Großrechnerwelt ohne Nachwuchs

06.12.2001
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Ina Hönicke ist freie Journalistin in München.
Im Großrechnerbereich gehen die altgedienten IT-Spezialisten nach und nach in den Ruhestand - jüngere indes rücken nicht nach. Zu sehr haftet den Hosts das Image veralteter Technologie an. Die Hochschulabsolventen kennen die Großrechnerwelt bestenfalls vom Hörensagen. In der Praxis ist der Kulturschock deshalb programmiert.

Derzeit wird der Arbeitsmarkt für IT-Spezialisten vor allem von Hiobsbotschaften über Stellenabbau beherrscht. Netzwerk- und TK-Unternehmen geben nahezu wöchentlich Zahlen über geplante Entlassungen bekannt - selbst Beratungshäuser schließen sich an. Sowohl IT-Konzerne als auch Anwenderunternehmen schreiben immer weniger Jobs aus.

Dass in einem anderen IT-Sektor nach wie vor händeringend nach Personal gesucht wird, ist indes kaum bekannt. Kein Wunder, geht es hier doch um Maschinen, die seit langem als Auslaufmodell gelten - die Großrechner. Christoph Laube, Chef der IBM-User-Goup Guide und Leiter einer Beratungsgruppe von /390-Systemberatern bei Systor, beschreibt das Dilemma: "Einen Systemprogrammierer für die /390 zu finden ist so aussichtslos, dass die Firmen nicht einmal mehr Anzeigen schalten. Der einzige Weg, an diese dringend benötigten Spezialisten zu kommen, ist der Konkurs eines anderen Unternehmens."

Laube wundert sich nicht, dass die Suche nach Großrechnerprofis so schwer ist. Warum sollte der Nachwuchs Interesse für ein Thema zeigen, das unter dem Image der veralteten Technologie leidet. Der Guide-Vertreter: "So genannte Experten bezeichnen den Mainframe geradezu gebetsmühlenartig als Auslaufmodell, und diejenigen, die sich damit beschäftigen, als Dinosaurier - schlimmer kann ein Image kaum sein."

Bereich Großrechner ist im Lehrprogramm gestrichen

Laube sieht noch ein weiteres Defizit. An nahezu allen Universitäten werde der Bereich kommerzielle Großrechner im Lehrprogramm schlichtweg ausgespart. Zu den Hochschulen, an denen das Thema gelehrt wird, gehören die Universitäten Leipzig und Tübingen. Dafür sorgt vor allem Professor Wilhelm Spruth, der sich die Großrechnerwelt sozusagen aufs Panier geschrieben hat.

Foto IBM

Auf Kongressen und Podiumsdiskussionen wird er nicht müde, die Renaissance der Großrechner zu verkünden, die in den letzten Jahren stattgefunden habe: "Über 90 Prozent der 2000 weltweit größten Unternehmen setzen einen OS/390-Rechner als ihren zentralen Server ein - und die Studenten kennen ihn nicht einmal vom Hörensagen." Dabei könne davon ausgegangen werden, dass die Mehrzahl der Hochschulabsolventen sich während ihrer späteren beruflichen Karriere mit S/390-Fragen auseinander setzen müsse.

So werde eine wichtige Aufgabe darin bestehen, neue Frontend-Anwendungen für das E-Business in vorhandene OS/390-Backend-Anwendungen zu integrieren. Spruth: "Deshalb ist es wichtig, kommerzielle Großrechner, und hier besonders S/390-Rechner und das OS/390-Betriebssystem, wieder verstärkt in die studentischen Ausbildungspläne aufzunehmen." Erschwerend hinzu kommt, so Spruth, dass die jetzigen Systemadministratoren und die IT-Profis, die die Anwendungen schreiben, zumeist über 50 Jahre alt sind und die Unternehmen nach und nach verlassen werden.

Kulturschock für Hochschulabgänger

Jüngere Nachrücker indes seien die absolute Ausnahme. Um den Nachwuchsmangel irgendwie in den Griff zu bekommen, würden die Unternehmen sich Hochschulabgänger frisch von der Universität ins Haus holen und auf eigene Kosten ausbilden. "Da aber die jungen Leute während ihrer Universitätsausbildung nicht auf die großrechnerspezifischen Probleme vorbereitet wurden, erleben sie jetzt erst einmal einen richtigen Kulturschock", glaubt der Professor.

