"Gewerkschaften verschlafen, Unternehmer naiv

20.01.1989

Mit Prof. Dr. Erich Staudt, Vorstandsvorsitzender des Instituts für angewandte Innovationsforschung, Bochum, sprach Wolf-Dietrich Lorenz

Harsche Kritik übt Erich Staudt an Unternehmen und Gewerkschaften: Innovationswiderstand wirft der Arbeitsökonomie-Lehrer beiden Gruppen vor. Sie hätten kein Interesse an Änderungen ihres Systems, weil dies lästig, schwierig und kompliziert sei. Als Folge würden erhebliche Ressourcen verschwendet, wenn Mitarbeiter in Freizeit beziehungsweise Arbeitslosigkeit abgeschoben würden. In den Betrieben, so Staudts These, seien die Begabungen viel höher, als die meisten Führungskräfte und Betriebsräte glaubten. Sein Vorschlag: Weiterbildung statt Freizeit, wenn wieder mal Arbeitszeitverkürzungen anstehen.

- Herr Staudt, ist Innovation ein Schlagwort oder Schlagwetter für die deutsche Wirtschaft?

Innovation ist für viele nur ein Schlagwort, das unverdaut beschreibt, was eigentlich nie ausgeschlossen war, nämlich schlicht: Entwicklungsprozesse. Allerdings klingt mit, daß es zunehmend schwieriger wird, Neues einzuführen und Veränderungen durchzusetzen.

- Warum wurde aus "Innovation" eine Modewelle?

Ich kann nur darüber spekulieren. In den 70er Jahren bestimmte die Diskussion über die Grenzen des Wachstums das Denken. In den 80e Jahren wurde aber deutlich, daß auch weiterhin Änderungen notwendig sind, die nicht nur von negativen Auswirkungen begleitet werden - qualitatives Wachstum also.

- Wie hängen neue Techniken und Innovation zusammen?

Wegen der Forderungen nach quantitativem wie auch qualitativem Wachstum spielen die vorhandenen großen technischen Möglichkeiten eine Schlüsselrolle. Neu ist indes: Noch nie wurde in der Industriegeschichte so intensiv über Technik diskutiert, ohne sie wirklich anzuwenden. Ich behaupte, es gibt bislang mehr Studien über diese neue Technik als konkrete Anwendungsfälle.

- Also doch ein Schlagwetter? Zählt die Innovationsmentatlität nicht zu den deutschen Tugenden?

Es ist doch menschlich ganz verständlich, daß eine saturierte Gesellschaft, ebenso wie Unternehmen mit Jahrzehnte andauernden Erfolgsquoten, vor Änderungen zurückschrecken. Innovationen betreiben immer nur Minderheiten, und sie stören damit die Mehrheit: in jedem Betrieb querbeet, bis hinauf in die Vorstandsetagen.

- Ist Innovation so unbequem, daß das Wachstum auf der Strecke bleibt?

Warum kommt Innovation nicht voran? Ende der 70er Jahre stellt sich bereits der zentrale Engpaß heraus. Mangel an Qualifikation. Nicht Wissenslücken über Mikroelektronik- oder Computertechnik, sondern Qualifikationsdefizite, mit dieser Technik sinnvoll umzugehen, waren - und sind - vorhanden. Doch Qualifikation selbst zu innovieren ist nur dann möglich, wenn der Leidensdruck groß und die Krise größer wird. Innovationen kommen nur voran, wenn Mitarbeiter Qualifikationen und Motivationen wirklich auf ihre Person beziehen.

Betrachten Sie doch eine Geschäftsführung, die bereits 20 Jahre das Ruder hält und die verbleibenden drei Jahre Laufzeit ihres Vertrages aussitzen möchte. Fehlt ihr nicht häufig die Motivation noch etwas völlig Neues zu betreiben? Oder sehen Sie den mittelständischen Unternehmer mit 30 Jahren Nachkriegserfolg, der plötzlich elektronische Steuerungen braucht. Muß er nicht seine unternehmerische Selbständigkeit in Frage stellen, wenn er keinen qualifizierten Angestellten findet, und deshalb einen neuen Partner mit ins Boot nehmen muß?

- Ohne Vorsorge für Qualifikation und Motivation ihrer Mitarbeiter sind erfolgreiche Branchen von heute also die Verlierer von morgen?

