"Intelligente Waffensysteme" führen "chirurgische Schnitte" durch

Golfkrieg: Die Elektronik als entscheidender Faktor

01.02.1991

Im Golfkrieg kommt modernste Technologie zum Einsatz: Flugkörper treffen nach 1000 Kilometern ihre Ziele metergenau, Raketen werden durch andere Raketen abgeschossen, und das ganze Geschehen wird mit einem riesigen Arsenal von Computern überwacht und gesteuert.

Die Schrecksekunden, die BBC-Korrespondent John Simpson kurz nach Kriegsausbruch in Bagdad erlebte, wird er wohl nie vergessen: Er stand in seinem Hotelzimmer im fünften Stock, als urplötzlich ein über fünf Meter langer Flugkörper vor seinem Fenster auftauchte und auf Fensterhöhe die Straße hinunterzischte. Wo das Geschoß einschlug, konnte der perplexe Reporter vom Hotel aus nicht feststellen.

Simpson hatte, wohl als einer der ersten Menschen, aus nächster Nähe die Schlußphase der Attacke einer Tomahawk-Cruise-Missile der neuesten Generation miterlebt. Die Marschflugkörper werden wie Raketen von einem Kriegsschiff abgefeuert.

Mittels TERCOM in Baumwipfelhöhe

Nach einem ballistischen Flug übers Wasser, der von einem computerisierten Trägheits-Navigationssystem kontrolliert wird, treibt ein Turbofan-Triebwerk das Geschoß weiter, ähnlich wie ein Flugzeug, aber auf Baumwipfelhöhe, um das feindliche Radar zu unterlaufen. Möglich ist das dank einer elektronischen Steuerung namens TERCOM (Terrain Contour Matching). Sie vergleicht das vom bordeigenen Radar gelieferte Landschaftsrelief laufend mit den entsprechenden Daten der Soll-Flugroute, die dem (ebenfalls an Bord befindlichen) Computer vor dem Start eingegeben wurden, und veranlaßt alle nötigen Kurskorrekturen. Das System arbeitet so präzise und schnell, daß die Tomahawk Hindernissen wie Häusern, Bäumen oder Elektrizitätsmasten in Distanzen von weniger als zwei Metern ausweichen kann. Während des ganzen Flugs besteht die Möglichkeit, dem Computer via Satellit neue Daten einzuspeisen, etwa, um kurzfristig auftauchenden Gefahren aus dem Weg zu gehen.

Im Endanflug kommt dann zusätzlich das digitale Bildverarbeitungs-System DSMAC (Digital Scene Matching Area Correlator) zum Einsatz, das die Umgebung mehrmals pro Sekunde abcheckt und dafür sorgt, daß das Bild der Flugroute mit dem Plan übereinstimmt. Auf diese Weise lassen sich Ziele in über 1000 Kilometern Entfernung mit bisher nicht erreichter Präzision anvisieren - etwa bestimmte Fenster eines Gebäudes.

Ähnliche Präzision sagt man den lasergesteuerten Bomben nach, mit denen die Flugzeuge der alliierten Streitkräfte bestückt sind: Infrarot-Sensoren in der Flugzeugspitze liefern ein Videobild ins Cockpit. Wenn das Ziel auf dem Schirm erscheint, nimmt es der Waffenoffizier ins Fadenkreuz und peilt es mit einem Laserstrahl an. Einmal ausgelöst, steuert die "smarte" Bombe exakt auf den Laserpunkt im Ziel zu - wenn es sein muß, auch auf Umwegen, die ihr aus dem Cockpit elektronisch befohlen werden.

Nicht nur Marschflugkörper, Bomben und die erstmals in einem Konflikt eingesetzten Patriot-Raketensysteme sind vollgestopft mit Computern - der Krieg insgesamt wird von der Elektronik beherrscht: Zum Beispiel im Weltall, wo Dutzende von erdumkreisenden Satelliten für verschiedenste Zwecke im Einsatz stehen. Die wichtigsten sind wohl jene 15, die das sogenannte Global Positioning System (GPS) bilden, ein Navigationssystem, das jederzeit auf Tastendruck metergenaue Ortsbestimmungen zuläßt. Mit GPS-Daten gefütterte Bordcomputer können die schnellen Kampfjets praktisch im Blindflug ans Ziel bringen.

