der Effizienz im Telekommunikationssektor. Durch möglichst umfassende Zulassung von Wettbewerb sollen sich am Markt die Innovationen, Dienste und Anbieter durchsetzen, die den höchsten Nutzen für die Nachfrager erzeugen. Die überwiegende Mehrzahl der Ökonomen ist Beute der Auffassung, daß der Wettbewerb grundsätzlich diese Funktion auch im Telekommunikationssektor erfüllen kann, im Detail jedoch erweist sich, daß der völlig freie Wettbewerb nicht immer zum effizienten Marktergebnis führt. Sowohl die Marktstruktur als auch außerökonomische Ziele erzwingen weiterhin Regulierungsauflagen in weiten Bereichen.

Im Mehrwertdienstbereich haben viele Strukturparameter Gültigkeit, die der theoretischen Konzeption von der Optimalität des freien Wettbewerbs widersprechen.

Größenvorteile beim Angebot von Mehrwertdiensten

Mehrwertdienste müssen auf Telekommunikationsnetze zurückgreifen: entweder in der Form, daß Mietleitungen zwischen eigenen Netzknoten geschaltet werden (zum Beispiel Datev), oder indem Zugänge zu öffentlichen Wählnetzen benutzt werden (zum Beispiel Mailboxen). Im Rahmen der ONP-Regelungen könnten auch noch der Netzzugang über gezielte "open network lines" für Diensteanbieter möglich werden. In allen drei Fällen treten Größenvorteile auf. Sie resultieren aus Fixkostendegressionseffekten, aus dem Einsatz kostengünstiger Techniken bei großen Verkehrsvolumina und aus dem Gesetz der großen Zahl, das die Ursache für eine effektivere Nutzung von Festverbindungen bei größerem Verkehr ist. Bei Diensten mit Preiswettbewerb und geringem Mehrwertanteil kann die Entwicklung der Telekommunikationsstückkosten der dominante Wettbewerbsparameter sein. Größenvorteile in diesen Marktsegmenten werden einen starken Verdrängungswettbewerb nach sich ziehen. Unter dem Gesichtspunkt allokativer Effizienz kann Marktdominanz bis hin zum natürlichen Monopol die optimale Marktstruktur darstellen.

Stückkosten und Erfahrungskurveneffekte

Als Erfahrungskurveneffekt bezeichnet man die empirische Beobachtung, daß im Telekommunikationsbereich (wie auch in anderen Branchen) die Stückkosten bei Zunahme der kumulierten Verkehrsmenge sinken. Eine wesentliche Ursache für diesen Effekt ist die Tatsache, daß das Personal von Unternehmen auf allen Stufen der Diensteproduktion lernt und permanent die Ablauforganisation verbessert wird. Das Pionierunternehmen, das definitionsgemäß die größte kumulierte Menge hat, besitzt daher gegenüber später eintretenden Wettbewerbern mit gleicher Technologie einen Wettbewerbsvorteil in Form niedriger Stückkosten. Nutzt das Unternehmen diesen Wettbewerbsvorteil in Form niedrigerer Preise, was aus Effizienzgründen wünschenswert ist, so führen Erfahrungskurveneffekte ebenfalls zur Marktdominanz oder zu natürlichen Monopolen in einzelnen Marktsegmenten.

Unter Spezialisierungsvorteilen versteht man den Effekt, daß die dezentrale Realisierung einer ökonomischen Aktivität zu niedrigeren Stückkosten erfolgt als bei zentralisierter Organisation. Gerade diese Spezialisierungsvorteile machen die Marktchancen mittelständischer Unternehmen bei der Befriedigung zunehmend differenzierter Kommunükationsbedürfnisse im Mehrwertdienstemarkt aus. Spezialisierungsvorteile scheinen vor allem bei "telekommunikationsfernen" VANS relevant zu sein, also bei solchen Diensten, deren Telekommunikationskostenkomponente gering ist. Empirisch zeigt sich jedoch, daß vor allem die Anbieter klassischer Telekommunikationsdienste und die Anbieter von EDV-Einrichtungen die größeren Umsatzerfolge bei Mehrwertdiensten haben. Ökonomische Ursache dieser Beobachtung sind häufig Verbundvorteile, das Gegenstück zu Spezialisierungsvorteilen. Verbundvorteile treten erstens zwischen verschiedenen Mehrwertdiensten auf, zumeist wegen gemeinsamer Inputnutzung (zum Beispiel Mietleitungen, Datenbanken), zweitens zwischen Mehrwertdiensten und Nicht-Telekommunikationsaktivitäten (zum Beispiel Homebanking und traditionelles Bankgeschäft, Ferndiagnose und EDV-Herstellung etc.) und drittens zwischen klassischen Telekommunikationsdiensten und Mehrwertdiensteangebot (zum Beispiel durch Integration neuer Diensteelemente in die öffentlichen Vermittlungsstellen). Wenn Verbundvorteile zwischen Mehrwertdiensten und anderen Telekommunikationsdiensten bestehen, ist eine Abspaltung dieser Aktivitäten in eigenständige Tochtergesellschaften ineffizient. Klagen über solche Ineffizienzen (zum Beispiel die Unrealisierbarkeit von Voice Mail in öffentlichen Netzen) haben in den USA zur Aufgabe des Prinzips der "structural seperation" für AT&T-Dienste geführt.

