GMD macht in Adlershof mit Visa Appetit auf Manna

07.01.1994

Im haesslichsten Zipfel der Hauptstadt, einer Betonwueste voller heruntergekommener Baracken, tuefteln Forscher aus Ost und West an neuen Parallelrechner-Konzepten. Die Erben des Suprenum-Projekts wollen beweisen, dass sich deutsche Informatiker nicht vor der US- Konkurrenz im Cyberspace zu verstecken brauchen.

Adlershof: Dieser Name hat fuer Forscher aller Diszi- plinen einen Klang wie Sibirien. Schon von seiner Lage her ist das Viertel an Berlins suedoestlichem Stadtrand - zu DDR-Zeiten Sitz der Akademie der Wissenschaften (AdW) - zur Verbannung praedestiniert.

Von den oestlichen Teilen der Hauptstadt aus noch leidlich erreichbar, ist Adlershof vom Flughafen Tegel eine kleine Weltreise entfernt. Wer dennoch hierher muss - am schnellsten geht das mit der Westberliner U-Bahn nach Rudow, und dann weiter mit dem Taxi -, der fuehlt sich in eine andere Welt versetzt. Alles ist trist, grau, heruntergekommen. Kurz: Auf den ersten Blick entspricht Adlershof westlichen Klischees von sozialistischer Misswirtschaft. Die Ramschbasare, die sich rings um das Akademie- Grundstueck an der Rudower Chaussee breitgemacht haben, werten die Gegend auch nicht unbedingt auf.

Auf dem AdW-Gelaende, das man ueber eine zentrale Zufahrt mit der schlichten Hausnummer 5 erreicht, ist der Zustand vieler Bauten so miserabel, dass eine Renovierung kaum lohnt. Und doch haben die Bonner Forschungspolitiker ausgerechnet Adlershof zum Standort ihres derzeit ehrgeizigsten Zukunftsprojekts auserkoren. In den naechsten Jahren soll das staatseigene Areal zur ersten Adresse in der gesamtdeutschen Forschungslandschaft mutieren. Chemiker, Physiker und Informatiker aus Ost und West sind angetreten, um hier auf Geheiss des Bundesministeriums fuer Foschung und Technologie (BMFT) eine "integrierte Landschaft von Wirtschaft, Wissenschaft und Lehre" aus dem Boden zu stampfen, ein Eldorado in der Wueste.

Zu den Pionieren, die dieses trostlose Terrain urbar machen sollen, gehoeren auch die Mitarbeiter des Forschungsinstituts fuer Rechnerarchitektur und Softwaretechnik (First). Fuer sie war es ein Umzug vom pulsierenden Herzen Westberlins an die oedeste Peripherie - das First sass frueher am Hardenbergplatz nahe dem Bahnhof Zoo. Eingeweihte erinnern sich: Das Institut, ein Ableger der Gesellschaft fuer Mathe- matik und Datenverarbeitung mbH (GMD), hatte in den acht- ziger Jahren eine Schluesselrolle im Suprenum- Projekt gespielt, das den deutschen Rueckstand in der Supercomputer-Entwicklung wettmachen sollte - und sein ehrgeiziges Ziel nie erreichte. Doch die GMD-Spezialisten sind nicht zur Strafexpedition nach Adlershof abkommandiert worden - schon deshalb nicht, weil sie den Geburtsfehler von Suprenum gar nicht zu verantworten haben:

Der Bau des deutschen "Super rechners fuer numerische Anwendungen" war von Bonner Buerokraten als Gemeinschaftsprojekt mehrerer Forschungsinstitute mit einer in diesem Markt nicht heimischen Privatfirma angelegt worden.

Zu unvermeidlichen Abstimmungsproblemen kamen Verzoegerungen bei der Entwick- lung von Compilern, fuer die die Berliner nicht zustaendig waren. Nein, die Umsiedlung der First-Forscher steht ganz im Zeichen des "Aufbaus Ost": Wenn der GMD-Ableger schon eine 38koepfige AdW-Mannschaft in seinen Stab integrieren musste, warum sollten dann nicht die Wessis in den Osten gehen? Schliesslich boten die spartanischen Raeumlichkeiten in Adlershof ausreichend Platz fuer alle.