In 12 000 Metern Höhe kreisen die Kommandoflugzeuge vom Typ E-3A, besser bekannt unter dem Namen "AWACS". Die Besatzung verfolgt mit einem riesigen Arsenal von Apparaturen sämtliche Bewegungen am Boden und in der Luft, um den weiteren Ablauf des Geschehens zu steuern und zu koordinieren.

Zu den AWACS-Aufgaben gehört auch das Überwachen und Stören des gegnerischen Funkverkehrs und der Radaranlagen. Wenn dies über längere Zeit gelingt, ist das Chaos perfekt: Kommandanten verlieren die Verbindungen zum Hauptquartier, Piloten wissen nicht mehr, wo der Gegner ist und, schlimmer noch, wo sie selber sind.

Die fliegenden Kommandostationen selber sind gegen Angriffe gut geschätzt - dafür sorgt einmal mehr modernste Elektronik.

Diese registriert sofort, wenn das Flugzeug vom gegnerischen Radar erfaßt wird und reagiert mit dem Aussenden von Hunderten falscher Echos.

Offenbar ist es den alliierten Streitkräften vor allem am Anfang gelungen, das irakische Boden-Kontrollsystem, auf das die irakischen Piloten stark angewiesen sind, empfindlich zu stören. Anders können sich Militärspezialisten die niedrigen Verluste beim ersten Angriff auf Bagdad und andere Ziele vom 17. Januar kaum erklären. Die Air Force hatte ursprünglich damit gerechnet, bei der ersten Welle 25 bis 40 Flugzeuge zu verlieren; nach offiziellen Angaben kehrte nur eine einzige Maschine nicht zurück.

Damit wurden über Nacht die irakischen Luftabwehr-Raketen und -Kanonen zur Hauptgefahr für die angreifenden Flugzeuge. Diese größtenteils radargesteuerten Waffen sind weit verstreut und überaus zahlreich. Allerdings, so die Darstellung des Pentagon, habe man sich in den letzten Monaten bemüht, mit Satellitenhilfe diese Stellungen zu lokalisieren und die Radarsignale aufzunehmen.

Die genaue Kenntnis der Flak-Standorte hat entscheidend mitgeholfen, einige davon auszuschalten, und zwar mit einer Methode, die auf einer einfachen Idee beruht: Aus einer Entfernung von 100 Kilometern abgeschossene amerikanische HARM-Raketen benutzten die von den irakischen Flak-Stationen ausgesendeten Radarstrahlen als Leitschnur, um die US- Raketen mit ihrer tödlichen Fracht dorthin zu steuern.

Die Geschichte der Fliegerabwehr macht anschaulich, wie sich die Kriegstechnologie hochschaukelt: Um angreifende Flugzeuge wirksamer zu bekämpfen, wurden die Flak-Batterien mit Radar-Leitsystemen ausgerüstet. Dies führte zu einer ersten Generation von Anti-Radar-Raketen, die erstmals im Vietnam-Krieg eingesetzt wurden - allerdings mit kläglichem Ergebnis: Simple gegnerische Tricks wie das wiederholte Ein- und Ausschalten des Radars brachten die Computersteuerung dieser Raketen so durcheinander, daß sie ihr Ziel meist verfehlten. Die neuen HARM-Raketen lassen sich mit solchen Mitteln nicht mehr austricksen: Ihnen genügt bereits ein Radarsignal von wenigen Sekunden, um die Sendestation zu lokalisieren.

Massiver Computereinsatz auf dem Boden schließlich hilft, die komplizierte Logistik in den Griff zu bekommen. "Um all die gleichzeitig stattfindenden Manöver von Flugzeugen aus sechs Nationen zu koordinieren", erklärte Charles A. Horner, Oberkommandierender der Flugwaffe am Golf, "müssen meine Leute Zehntausende von Details beachten." So will man beispielsweise vermeiden, daß Flugzeuge der Air Force Bomben aus 10 000 Fuß fallen lassen und damit Kollegen von der Navy gefährden, die weiter unten andere Ziele anfliegen.

Ohne Computerhilfe ist das fast unmöglich. So steht denn im US-Hauptquartier in Saudiarabien auch ein Großrechner, der die Zeitpläne austüftelt, die Flughöhen und -routen festlegt, den Ort für das Auftanken in der Luft bestimmt und die Funkfrequenzen zuweist. Der Computer sorgt auch dafür, daß die Jet-Fighter der Alliierten im Gefecht nicht die Übersicht verlieren und gezielt auf ihresgleichen losgehen. Die Militärs nennen das "deconflicting" (etwa: "konfliktentschärfen").