Um gegenzusteuern, bietet Spruth an den Universitäten Leipzig und Tübingen eine Spezialvorlesung und begleitende Übungen an: "Natürlich kann man mit einer Einführungsvorlesung keinen Experten ausbilden. Wenn ich den Studenten aber Begriffe wie Connectoren oder Web-Application-Server näher bringe, ist die Großrechnerwelt beziehungsweise die Anbindung an die Internet-Welt nicht mehr ganz so so fremd." Mit Hilfe von Übungen würden die Zuhörer dann Schritt für Schritt mit der kommerziellen Großrechnerwelt vertraut gemacht.

Besonders stolz ist der Informatikdozent, dass in Leipzig der einzige für Ausbildungszwecke gedachte OS/390-Rechner Europas steht. Mit Hilfe des Passworts "gast1" können sich interessierte Studenten hier einloggen. Einen Tipp gibt Spruth seinen Zuhörern mit auf den Weg: "Lassen Sie in Ihr Bewerbungsgespräch einfach Vokabeln wie Web-Connector oder SNA einfließen - das macht immer Eindruck."

Das größte Problem sieht der Hochschuldozent indes darin, dass es in dem vorhandenen Lehrkörper kaum Dozenten gibt, die mit der Großrechnerwelt vertraut sind. Deshalb lautet sein Appell an die Wirtschaft: "Bitte stellen Sie Fachkräfte frei, damit sie Lehraufträge an Fachhochschulen und Universitäten wahrnehmen können." Wer Interesse habe, solle sich direkt bei ihm melden. Spruth ist überzeugt, dass die Großrechnerspezialisten noch lange unbesorgt in die Zukunft schauen können. Als Beweis erzählt er folgende Anekdote. Die Frage "Wann ersetzen Sie Ihre S/390-Anwendungen durch eine moderne Technologie?" habe der IT-Veranwortliche einer deutschen Großbank kürzlich so beantwortet: "Ich glaube nicht, dass dies in den nächsten 50 Jahren geschehen wird."

Die Procon IT Aktiengesellschaft wiederum hat das Qualifizierungsproblem auf ihre Art gelöst. Sven Owen, Vorstand des Münchner Software- und Beratungsunternehmens: "Irgendwann hatten wir genug davon, immer nur über den Nachwuchsmangel und das Ausbildungsdilemma zu jammern. Daraufhin nahmen wir die Qualifizierung selbst in die Hand." Das Unternehmen zog qualifizierte Großrechnerspezialisten von den Kunden ab und ließ sie junge Leute ausbilden.

Zunächst einmal erhalten die Newcomer einen dreimonatigen Crash-Kurs, in dem die entsprechenden Grundkenntnisse der Großrechnerwelt vermittelt werden. Danach steht learning by doing auf dem Programm. In dieser Zeit unterstützt ein Mentor die potenziellen Großrechnerprofis. Da die Ausbildungsinitiative im vergangenen Jahr ein großer Erfolg war, wurde sie jetzt wiederholt. Die Teilnehmer des vergangenen Kurses, darunter viele Quereinsteiger, haben sich laut Procon mittlerweile in diverse Großrechnerprojekte eingearbeit, verfügen über PL/1- und andere Grundkenntnisse - und sind auch bei den Kunden begehrt.

Bedarf ist für die nächsten fünf Jahre gesichert

Den Nachwuchsmangel hat die Weiterbildungsinitiative zwar mildern, aber längst nicht beheben können. Derzeit sucht das Beratungshaus technische Berater und Systemadministratoren. Procon-Vorstand Owen ist sicher, dass der Bedarf an Mainframe-Leuten zumindest für die nächsten fünf Jahre gesichert ist: "Nicht nur wir, auch unsere Kunden benötigen ständig Großrechnernachwuchs. Irgendjemand muss doch die älteren IT-Spezialisten ersetzen, wenn sie in den Ruhestand gehen."

