Das Jahr 1984 brachte einen Aufschwung der Datenschutz-Diskussion:

Höchstrichterliche Entscheidungen forcieren BDSG-Novellierung

07.12.1984

Was hat das Jahr 1984 zum Thema "1984" gebracht. Diese Frage stellte sich zum Abschluß der achten Datenschutzfachtagung in Köln Hans Gliss, Vorstand der veranstaltenden Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherung. Sein Resümee fällt sehr persönlich aus und soll zur Widerrede (-schreibe) provozieren. Engagiert und teils naiv sind "die Grünen" - wie zu erwarten - weiter in die Diskussion um Orwellsche Auswirkungen der Computerisierung eingestiegen. Das Bundesarbeitsgericht hat kräftig Stellung bezogen pro Mitbestimmung, wenn es um Leistung- und Verhaltensdaten geht. Aber was ist überhaupt ein Leistungsdatum? Novellierung des BDSG, ein Dauerbrennerthema, erhält neue Aktualität durch das Volkszählungsurteil. An Pro und Contra zu bereichsspezifischen Regelungen und/oder Generalklauseln wird es auch 1985 nicht fehlen. Eine Belebung und Aktualisierung der Diskussion zu Datenschutz und -sicherung sowie die entsprechende Gesetzgebung steht an, und da handelt es sich ja nicht nur um das Bundesdatenschutzgesetz. Hier nun das Resümee des "professionellen" Datenschützers.

Das Thema "1984" ist, seit es ein Datenschutzbewußtsein, seit es Datenschutzgesetze in zahlreichen westlichen Ländern gibt, für kritische visionäre, wachrüttelnde, gelegentlich auch larmoyante Ausführungen immer wieder gut gewesen. Hohe Erwartungen wurden teilweise an das Jahr mit dieser signifikanten Nummer im Kalender geknüpft. Kurz nach Verabschiedung des BDSG "verriet" ein damals recht bekannter Journalist, er beabsichtige, das Thema "Datenschutz" auf breiter Basis anzugehen und mit einer Massenveranstaltung im Jahr 1984 dann das ganz große Geld zu machen. Aus den Massen und aus dem Geld wurde nichts - glücklicherweise. Trotzdem noch ein Schlußwort unter das abgedroschene Thema "Orwell-Jahr"? Richtig - und dessen braucht sich wahrlich niemand zu schämen, denn schließlich hat sich die Szene im abgelaufenen Jahr stark verändert. Das, was sich da für jedermann sichtbar geändert hat, das hat in der Tat wenig bis gar nichts mit Orwell zu tun. Aber das, was sich hier herauszubilden beginnt, ist des Nachdenkens wert. Und zwar vor allem vor dem Hintergrund, daß mit dem Orwell-Stichwort ein eher emotionales als intellektuelles Erlebnis angesprochen wird.

Neue Auslegungen des Grundgesetzes

Doch zunächst zu den signifikanten Ereignissen der letzten 12 Monate: Da war zunächst das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das am 15.12.1983 einige Auslegungen des Grundgesetzes postulierte, die neu waren. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die Normenklarheit bei Datenschutzregelungen sind, um die wichtigsten Stichworte zu nennen, Mittel, die scheinbar geeignet sind, das jetzt gültige BDSG aus den Angeln zu heben. Generalklauseln, so die Epigonen des Karlsruher Senats,

haben fürderhin keinen Platz mehr im deutschen Datenschutzrecht. Genaue Vorschriften müssen her, die es gestatten, daß jedermann zu jeder Zeit nachprüfen kann, wo und in welchem Zustand sich seine Daten irgendwo befinden mögen. Ob dieser "Jedermann" das tatsächlich will (und in der Praxis auch kann), das stört zunächst bei der Auslegung des Urteils nicht. Das ist auch nicht wichtig. Ich habe mich kürzlich von einem namhaften Juristen darüber belehren lassen, daß, wenn Sanktionen durch Gesetz angedroht werden, der Tatbestand im deutschen Recht präzise beschrieben sein muß, der die Sanktion überhaupt auslöst. Und da Datenschutzrecht ohne Sanktionen zum Papiertiger wird, paßt das Karlsruher Urteil gut in unsere juristische Landschaft. "Die den Deutschen eigentümliche Ausführlichkeit und Systemsucht bildete jene Bürokratie heraus, die im Namen der strengsten Gesetzlichkeit einen vielleicht härteren Druck ausgeübt hat, als je das rohe Faustrecht." Der das sagt ist kein Kritiker unseres modernen Rechtssystems oder einer "Verrechtlichung des Lebens", es ist Wolfgang Menzel, mit seiner "Geschichte der Deutschen", 1823 bei Cotta verlegt, einer der damals unbequemen deutschen Historiker. Manchmal tut ein Blick in die Geschichte ganz gut, wenn man Tagesprobleme reflektiert.

