Gewerkschaften legen Gehaltsindex vor

HBV und IG Metall gehen in die Offensive

09.08.1996

"Als wir 1993 mit unseren Streiks für den Rationalisierungsschutz auf die Straße gingen", erinnert sich Digital-Betriebsrat Wolfgang Müller, "hätten wir nicht im Traum daran gedacht, die Gehaltssysteme der IGM einzuführen." Doch die Vorbehalte von anno dazumal sind inzwischen ausgeräumt. Konnten die Arbeitnehmervertreter angesichts einer kräftigen Nachfrage noch zu Beginn der neunziger Jahre eine starke Verhandlungsposition behaupten, werden sie heute von ihren Unternehmen immer mehr in die Ecke gedrängt.

Firmenleitungen zwingen den Beschäftigten Konditionen auf, die Betriebsräte nicht mehr länger hinnehmen wollen. Müller: "Der Manteltarifvertrag der IG Metall ist gut für uns. Kollegen, die nach der Übernahme von Kienzle zu Digital gestoßen sind und bereits vorher nach dem IGM-Tarif bezahlt wurden, erzielen ein deutlich höheres Gehalt als vergleichbare Digital-Mitarbeiter."

Die von den Betriebsräten geforderte gemeinsame Einflußnahme auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen rief neben der IGM auch die HBV auf den Plan. Das jetzt von ihr vorgelegte Gesamtpaket umfaßt branchenbezogene Regelungen zu Tarif- und Gehaltsgruppen, Vergütungssätzen sowie einen Manteltarifvertrag, der die allgemeinen Arbeitsbedingungen regeln soll. "Die IT-Branche hat eine neue Phase erreicht", konstatiert Michael Jäkel, für IT zuständiger Sekretär der Gewerkschaft in Düsseldorf. "Als Ergebnis der Rezession sinken die Einstiegsgehälter, und Sozialleistungen sowie Sondervergütungen werden gekappt."

Kernstück der von den Gewerkschaften vorgelegten tariflichen Eckpunkte sind Gehaltsgruppen, die Berufe und Positionen von der Datentypistin bis zum Senior-Systemanalytiker umfassen. Die Tätigkeiten sind zwar nahezu übereinstimmend klassifiziert, die jeweils zugeordneten Gehälter unterscheiden sich jedoch beträchtlich.

Daran ändert auch die zugrundeliegende 35-Stunden-Woche der IGM beziehungsweise die 38-Stunden-Woche der HBV nicht viel. Während die Dienstleistungsgewerkschaft beispielsweise einem Senior-Vertriebsmann eine Jahresvergütung von über 120000 Mark in Aussicht stellt, muß sich derselbe Mitarbeiter laut der Eingruppierung der Metaller mit rund 15000 Mark weniger begnügen. Dabei sind in der IGM-Berechnung schon 14,4 Monatsgehälter eingeplant, bei der HBV-Kalkulation nur 13,5 (siehe die Tabellen auf Seite 44).

Auf diese Diskrepanz angesprochen, antworten Jäkel und Siegfried Balduin vom IGM-Vorstand in Frankfurt mit den gleichen Argumenten. Jeder reklamiert für sich eine realistische Abbildung des aktuellen Gehaltsniveaus. DEC-Betriebsrat Müller unverhohlen: "Bei den HBV-Gehältern ist der Wunsch Vater des Gedankens."

HBV-Mann Jäkel pocht jedoch ebenso auf den Realitätsbezug seiner Zahlen. Schließlich hätten an der Untersuchung fast 10000 IT-Profis teilgenommen, und die Arbeitnehmervertreter haben auf einer Fachtagung im Juni das Zahlenwerk nochmal als realistische Gehaltsstudie gelobt. "Dies sind keine Wunschgehälter, sondern reale Größen, an denen sich die Beschäftigten jedes Jahr aktuell orientieren können."

Die HBV-Vorlage beruft sich auf Haustarifverträge von Rechenzentren mit bis zu 5000 Beschäftigten und bildet darüber hinaus die Ergebnisse der jüngsten Kienbaum-Vergütungsstudie für Fach- und Führungskräfte in DV-Unternehmen ab.

"Wir wollen keinen Soll-, sondern einen Mindest-Gehaltsrahmen aufstellen", erklärt der Metaller Balduin den Ansatz, auf dem das IGM-Zahlenwerk beruht. "Wir gehen kein Risiko ein, sondern geben eine nüchterne Beschreibung dessen ab, was wir tatsächlich haben." Dabei schwebt dem Experten von der IG Metall ein tariflich abgesicherter Rahmen vor, der für die Beschäftigten kalkulierbar bleiben würde.

Ganz gleich, welche Gehälter nun realistisch sind oder nicht - derzeit brennen den Betriebsräten zahlreiche Fragen unter den Nägeln. Der Wildwuchs aus unterschiedlichen Tarifverträgen macht es nicht gerade leicht, den Überblick zu bewahren. Zudem wissen viele Firmen nicht, wie ihre Vergütungssysteme aussehen sollen. Bei der Bewertung variabler und leistungsbezogener Entgeltsysteme, etwa eines Basisgehaltes plus optionaler Vergütungen, spielt auch die grundsätzliche Frage eine Rolle, wie Qualifikation und Leistung in Zukunft zu honorieren sind.

Einig sind sich die Gewerkschafter in der Beurteilung ihrer Kontrahenten auf der Unternehmensseite, die einen harten Kurs fahren. An der Flexibilität von Gehaltsstrukturen sowie an einer leistungsorientierten Vergütung kommen allerdings auch die Arbeitnehmervertreter nicht mehr vorbei. Vor allem amerikanische Unternehmen drücken weiter auf das Einkommensniveau, weiß Metaller Balduin. Eine Beförderung, so seine Erfahrung, müsse nicht unbedingt einer Gehaltserhöhung gleichkommen.