Weniger Sorgen bei der Personalsuche hat dagegen die Deutsche Bank. Zwar besteht auch hier Bedarf an erfahrenen Großrechnerspezialisten, aber gerade in letzter Zeit sind etliche qualifizierte Bewerbungen eingegangen. Tim Ackermann, Senior Recruiter beim Frankfurter Geldinstitut, hat dafür folgende Erklärung parat: "Die IT-Spezialisten, die bereits über langjährige Erfahrung im Großrechnerbereich verfügen, sind mobiler geworden. Sie sind heute mehr als früher bereit zu wechseln." Der Grund: Während bei einer Reihe von Unternehmen die Gefahr besteht, dass die Großrechnerarchitektur nach und nach abgebaut wird, wissen die Computerspezialisten, dass die Banken für Großrechner noch lange ein sicherer Hort sind. Der Faktor sicherer Arbeitsplatz, so Ackermann, hat an Bedeutung zugenommen.

Dazu habe auch die Krise in der New Economy beigetragen. Junge Leute, die sich früher nur für Aktienoptionen und "Spaß ohne Ende" interessiert hätten, würden heute wieder verstärkt bei traditionellen Unternehmen anklopfen. Kein Wunder also, dass bei der Deutschen Bank momentan so manche Initiativbewerbung eingeht. In der Großrechnerwelt des Konzerns haben aber nicht nur erfahrene IT-Profis eine Chance.

Um die Sicherheitsprobleme zu lösen, benötigt das Unternehmen laufend Hochschulabsolventen, die mit "frischem" Know-how direkt von der Universität kommen. Last, but not least steht noch ein weiterer Bereich vor dem Problem Nachwuchsmangel. Auch hier verlassen immer mehr gestandene Programmierer aus Altersgründen die Unternehmen - auch hier fehlt der Nachwuchs. Die Rede ist von der Cobol-Welt. Ein wenig verwunderlich ist das schon. Schließlich wurde kaum eine Programmiersprache so oft totgesagt oder zumindest als total verstaubt dargestellt wie diese.

Uwe Müller, Diplombetriebswirt (BA) von der GID mbh aus Ludwigsburg und großer Cobol-Verfechter, hat all die negativen Prognosen noch nie verstanden. Seiner Meinung trifft genau das Gegenteil zu. Immerhin, so Müller, ist Cobol weiterhin mit einem Anteil von weit über 50 Prozent an den laufenden Systemen de facto die Sprache für große, komplexe und auf lange Nutzungsdauer ausgelegte Business-Applikationen. Der GID-Mann: "Derzeit sind weltweit mehr als 2,2 Millionen Cobol-Entwickler im Einsatz, und der Bedarf steigt weiter. Davon können andere IT-Bereiche nur träumen."

Dass der Cobol-Nachwuchs Mangelware ist, davon profitieren verstärkt die IT-Freelancer, denen Cobol nicht fremd ist. Einer davon ist Michael Pfeiffer, freiberuflicher Systementwickler in Alfdorf. Stellvertretend für viele Kollegen singt er ein Hohelied auf Cobol: "Diese Programmiersprache ist mehr als lebendig. Einerseits gibt es immer noch viele Anwendungssysteme, die in Cobol geschrieben sind und gewartet werden müssen, andererseits möchten die Unternehmen - vor allem bei großen Datenmengen - nicht auf die Sicherheitsmechanismen des Hosts verzichten."

Der Alfdorfer Systementwickler führt auch ein wirtschaftliches Argument an: "Die vielen Cobol-Spezialisten in Richtung dritte oder vierte GL-Sprache zu qualifizieren ist den Unternehmen wahrscheinlich zu teuer." Klaus Fontes, DV-Berater in Köln, ist wie sein Kollege überzeugt, dass die Cobol-Nachfrage in den nächsten fünf Jahren mindestens so hoch sein wird wie heute: "Wenn man die Anwender davon überzeugen kann, individuelle Programme zu erstellen, und sich Cobol darüber hinaus weiterentwickelt, wird diese Sprache noch lange auf dem Markt sein." Kurzum - Cobol-Programmierer sind zuversichtlich, in der Cobol-Welt alt werden zu können.