Was hatte das Volkszählungsurteil zur Folge? Alle Ressorts in Bonn sind auf der fieberhaften Suche nach Gebieten, die bislang unter die Generalklauseln des BDSG fielen, und die jetzt im Hinblick auf die Normenklarheit präziser gefaßt werden müssen. Es sind Gesetzesvorlagen bekanntgeworden - oder Vorhaben zu Ohren gekommen - die noch nicht einmal für sachkundige Juristen auf Anhieb die erforderliche Klarheit bringen, geschweige denn für den betroffenen Bürger, der sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrnehmen soll. Mit anderen Worten: Wenn nicht ein gesundes Augenmaß entwickelt wird - schließlich leben wir in einem Rechtsstaat mit einer funktionierenden Rechtsprechung - dann marschieren wir schnurstracks in eine Datenverkehrsordnung. Was das bedeuten kann, darauf kommt dieses Resümee weiter unten noch einmal zurück!

"Technische Einrichtung" ist mitbestimmungspflichtig

Das zweite wichtige Ereignis seit Herbst letzten Jahres war das Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Kassel zur Frage, ob Computerhard- und -software, wenn die Verarbeitungsergebnisse eine Leistungs- oder Verhaltenskontrolle ermöglichen, eine "technische Einrichtung" im Sinne des ° 87 Abs. 1 Nr. 6 Betriebsverfassungsgesetz darstellen, mit der Folge, daß die entsprechende Anwendung mitbestimmungspflichtig ist, ihre Einführung mithin von der Zustimmung der Personalvertretung abhängt.

Das Ergebnis der Verhandlung in Kassel ist bekannt und überrascht auch keineswegs: Wenn ein Computersystem Leistungs- und Verhaltenskontrollen ermöglicht, dann unterliegt es selbstverständlich der Mitbestimmung. Auf dieses nüchterne Ergebnis gebracht - und nichts anderes ist aus dem Spruch herauszuinterpretieren - wirkt die Feststellung harmlos. Wäre da nicht die unselige Diskussion über Personalinformationssysteme (PIS). In der ersten Zeit sind viele denjenigen auf den Leim gegangen, die vom PIS sprachen und eigentlich nur eine vernünftige, den modernen Computern angepaßte Administration und Abrechnung der Personaldaten meinten. Erst bei der Beschäftigung mit den dispositiven Tätigkeiten des Personalwesens stellte ich fest, daß eine Automation dieser Vorgänge überhaupt nicht in Frage kommt, allenfalls eine Systemunterstützung durch Datenaufbereitung für den entscheidenden Menschen. Ich lehne es ab, eine komfortable Lohn- und Gehaltsabrechnung zum PIS hochzujubeln - auch wem derartige Systeme in der Vergangenheit damit leichter verkauft wurden.

Zankapfel zwischen Kapital und Arbeit

Mit den Folgen müssen die Personalleute heute leben: Da ein PIS den Anspruch auf dispositive Funktionen erhebt, subsumieren die Gewerkschaften - zuletzt in dieser Richtung von Professor Simitis auf dem hessischen Datenschutzsymposium unterstützt - jede Computeranwendung im Personalbereich unter ihren Mitbestimmungsanspruch. Schlichte und meist sogar gesetzlich, häufig auch tariflich vorgegebene Abrechnungsformeln werden damit zum Zankapfel zwischen Arbeit und Kapital. Wo bleibt der Handlungsspielraum, wenn beispielsweise der Gesetzgeber eine Änderung des Lohnsteuer- und Beitragsrechts beschließt? Nichtsdestoweniger finden sich in den zur Zeit wieder heftig kursierenden Musterbetriebsvereinbarungen genau zu solchen Vorgängen Mitbestimmungsansprüche. Als gelte es, Kräfte zu binden . . . Dieses entspricht der Tendenz zu einer Datenverkehrsordnung. Genaue Regeln hier und dort, im öffentlichen Bereich wie in der Privatwirtschaft, sind vielleicht geeignet, ein Korsett zu liefern für unsichere oder mißtrauische Zeitgenossen. Ich für meinen Teil bevorzuge da durchaus Generalklauseln, gleich, ob sie im Datenschutzgesetz, im Betriebsverfassungsgesetz oder sonstwo festgeschrieben sind, die einklagbar sind, wenn wirklich Dinge passieren, die nicht tolerierbar sind, aber die ansonsten Raum freihalten für Neues und für Reaktionen auf nicht antizipierte Tatbestände.

