Chemie- und Pharmakonzern experimentiert mit internem Web

Hoechst: Intranet-Guerillas unterwandern Infokultur

05.07.1996

"Wir sind ein Guerilla-Team", charakterisiert Niko Waesche, Leiter des Hoechst-eigenen Projekts "Internet-Standards", die Art und Weise, wie er die Intranet-Idee den 165000 Hoechst-Mitarbeitern in etwa 100 Ländern nahebringen will. Nicht par ordre du mufti, sondern durch überzeugende Anwendungen hofft er, die potentiellen Nutzer bewegen zu können, das firmeninterne TCP/IP-Netz für Informationsbeschaffung und -weitergabe zu nutzen.

Bei Hoechst wie in anderen Unternehmen gibt es schon eine Reihe von Intranet-Inseln, die von technisch begabten Anwendern für ihre eigenen Zwecke entworfen und realisiert wurden. Unter Waesches Leitung hat der Chemie- und Pharmakonzern aber im vergangenen Herbst ein von sieben Mitarbeitern getragenes Projekt aufgelegt, das die Rahmenbedingungen, beispielsweise Sicherheitsstandards, für ein einheitliches "Hoechst Wide Web" ausloten soll. Auf einem kürzlich zu Ende gegangenen Kongreß der Management Circle GmbH, Wiesbaden, stellte Waesche den Hoechst-Ansatz einem - lebhaft interessierten - Auditorium vor.

Kooperation in virtuellen Gruppen

"Das Intranet ist kein Tool, um Geschäftsprozesse zu optimieren", faßte Waesche seine Sichtweise zusammen, "sondern ein Werkzeug der Kommunikation." Laut Gartner Group könnten 50 Prozent aller firmenintern veröffentlichten Informationen sinnvollerweise über ein Enterprise-Wide-Web verfügbar gemacht werden. Leider nutzten die Unternehmen diese Möglichkeit bislang nur in geringem Umfang.

Wie Waesche ausführte, sieht Hoechst das Intranet als eine mögliche aktuelle, direkte und weltweit einheitliche Quelle für Informationen aus dem und über den gesamten Konzern. Mit diesem Medium könnten unter anderem die in zunehmendem Maße "virtuellen", sprich: räumlich verteilten, Arbeitsgruppen Kooperationsfähigkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl stärken.

Das Internet-Standards-Projekt wird je zur Hälfte von den Unternehmensbereichen Kommunikation und Informatik finanziert und kooperiert eng mit dem hauseigenen "Internet"-Projekt. Signifikanterweise ist Waesche kein IT-Experte, sondern ein gelernter Werbefachmann. Deshalb legt er die Betonung nicht auf die technische Seite seines Vorhabens, sondern auf die kulturelle.

Diese Einstellung spiegelt sich in seiner Argumentation für das WWW zum Hausgebrauch wider. Zwar führt er den kostengünstigen und systemunabhängigen Zugriff durch WWW-Browser ins Feld. Zudem verweist er darauf, daß das Hoechst-interne TCP/IP-Netz im Zuge der SAP-R/3-Einführung ohnehin ausgebaut werde, von daher also keine zusätzlichen Investitionen anfielen.

Aber der geschulte Werbestratege betont auch die psychologisch-ästhetischen Merkmale der Intranet-Technologie. Beispielsweise funktioniere die Kommunikation dort sowohl Bottom-up als auch Top-down. Sie laufe sozusagen just in time ab, schere sich nicht um Hierarchien und könne den gesamten Globus umfassen. Hinzu kämen die nahezu intuitive Bedienbarkeit, die Dialogorientierung und die Integration mit den Desktop-Werkzeugen, die es den Benutzern erlaube, heruntergeladene Daten ohne Medienbruch weiterzubearbeiten. Gegenüber einer Groupware-Umgebung auf Basis von "Lotus Notes" zeichne sich das Intranet aber vor allem dadurch aus, daß der Anwender das Gefühl habe, einen geografischen Raum zu betreten.

Allerdings machte Waesche kein Hehl daraus, daß das Lotus-Produkt als Basis der unternehmensweiten Kommunikation ohnehin nicht in Frage kommt. Hoechst fahre ziemlich konsequent auf der Microsoft-Schiene. Immerhin hat der Konzern kürzlich einen Rahmenvertrag über 60000 Lizenzen des Microsoft-eigenen "Office"-Pakets abgeschlossen. Für die elektronische Post ist derzeit MS-Mail der Unternehmensstandard, wobei Hoechst jedoch erwägt, auf das Messaging-Produkt "Microsoft Exchange" umzusteigen.

Nur der WWW-Browser stammt nicht von Microsoft, sondern vom Marktführer Netscape Communications Inc. Hoechst hat bereits 10000 Lizenzen für den "Netscape Navigator" erworben und eine Option auf 20000 weitere angemeldet. Der Grund dafür, warum sich der Konzern bislang noch nicht für den "Microsoft Explorer" entschieden hat, liegt, so Waesche, darin, daß das Browser-Tool in seiner 16-Bit-Ausführung keinen vollen Funktionsumfang biete. Das letzte Wort sei hier allerdings noch nicht gesprochen.