Pilotprojekt zum Test

von Programmiertechniken

Aber was fuer eine Atmosphaere. Trotz der grossen Bonner Plaene ist die Infrastruktur bislang so deprimierend wie der Blick aus den blindgewordenen Fenstern. Zwar waechst zwischen den Altbauten langsam ein neues First-Gebaeude in die Hoehe, doch weit und breit finden sich keine netten Lokale, keine schoenen Geschaefte, kein Stadtpark, keine Ablenkung. Die beste Methode, dem Truebsinn zu entgehen, besteht vorerst wohl darin, sich tief in seine Arbeit und die virtuelle Welt der Software zu vergraben.

Die Resultate dieses Wirkens koennen sich sehen lassen. Etwa die Fortschritte bei Manna (der Name steht fuer "Massiv-parallele Architektur fuer numerische und nichtnumerische Anwendungen"), einem kompakten Geraet in den Abmessungen eines besseren Servers: ein kleiner Phoenix, erwachsen aus der Asche des Suprenum- Projekts.

Diesmal ist freilich alles anders. War Suprenum unbeabsichtigt zum reinen Studienobjekt ohne kommerzielle Relevanz geraten, ist Manna ein voll funktionsfaehiger Parallel-Supercomputer, der den Vergleich mit einer industriell gefertigten Serienmaschine nicht zu scheuen braucht. Waere die GMD damals froh gewesen, jemand haette einen Suprenum gekauft, kriegt man Manna nicht fuer Geld und gute Worte.

Kurz gesagt: Manna ist der Formel-1-Bolide, auf dem das First neue Programmiertechniken fuer massiv-parallele Computer testet. Als Strassenversion duerfte das Institut ihn gar nicht bauen, das muesste schon ein Lizenznehmer aus der Privatindustrie uebernehmen. Denn Manna versteht sich als Pilotprojekt im Sinne des "Rubbia- Reports", jenes Forderungskatalogs fuer eine europaeische Supercomputer-Initiative, den eine Expertenrunde unter Leitung des Physikers Carlo Rubbia 1991 aufgestellt hat.

Das Interesse der Firsten von Adlershof gilt in erster Linie den grundsaetzlichen Schwierigkeiten der Parallelrechnerei. So suchen sie Programmiermodelle, "die nicht wie das nachrichtenorientierte Modell" (Message-Passing) "der Natur des Rechners entsprechen, sondern der Natur der Anwendung". Sie versuchen das Dilemma zu loesen, dass die einzige beliebig skalierbare Architektur, das "Virtual Shared Memory" (GMD-Jargon: "VGS" oder "virtueller gemeinsamer Speicher"), in der Praxis aeusserst unbefriedigende Leistungen bringt. Sie tuefteln unter dem Schlagwort "Latency hiding" an Kompromissen aus Rechengeschwindigkeit und Datenkonsistenz, zwei widerstrebenden Faktoren bei verteilten Speichermodellen. Und sie bereichern mit "Peace" (Process Execution And Communication Environment) die Betriebssystem- Welt um ein paralleles, objektorientiertes Exemplar.

Obwohl die am Forschungsbereich Rechnerarchitektur (Leitung: Peter Behr und Professor Wolfgang Giloi) zwischen 1990 und 1993 entwickelte Manna-Hardware im wesentlichen auf Standardkomponenten aufbaut, verbergen sich auf den Leiterplatten der dunkelblauen Box interessante Details.

So sitzen auf jedem Rechnerknoten gleich zwei der handelsueblichen i860XP-Prozessor-Chips von Intel (50 Megahertz) - im Normalfall ist einer von ihnen fuer die Kommunikation mit den anderen Knoten reserviert. Bei weniger kommunikationsintensiven Anwendungen (wie dem Ray-Tracing) kann der Kommunikationsprozessor jedoch als zusaetzlicher Applikationsprozessor eingesetzt werden. Auf den lokalen Speicher des Knotens haben beide Zugriff.

Bisher begnuegen sich die Berliner mit 32 Prozessoren beziehungsweise 16 Rechnerknoten; gaebe es einen Produzenten, koennte eine solche Maschine (Spitzenleistung: 1,6 Gigaflops) zum Stueckpreis von 300 000 Mark auf dem Markt angeboten werden. Groessere Manna-Konfigurationen existieren erst auf dem Papier. So koennten ueber am First entwickelte Crossbar-Schalter zunaechst 16 Cluster aus je zwoelf Knotenrechnern verknuepft werden; in einer naechsten Stufe wuerden diese Cluster zu Ueber-Clustern zusammengeschaltet. "Bis zu 1000 Knoten waeren problemlos herstellbar", behauptet Manna-Entwickler Ulrich Bruening selbstbewusst.