Es bleiben Zweifel an der Tauglichkeit

Wohin die elektronische Aufrüstung letztlich führt, ist unklar. Sicher ist nur, daß sie eine Eigendynamik erreicht hat, die wohl kaum mehr zu stoppen ist. "Intelligente" Waffensysteme mit punktgenauer Treffsicherheit, "chirurgische Schnitte" ins gegnerische Territorium statt Feuerwalzen und quadratkilometergroßer Bombenteppiche: Dies gilt nach der militärischen Logik als attraktiv, und entsprechend äußern sich auch Militärstrategen wie Jay Kosminsky, Direktor für Verteidigungswissenschaften der amerikanischen Heritage Foundation. "Unsere moderne Technologie", behauptete Kosminsky kürzlich, "hat eine große Zahl amerikanischer und auch irakischer Menschenleben gerettet. Gleichzeitig hat sie den Luftkrieg sehr viel tödlicher gemacht für jene, die wir treffen wollen." Diese Feststellung ist unter den Bedingungen der Kriegszensur wohl vorerst kaum zu widerlegen, aber auch nicht zu beweisen.

Die Schilderung des Reporters Simpson von dem Tomahawk-Angriff und das von einem Fighter-Piloten aufgenommene Video, das zeigt, wie eine lasergesteuerte Bombe genau in den Lüftungsschacht eines irakischen Militärbunkers eindringt, sind für die verantwortlichen Militärs im Lager der Alliierten und die Rüstungsproduzenten willkommene Bestätigungen, daß die hochgezüchtete Technik tatsächlich funktioniert. Denn es gibt andererseits Leute, welche die Tauglichkeit solcher High-Tech-Waffensysteme im Ernstfall in Frage stehen.

Der amerikanische Militärspezialist William Lind zum Beispiel warnt vor falschen Schlüssen: "Wenn Marschflugkörper und lasergesteuerte Bomben bisher im Irak ihre Ziele getroffen haben, heißt das noch lange nicht, daß sie dies auch tun würden, wenn der Kriegsgegner wirksame Abwehrmaßnahmen ergreifen würde."

Kriegssimulation auf dem Computer

Lange bevor der wirkliche Krieg im Golf begann, hatten amerikanische Militärstrategen den bewaffneten Konflikt schon in Dutzenden von Varianten durchgespielt - natürlich auf Computern.

Offenbar gehört auch General Schwarzkopf, der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte, zu den Anhängern elektronischer Kriegssimulationen. Jedenfalls erzählt man sich, er habe nur Wochen vor dem Einmarsch von Saddams Truppen in Kuwait genau eine solche Invasion auf dem Computer durchgespielt. In einem Interview im letzten Oktober gab Schwarzkopf zu Protokoll, er probe den Krieg mit dem Irak auf dem Computer "fast täglich". Allerdings machte er auch die Einschränkung, daß der Rechner nur als Entscheidungshilfe, auf keinen Fall als Entscheidungsträger in Frage käme.

Die Kriegsspiele haben vor allem in den Medien sehr viel Aufmerksamkeit erregt. Der Grund: Die Modelle errechnen bei jeder Variante auch die voraussichtliche Zahl der Toten und Verletzten auf beiden Seiten.

Bei einer Schlacht beispielsweise, die zu Lande bis Bagdad ausgekochten wird, wäre laut Pentagon mit 10 000 toten und 35 000 verwundeten Amerikanern zu rechnen, wie Computer errechnet hätten. Ein besonders schlimmes Szenario ergab sogar 30 000 tote US-Soldaten in den ersten drei Kriegswochen. Der Historiker und pensionierte Oberst Trevor Dupuy - auch er forscht DV-unterstützt - hält so hohe Verluste für ausgeschlossen: "Diese Modelle sind voller Ungenauigkeiten und haben wenig Bezug zu den Realitäten moderner Kriegsführung", wetterte er in der "Washington Post".

Seine eigenen Simulationen prognostizierten zwischen 300 und 3000 toten US-Soldaten. Zu Kriegsbeginn hatte Dupuy zwar mit größeren Flugzeugverlusten gerechnet, deswegen zweifelt er jedoch nicht an seinen Vorhersagen: Vor kurzem publizierte er sein neunzigstes Buch mit dem Titel "Wie man Saddam Hussein besiegt, wenn es zum Krieg kommt."