Ängstlichkeit im Umgang mit Datenschutzbestimmungen ist zu beobachten, weil eben auch abschließende Aufzählungen Spielraum lassen für Zweifel, keinen Spielraum aber für situationsbezogene mutige Entscheidungen. Dies zum Thema "Datenverkehrsordnung" und zur weiteren Verrechtlichung der Datenverarbeitung und zum Umgang mit personenbezogenen Daten im allgemeinen.

Der Karren der undifferenzierten Ablehner

Was in dem vergangenen Jahr mit besonders auffiel, das war eine Hinwendung jener seit geraumer Zeit zu beobachtenden Technikangst oder Technologiefeindlichkeit hin zu Computern, und zwar verbunden mit dem Begriff Datenschutz. Sehr deutlich wurde dies auf einem Symposium des hessischen Landtags Anfang September in Wiesbaden. Nur soviel an dieser Stelle: Als eine Abgeordnete der Grünen ihr Unverständnis darüber äußerte, wie man mit Computeranwendungen Ökologieprobleme in den Griff bekommen könne und statt dessen forderte, man solle doch endlich aufhören, die Umwelt zu zerstören, dann wären Computer überflüssig, da war im Saal zu meiner großen Überraschung kein Gelächter zu hören.

Und das ist der Punkt: Der Datenschützer will den rechten Gebrauch des Hilfsmittels Computer sicherstellen, aber es gibt inzwischen Kräfte die die auf Computer polarisierte Technikangst dazu benutzen, moderne Rechnersysteme als inhumane Herrschaftsinstrumente zu verteufeln. Und da die beiden höchstrichterlichen Entscheidungen, auf die ich eingangs verwies. Bewegung in die Diskussion brachten, sind hier Einflüsse auf eine Novellierung des Rechts gegeben. Die betrieblichen und öffentlichen Datenschutzbeauftragten sollten sich dabei nicht vor den Karren der undifferenzierten Ablehner spannen lassen.

Der Konsens ist nicht mehr stark

Wir befinden uns in einer Phase allgemeiner Unsicherheit über unsere Zukunft. Der Konsens, der die Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg vereinte, ist nicht mehr so stark. Aufbauen und Geldverdienen ist für die einen nicht mehr das einzig Erstrebenswerte, für manch andere mangels Gelegenheit nicht mehr möglich. Ich sage das ohne jede Wertung. - Zwar gibt es auf der Welt eine ganze Menge von Problemen, aber anders als nach 1945, wo man hier mit Ärmelaufkrempeln und Anpacken eine ganze Menge erreichen konnte, sind die Zusammenhänge und damit die Einwirkungsmöglichkeiten viel komplizierter geworden. Nach dem Motto "Macht kaputt, was Euch kaputtmacht!" - sind Sabotagehandlungen gar nicht so selten, vor allem nachdem Untergrundliteratur genaue Handlungsanleitungen bieten, vor allem zur Beschädigung und Zerstörung von Datenendgeräten. Der Vorgang ist aus dem letzten Jahrhundert bekannt: Maschinenstürmerei heißt das Stichwort. Nur: Während es damals buchstäblich um die Existenzgrundlagen derjenigen ging, die mit Knüppeln die neuen Webmaschinen zusammenschlugen, sind heute die dem Laien undurchschaubaren Technologien Gegenstand emotionaler Widerstände, in erster Linie wohl weil eine Einengung der persönlichen Freiheit befürchtet wird.