Bislang sind etwa 7000 Hoechst-Mitarbeiter in irgendeiner Form an das Intranet angeschlossen. Sie dürfen weitgehend unbehelligt mit dem neuen Medium experimentieren. Ohne ihren Server zentral anzumelden, können sie Informationen ins Netz stellen und News-Groups ins Leben rufen. Sie müssen sich nur verpflichten, diese zu pflegen.

Die erste Abteilung, die von einem Intranet intensiven Gebrauch macht, ist die wissenschaftliche Forschung. Seit einem Jahr bietet sie auf diesem Weg ihre Arbeitsergebnisse den anderen Abteilungen an - gegen Gebühr.

In diesem Zusammenhang wies Waesche darauf hin, wie wichtig es sei, zu klären, welche Web-Seiten nur inhouse genutzt werden dürfen und welche für die Welt außerhalb der Firewall bestimmt sind. Auf der technischen Ebene lasse sich das Problem durch Pop-up-Warntexte beim Übergang vom internen in das öffentliche Netz lösen, im ästhetischen Bereich durch ein unterschiedliches Erscheinungsbild von Intranet- und Internet-Seiten. Bei den Anwendern müsse zudem ein Bewußtsein dafür geschaffen werden, daß auch interne Veröffentlichungen "wie ein Plakat an einer Litfaßsäule" wirken könnten.

Als kritisch bezeichnete Waesche auch, daß die elektronische Art des Informationsaustausches eine "Zwei-Klassen-Gesellschaft" innerhalb des Unternehmens herausbilden könne: Einige Benutzer beherrschten das Medium weniger gut als andere, was möglicherweise zu Begriffsverwirrungen, fehlerhaften Installationen und einer Überbelastung des User-Supports führe. Hier bestehe also Handlungsbedarf in Form von Schulungen, Hotline und Second-Level-Beratung.

Last, but not least sei es nahezu unvermeidlich, daß Informationen und Technik zunächst einmal redundant vorkämen, weil unterschiedliche Anwender dieselben Daten sammelten oder verschiedene Arbeitsgruppen ähnliche technische Lösungen ausgearbeitet hätten. Ein weltweites "Editorial Team" könne Abhilfe schaffen, indem es Links zwischen den einzelnen Servern herstelle und dabei Informationsdubletten aussortiere.

Als zentraler Einstieg in die Hoechst-internen Web-Seiten könnte eine Anwendung dienen, die Waesches Team gerade in Arbeit hat. Im Auftrag des Bereichs Unternehmenskommunikation entsteht derzeit ein datenbankgestützter "Corporate News Service". Acht bis zehn Autoren sollen hier - im Rhythmus von wenigen Stunden - stets die aktuellsten Informationen über das Unternehmen zum Abruf bereitstellen.

Auf die Frage nach einer Kosten-Nutzen-Analyse muß Waesche passen: Für Hoechst dienten Internet und Intranet zunächst einmal als ein Medium, mit dem Erfahrungen gesammelt werden sollen. Letztendlich gehe es darum, zu den sprichwörtlichen "schnellen Fischen" zu gehören. In diesem Sinne dürfte seine Guerilla-Truppe die uneingeschränkte Rückendeckung des Managements haben.

Kennzahlen

Der Hoechst-Konzern erzielte im vergangenen Jahr Umsätze in Höhe von 52,177 Milliarden Mark - fünf Prozent mehr als 1994. Im gleichen Maß stiegen die Forschungsausgaben: von 3,311 auf 3,479 Milliarden Mark. Der Gewinn vor Steuern verdoppelte sich nahezu, indem er von 2,209 auf 4,091 Milliarden Mark kletterte. Nach Steuern betrug er noch 2,245 Milliarden Mark, während der Vorjahresprofit bei 1,363 Milliarden Mark lag.

Der Mensch hinter der Technik

Niko Waesche, Hoechst-Guerillero:Der Leiter des Internet-Standards-Projekts bei der Frankfurter Hoechst AG kommt nicht aus der Informatik, sondern aus der Werbebranche. Nach dem Grundstudium der Volkswirtschaft und Geschichte an der Brown University in Providence verdiente er sich die ersten Sporen bei der Tokioter Werbefirma I & S. Den letzten akademischen Schliff holte er sich dann an der Uni Frankfurt, bevor er als Junior Account Executive in die ortsansässige Werbeagentur Michael Conrad & Leo Burnett einstieg. Erfahrungen im Multimedia-Bereich sammelte Waesche als freier Berater für Sputnik-Media, ein in Offenbach angesiedeltes Unternehmen, das unter anderem die "Tigra"-CD für Opel realisiert hat. Seit Oktober 1995 arbeitet der 27jährige als Projektleiter für Hoechst.