ONP-Regelungen sollen Mißbrauch ausschließen

Die wettbewerbspolitische Konsequenz von Verbundvorteilen im Mehrwertdienstemarkt ist die, daß einige Wettbewerber mit Mehrproduktangeboten Vorteile in Form niedriger Kosten haben, die andere Wettbewerber, die nur VANS anbieten, nicht erreichen können. Regulierungsbedürftig ist hier vor allem der Fall, bei dem Verbundvorteile aus Monopolaktivitäten der Post und anderen Diensten entstehen. Die ONP-Regelungen der EG sollten ein Ansatz sein, hier Marktmißbrauch auszuschließen. Volkswirtschaftlich unsinnig jedoch wäre es, aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit die Verbundvorteile des Netzbetreibers zu zerstören und damit die Kosten für bestimmte Mehrwertdienste für den Kunden zu erhöhen.

Externe Effekte und Komplementaritäten

Wie bei klassischen Telekommunikationsdiensten auch, treten bei Mehrwertdiensten positive externe Effekte auf. Bei interaktiven Mehrwertdiensten, wie zum Beispiel Mailboxen, erhöht der Zutritt eines neuen Teilnehmers den Nutzen des Dienstes für alle anderen. Seine Anschlußentscheidung ist aber davon unabhängig. Bei Verteil- und Abfragediensten, wie zum Beispiel Datenbanken, beeinflußt die Anzahl der Nutzer und die Anzahl der Anbieter im Dienst wechselseitig die Teilnahmeentscheidung. Nur wenn genügend Anbieter vorhanden sind, werden sich Kunden anschließen lassen, aber nur wenn genügend Kunden vorhanden sind, wird der Dienst für Anbieter interessant. Häufig benötigt daher ein Mehrwertdienst eine sogenannte kritische Masse von Teilnehmern, bis er aus sich selbst heraus eine eigene Wachstumsdynamik entwickeln kann. Um solche externen Effekte auszugleichen, muß die optimale Preisstruktur intern subventionierte Elemente enthalten. Eine solche Preisstruktur ist im allgemeinen im Wettbewerb aber nicht durchführbar, da die subventionszahlenden Kundengruppen zu separaten Wettbewerbern wechseln können.

Nachfragekomplementaritäten können ebenfalls ein Grund für intern subventionierte Preisstrukturen sein. Ein typisches Beispiel ist die kostenlose Abgabe von Endgeräten, um den französischen Videotex-Dienst zu stimulieren. Für eine Wettbewerbsaufsichtsbehörde wäre eine solche Preispolitik, auch wenn sie aufgrund der Nachfragestruktur optimal ist, kaum von einem wettbewerbswidrigen Kampfpreis zu unterscheiden.

Marktstrukturparameter zusammengefaßt

Die folgenden vier Punkte fassen nochmals die Marktstrukturparameter zusammen, denen sich eine Wettbewerbsaufsichtsbehörde im Telekommunikationsdienstemarkt gegenübersieht:

- Marktdominanz, Monopole oder enge Oligopole können in Teilen des Mehrwertdienstemarktes Ausdruck einer effizienten Marktstruktur aufgrund von Größenvorteilen sein und nicht Folge wettbewerbswidrigen Verhaltens.

- Marktdominanz, Monopole oder enge Oligopole von Pionierunternehmen in Teilen des Mehrwertdienstemarktes können Ausdruck einer effizienten Marktstruktur aufgrund von Erfahrungskurveneffekten sein und ebenfalls nicht Folge wettbewerbswidrigen Verhaltens.

- Marktdominanz, Monopole oder enge Oligopole können in solchen Marktsegmenten Ausdruck einer effizienten Marktstruktur sein, bei denen starke Verbundvorteile zu anderen Aktivitäten vorliegen.

- Intern subventionierte Preisstrukturen können Ausdruck einer effizienten Preispolitik und nicht Marktmißbrauch sein, wenn externe Effekte in bestimmten Mehrwertdienstemärkten existieren oder komplementäre Güter angeboten werden.

(wird fortgesetzt)

Vergleiche zu den folgenden Ausführungen auch: Neumann, K.-H, Models of Service Competition in Telecommunications, Diskussionsbeiträge zur Telekommunikationsforschung Nr. 28, August 1987, S. 11 bis 18