Was Unternehmen tun können

Hilfe - meine Eltern brauchen Hilfe!

18.03.2013
Von 
Ingrid Weidner arbeitet als freie Journalistin in München.

"Die Pflege von Angehörigen ist in vielen Firmen ein Tabu"

Das Institut für sozialwissenschaftlichen Transfer (Sowitra) in Berlin fragte in einer Studie pflegende Angestellte und Führungskräfte aus unterschiedlichen Branchen und Unternehmen, wie sich Berufsleben und Pflege vereinbaren lassen. Stefan Reuyß, Soziologe, Gründungsmitglied und Partner am Sowitra, erläutert im Gespräch mit Ingrid Weidner, was sich die Betroffenen von ihrem Arbeitgeber wünschen.

CW: Wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie diskutiert wird, geht es meistens um die Betreuung von Kindern. Wieso taucht das Thema Pflege so selten auf?

Stefan Reuyss, Sowitra: "Firmen müssen sich von der Idee des fürsorgefreien Beschäftigten verabschieden."
Stefan Reuyss, Sowitra: "Firmen müssen sich von der Idee des fürsorgefreien Beschäftigten verabschieden."
Foto: Privat

REUYSS: In vielen Firmen ist es noch ein Tabu, darüber zu sprechen. Fotos von seinen Kindern stellt man sich gerne auf den Schreibtisch, ein Bild eines kranken Angehörigen dagegen nicht. Pflege und die Vereinbarkeit mit dem Beruf führen leider immer noch ein Schattendasein. Außerdem fehlt es bei vielen Personalverantwortlichen an Wissen und Umsetzungsideen. Auch an ihrer Unternehmenskultur müssen viele noch arbeiten.

CW: Wie lässt sich das ändern?

REUYSS: Indem darüber gesprochen wird - mit Artikeln in der Mitarbeiterzeitung, dem Intranet oder indem Experten zu Vorträgen eingeladen werden. Unternehmen und ihre Mitarbeiter können sich so mit dem Thema vertraut machen, denn es betrifft in Zukunft immer mehr Arbeitnehmer. Firmen müssen sich von der Idee des fürsorgefreien Beschäftigten verabschieden. Es gibt bald nur noch wenige Mitarbeiter in der mittleren Lebensphase, die sich weder um eigene Kinder noch um Angehörige kümmern müssen.

CW: Sollten Betroffene mit ihren Kollegen und dem Chef darüber sprechen?

REUYSS: Ich halte es für die bessere Lösung, offen darüber zu sprechen, auch wenn es viele ungern tun. Oftmals bemerken die Vorgesetzten sowieso die Veränderung, beispielsweise wenn Fehlzeiten zunehmen oder die Arbeitsleistung nachlässt. Auch das Risiko, selbst krank zu werden, steigt für die Pflegenden.

CW: Welche Schlüsse und Empfehlungen konnten Sie aus ihrer Studie ableiten?

REUYSS: Drei Handlungsfelder haben sich herauskristallisiert: Arbeitszeit, Unternehmens- und Arbeitskultur sowie Arbeitsorganisation. Die wenigsten möchten ihren Beruf aufgeben und sich ganz der Pflege widmen. Viele sagten uns, dass der Betrieb für sie als sozialer Ort sehr wichtig ist. Viele können es sich auch finanziell nicht leisten, ganz aus dem Berufsleben auszusteigen. Daher wünschen sie sich mehr Einfluss auf die Arbeitszeitgestaltung, so dass sie beispielsweise Arbeitsbeginn und Ende frei wählen und bei Bedarf ihre Arbeitszeiten reduzieren können. Auch Verständnis von Vorgesetzten und der Kollegen ist von hoher Bedeutung.

CW: Gerade in der IT-Branche wird von vielen Arbeitnehmern erwartet, sehr flexibel und auch außerhalb der Bürozeiten erreichbar zu sein. Was empfehlen Sie in diesen Fällen?

REUYSS: Wir müssen uns sowohl von der Anwesenheitskultur als auch von der ständigen Verfügbarkeit verabschieden. Vielmehr sind Planbarkeit und verlässliche Arbeitszeiten wichtig. Mitarbeiter brauchen auch mehr Gestaltungsspielraum bei den Arbeitsinhalten. So haben sich in unserer Studie einige Führungskräfte dafür entschieden, Leitungsaufgaben wie die Personalführung abzugeben, da sie schon in der Pflege viele Aufgaben managen müssen und sich nicht noch um das Personal kümmern konnten. So ein Angebot verschiedener Maßnahmen ist ein guter Weg, um den Betroffenen Beruf und Pflege zu ermöglichen. Viele Beschäftigte können es sich auch finanziell nicht leisten, ganz aus dem Berufsleben auszusteigen.

CW: Ist Pflege eine klassische Aufgabe von Frauen?

REUYSS: Zwei Drittel der Pflege werden momentan von Frauen geleistet. Doch das ändert sich langsam, der Anteil der Männer steigt stetig an. (Ingrid Weidner)

Kompakte Informationsquelle

Der kürzlich erschienene Ratgeber "Eltern unterstützen, pflegen, versorgen" beantwortet sachlich knapp und übersichtlich alle wichtigen Fragen rund um das Thema Pflege. Gerade wenn die erwachsenen Kinder plötzlich aufgrund einer Erkrankung ihrer Eltern mit all den neuen Fragen konfrontiert werden, können sie dort nachlesen und finden viele weiterführende Adressen und Beratungsstellen. Übersichtlich aufbereitete Adress- sowie Stichwortverzeichnisse erleichtern die schnelle Suche. Auch neue Änderungen der Pflegereform haben die Autorinnen eingearbeitet. Durch das übersichtliche Layout können Interessierte ganz leicht querlesen und bei Bedarf einzelne Kapitel vertiefen.

Katharina Henrich, Aline Klett: Eltern unterstützen, pflegen, versorgen. Stiftung Warentest, Berlin 2012, 255 Seiten, 19,90 Euro.