Google revolutioniert die E-Mail

03.06.2009
Von Wolfgang Sommergut 
Mit "Wave" präsentiert Google ein neuartiges Kommunikations-Tool, das als Open Source erscheinen soll und die Möglichkeiten modernster Web-Technik ausreizt.

Rund 40 Jahre nach ihrer Erfindung ist E-Mail noch immer einer der meistgenutzten Dienste im Internet und ein unabkömmliches Kommunikationsinstrument in fast allen Unternehmen. Die Lieferanten von Enterprise-Software erweiterten im Lauf der Jahre immer mehr den Funktionsumfang ihrer Messaging-Systeme, im Kern blieb es aber beim Hin- und Hersenden von elektronischen Nachrichten. Dieser Ansatz ist jedoch für Diskussionen und die Zusammenarbeit zwischen mehreren Teilnehmern denkbar ungeeignet.

Unter einem Hut

Auf seiner I/O-Entwicklerkonferenz in San Francisco stellte Google nun eine frühe Version von Wave vor, das eine solche Trennung zwischen Kommunikation, Collaboration und der Produktion von Dokumenten überwindet. Das Entwicklerteam versuchte eine Antwort auf die Frage zu geben, wie E-Mail aussehen würde, wenn sie heute im Zeitalter von Instant Messaging, Weblogs, Wikis, sozialen Netzen und leistungsfähigen Rechnern erfunden würde.

Die Software beruht auf dem Konzept "gehosteter Konversationen", bei denen es sich um Dokumente in einer zentralen Ablage handelt. Sie erlauben eine einfache Kommunikation im Stil von E-Mail, indem der Verfasser einer Nachricht den Empfänger als Konversationsteilnehmer hinzufügt. Ist dieser nicht am System angemeldet, dann funktioniert Wave als asynchrones Kommunikationsmedium.

Sind ein oder mehrere Kommunikationspartner jedoch online, wechselt die Software in einen synchronen Modus nach dem Vorbild von Instant Messaging (IM). Per Voreinstellung wird dabei jedes getippte Zeichen sofort auf den beteiligten Rechnern angezeigt, um die bei IM bekannten Wartezeiten zwischen den Nachrichten zu vermeiden.

Wie bei Foren und Wikis

Im Gegensatz zu E-Mail können alle Teilnehmer ihre Antworten direkt in das Originaldokument einfügen, so dass eine Diskussion entsteht, deren Beiträge nach dem Muster von Online-Foren in einer baumförmigen Struktur dargestellt werden. Dabei kann jeder per Voreinstellung auch die Eingaben der anderen Verfasser ändern. Ganz offensichtlich orientiert sich Wave damit am Wiki-Prinzip, von dem es auch die fein abgestufte Versionierung übernimmt.

Die detaillierte Dokumentenhistorie bildet die Grundlage für ein Feature namens Playback, das alle Bearbeitungsschritte von den Anfängen bis zum aktuellen Zustand eines Dokuments in einer animierten Form rekapituliert. Dies ist besonders für Teilnehmer nützlich, die später in eine Konversation einsteigen und bei E-Mail kaum noch den Verlauf der Debatte nachvollziehen könnten.

Die Bandbreite der Anwendungen reicht bei Wave von einfachen asynchronen Nachrichten à la E-Mail bis hin zum gemeinsamen Bearbeiten komplexer Texte wie etwa Dokumentationen. Dabei fasziniert die Software mit Echtzeitfähigkeiten, wenn mehrere Autoren zugleich an einem Dokument arbeiten und sämtliche Änderungen auf den Bildschirmen aller Beteiligten live verfolgt werden können. Erwartungsgemäß lassen sich auch multimediale Inhalte einfügen, die ebenfalls ohne Verzug überall sichtbar werden.

Das Office der Web-Ära

Aufgrund seiner Flexibilität könnte Wave nicht nur zum Konkurrenten für Exchange, Lotus Notes oder Sharepoint, sondern auch zum Office des Web-Zeitalters werden. Chefentwickler Lars Rasmussen kündigte an, dass die Software besonders als Tool für die Produktion komplexerer Dokumente ausgebaut werden solle. Als Beispiele nannte er die Integration von Kalkulationstabellen und Präsentationen.

Unter den Enterprise-Lieferanten von Messaging-Software muss Microsoft einen möglichen Erfolg von Wave am meisten fürchten, weil es sich nicht nur gegen Exchange, sondern besonders gegen Sharepoint und Office richtet. Im Gegensatz zu diesen Hochpreisprodukten wird Wave als Open Source verfügbar sein. Dies reduziert nicht nur die Lizenzkosten auf null, sondern soll auch helfen, die Software als offene Plattform zu etablieren. Google hofft darauf, dass Entwickler die Schnittstellen zur Plug-in-Programmierung nutzen und das Kernsystem um zahlreiche Funktionen erweitern.

Hosting oder Inhouse

Anders als Google Apps wird Wave nicht nur auf den Servern der Web-Company laufen, sondern kann aufgrund des allgemein zugänglichen Codes auch von Anwendern inhouse betrieben werden. Wave sieht die Möglichkeit zum Aufbau föderierter Installationen vor, so dass Nutzer der von Google gehosteten Version mit unternehmensinternen Instanzen in Echtzeit zusammenarbeiten können, gleichzeitig aber die Dokumente hinter der Firewall verbleiben.

Wave kommt für Microsoft schließlich noch aus einem weiteren Grund ungelegen: Während das Unternehmen die Fähigkeiten des Web-Browsers zur Entwicklung von Client-Anwendungen stets herunterredete, lässt Wave keine Sehnsucht nach einem Windows-Frontend aufkommen. Die Google-Entwickler nutzten die Fähigkeiten des noch nicht als Standard verabschiedeten HTML 5 aus, das von Chrome, Firefox, Safari und Opera bereits zum Großteil implementiert wurde.