Freilich hat die GMD nicht das Budget, eine solche Maschine zu bauen - sie wuerde an die zehn Millionen Mark kosten. Dass theoretisch sogar 10 000 Knoten moeglich waeren (damit wuerde Manna die magische Marke von 1 Teraflops erreichen), sei nur der Vollstaendigkeit halber erwaehnt, denn der Ehrgeiz der Forscher von Adlershof gilt ohnehin nicht den Hardwaresuperlativen.

Wichtig ist dagegen alles, was real existierenden Anwendern den Einsatz paralleler Maschinen leichter macht. Beispiel Peace: Diese "Familie" von adaptiven Knoten-Betriebssystemen, die der First- Forschungsbereich Softwaretechnik unter Professor Stefan Jaehnichen entwickelt, ist nicht nur auf die Manna-Architektur oder Intel- Prozessoren geeicht. Manna ist nur das Werkzeug. Peace kann auf Transputermaschinen von Parsytec laufen, aber auch auf Clustern von Unix-Workstations.

Das Prinzip besteht darin, die Hardware "transparent" zu machen - der Programmierer soll nur noch die Anwendung sehen und nicht mehr den Rechner, der darunter liegt, ganz gleich, wie er konfiguriert ist. Weil derartige Software aber normalerweise viel Rechnerleistung frisst, wurde Peace (objektorientiert in C++ programmiert) als modular konfigurierbares Betriebssystem konzipiert: Nur die benoetigten Teile werden in den Arbeitsspeicher geladen.

Mit der Visa-Karte

rollt Nofretetes Kopf

Von alledem merkt der Be- sucher nichts, der sich in Berlin die Anwendungen ansieht, die bereits auf Manna unter Peace laufen. Wohl aber von der Darstellungsqualitaet der Computergrafiken und - animationen. Optisch noch eindrucksvoller als das von Professor Sydow und seinen Mitarbeitern entwickel- te Umweltsimulationsprogramm Dymos - "Dynamische Modelle fuer die Smoganalyse" - sind Beispiele aus der Sparte 3D-Anima- tion.

Wenn Nofretetes Kopf auf dem Monitor rotiert oder das Raumschiff "Enterprise" (siehe Foto Seite 30) durchs Bild huscht, steckt der Visualization Accelerator (Visa) dahinter, ein am First speziell fuer Manna entwickeltes Grafiksubsystem. Visa gilt als erste Hardware-Implentation des anspruchsvollen Phong-Algorithmus. Bei Phong-Abbildungen wirken Oberflaechentexturen und Schatten zwar realistischer als die ueblichen Gouraud-Darstellungen; als reine Softwareloesung kam diese Technik aber wegen des unverhaeltnismaessig hohen Rechenaufwandes zumindest bei Echtzeitanimationen nicht in Frage.

Unabhaengigkeit zaehlt

mehr als der Kommerz

Sollte Visa urspruenglich nur die Ergebnisse von Manna-Berechnungen bildlich darstellen, haben die Projektleiter Reinhard Rasche (Software) und Herbert Ruesseler (Hardware) mit ihren Teams - in Kooperation mit der Technischen Universitaet Berlin - mittlerweile auch Versionen fuer Workstations entwickelt. Unversehens rueckt das Supercomputer-Abfallprodukt damit in die Naehe des Massenmarktes. Ueberschlaegige Kalkulationen ergaben, dass bei entsprechender Stueckzahl ein Preis von einigen tausend Mark realistisch waere; Chancen fuer eine kommerzielle Version koennten im Bereich Virtual Reality liegen.

Ein industrieller Partner steht zwar noch nicht fest, doch immerhin haben die GMD-Experten mit Visa bereits die Aufmerksamkeit von IBM und Motorola geweckt.

Trotz solcher Kontakte zur freien Wirtschaft scheint sich der Drang der Experten, der Wueste Adlershof zu entrinnen, in Grenzen zu halten. Fuer manchen Mitarbeiter gibt es offenbar Schlimmeres: etwa sich den kommerziellen Zwaengen zu unterwerfen, die in der Industrie die Arbeit bestimmen.

Nicht untypisch das Argument eines First-Forschers, der auf ein schniekes Buero und hoeheres Gehalt verzichtet, weil ihm an- wendungsorientierte Forschung mehr liegt als Produktentwicklung: "Da waere ich nicht mehr unabhaengig."