Diese Entwicklung, die Auseinandersetzung mit einer neuen Generation von Technik - nicht von ungefähr wird von der zweiten industriellen Revolution gesprochen - sucht sich ihre Objekte, anhand derer abstrakte Ängste konkretisiert werden können. Es hat den Anschein, als sei nach der Kernkraft nun die Datenverarbeitung dran. Nur darf nicht übersehen werden, daß sich diese Entwicklung nicht abgeschottet von den Weltereignissen vollzieht. Und hier liegt der Hund begraben: Wenn wir darauf verzichten, unsere Intelligenz und unsere Infrastruktur einzusetzen, um mit Hilfe neuer Technologien Probleme zu lösen, die hier und anderswo drücken, Probleme vielleicht, die gerade die erste industrielle Revolution uns beschert hat, dann koppeln wir uns ab von dem Markt, der uns in der Bundesrepublik weitgehend ernährt.

Für Regeln zum sinnvollen Gebrauch

Wer "nein" sagt zur Gen-Manipulation, in der Angst, man könne damit Frankensteine am Fließband erzeugen, der muß sich dabei auch im klaren sein, daß er die gezielt als schädlingsresistent gezüchtete Nahrungsmittelpflanze mit hohem Ertrag ablehnt, mithin der chemischen Keule und der Überdüngung weitere Chancen gibt.

Übertragen auf unser Gebiet heißt das: Wer Computer als in sich gefährlich ansieht und auf Rechnerverzicht setzt, statt sich für Regeln zum sinnvollen Gebrauch der neuen Techniken einzusetzen, der nimmt in Kauf, daß unsere Wirtschaft veraltet, dies vor allem, weil sich unsere Konkurrenten am Weltmarkt den Teufel um deutsche Seelenängste scheren.

Ich rede damit keiner unkritischen Anwendung der Technik das Wort, im Gegenteil. Manche neue Errungenschaften sind zu schnell angewendet worden - bevor sie erprobt waren. Man denke an Contergan. Man denke aber auch an jene berüchtigten Datenbanksysteme, die 1970 unter der Bezeichnung "Management-Informations-Systeme" grassierten, und das nur, weil die Hersteller ihre neuesten Computer, die der dritten Generation, zusammen mit den neuen großen Plattenspeichern möglichst schnell in den Markt drücken wollten.

Gerade die Datenverarbeitung, die inzwischen immer wieder verteufelten Mikrochips mit ihren vielfältigen, ressourcenschonenden und energiesparenden Anwendungen, bietet eine Fülle von Einsatzmöglichkeiten, die zu erkunden und auszuprobieren sind. Natürlich soll sich diese Technik nicht zum Nachteil der Benutzer oder Dritter auswirken - was den Datenschutz anbelangt, benötigen wir selbstverständlich die Rahmenbedingungen, die jeweils erkennen lassen, welche Anwendungen nützlich und welche bedenklich sind. Aber eben: Rahmenbedingungen, kein Korsett!

Solche Rahmenbedingungen müssen es Entwicklern und Betreibern ermöglichen, die Grenzen ihres Handelns selbst zu erkennen. Dies ist die Form der Selbstkontrolle, für die die GDD schon immer eingetreten ist. Was wir hingegen ablehnen, das sind summarische Verbote bestimmter Anwendungen - oder Bestimmungen, die auf ein praktisches Verbot hinauslaufen. Die Vorschriften über Online-Abfragen in der letzten Entwurfsfassung einer BDSG-Novellierung liegen ebenso auf dieser Linie wie der Beschluß des letzten DGB-Kongresses, die Bundesregierung möge die Anwendung von "Personal-Informations-Systemen" gesetzlich verbieten.

Solche Verweigerungsstrategien bringen uns insgesamt nicht weiter. Gewiß lassen sich damit Scharen verängstigter Bürger sensibilisieren und solidarisieren. Aber es sind die gleichen Bürger, die sich in zehn Jahren wundern, warum die hochentwickelte Bundesrepublik ihre Intelligenz am Weltmarkt nicht mehr so richtig absetzen kann.

Mit anderen Worten: Wir treten in eine neue Phase der Novellierungsdiskussion. Lassen wir uns nicht auf die Seite der Verweigerer ziehen, so verlockend die Idylle einer vorindustriellen Gesellschaft auch ausgemalt sein mag. Es geht nicht um ein "Nein" zur Datenverarbeitung, genausowenig wie um ein bedingungsloses "Ja". Es geht um ein "Ja, aber . . .", und das setzt eine fachkundige Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen voraus.