Zum einen: Unternehmen sind endliche Veranstaltungen, eine offene Marktwirtschaft lebt davon, daß neue kommen und alte gehen. Zum anderen: Wenn ich es verstehe, mit Neuem aktiv umzugehen, bestehen solche Veranstaltungen eben eine weitere Periode.

- Innovation sichert also mitnichten den Markterfolg?

Mitnichten. Es sind häufig Fehlschläge in der Anpassung, die als Innovation verkauft werden. Denn ist es bereits ein betriebswirtschaftlicher und unternehmerischer Erfolgsausweis zu sagen: "80 Prozent meines Umsatzes mache ich mit Produkten, die weniger als fünf Jahre alt sind"? Kann nicht genausogut die Ursache darin liegen, daß dieses Unternehmen zehn Jahre lang etwas verschlafen hat? Oder es ist zu einer konkreten Marktanpassung überhaupt nicht in der Lage. Beispiele für solche Versuch- und Irrtumprozesse liefert die Computerei mit ihren jährlich neuen PC-Generationen, die dann zu 80 Prozent wieder aus dem Markt ausscheiden.

- Lautet das Rezept also: Keine Innovation ohne ein unternehmensstrategisches Konzept?

In der modernen wissenschaftlichen Betriebsführung geht es naiv technokratisch zu. Es wird angenommen, aus einer Marktanalyse lasse sich bereits ein strategisches Konzept ableiten - und die Bauchlandung ist programmiert. Ich vertrete ein potentialorientiertes Konzept. Nicht: Was soll ich machen, sondern: Was kann ich eigentlich machen, ist die Frage. Zum Beispiel mit jenem Personal, das ich im Betrieb habe, und das oft mehr an Potential aufweist, als eigentlich in unseren klassisch geregelten Organisationen genutzt wird. Innovation meint ja mehr als modische Technik, nämlich jenes Neue, auf das andere bisher nicht gekommen sind.

- Mangelt es nicht aber gerade an Personal und Qualifikationen für neue Techniken?

Die Wirtschaft zum Beispiel beschwört einen Engpaß an Informatikern und wirft den Hochschulen vor, eine verfehlte Ausbildungspolitik zu betreiben. Wie können die Universitäten denn Ausbildungsgänge für Technikanwendungen einrichten, bevor es diese überhaupt gibt? Der Timelag im öffentlichen System beträgt bekannterweise 15 Jahre. Engpaßprobleme im Qualifikationsbereich sind Indiz dafür, in der Vergangenheit nicht nur verpaßt zu haben, Geld in Forschung und Entwicklung investiert zu haben, sondern auch in Personalqualifikationen. Denn Personalentwicklung muß vor der technischen Entwicklung kommen. Nur Technik zum Einsatz bringen hilft nicht. Wer hat das Know-how, sie auch zu bewältigen? Ich schätze, daß aus diesem Grund mehr als die Hälfte der installierten Informations- und Kommunikationstechnik hierzulande gar nicht genutzt wird.

- Ist die deutsche Innovationsbilanz nicht ausgeglichen, weil uns die Fachleute fehlen?

Da wir auf einem relativ hohen Ausbildungsniveau stehen, bringen wir recht gute Voraussetzungen für eine ausgeglichene Bilanz mit. Es muß uns nur gelingen, die vorhandenen Qualifikationen auch zu aktualisieren. Die Up-to-date-Qualifikation nehme ich nämlich nicht aus der Erstausbildung mit. Da muß der Betrieb selbst investieren und präventiv qualifizieren.

- Wann? Während der Arbeitszeit?

Ja. Anstatt nämlich weiter Arbeitszeit zu verkürzen, sollten die Tarifpartner Zeit für Qualifikationsmaßnahmen vertraglich absichern. Schließlich behaupten sie landauf landab, wir stünden erst am Anfang neuer Technikanwendungen, wir erwarteten ja noch den großen Schub. Dazu können wir nicht technokratisch vorplanen, was an Qualifikation im Jahr 2010 richtig ist. Also bleibt nur der Weg über diesen Anpassungsprozeß. . .

- . . . der tariflich gesicherten Weiterbildung, wie sie die Gewerkschaft bereits fordert?

Die Gewerkschaften entdecken, wie notwendig Weiterbildung ist, nachdem sie zuvor hundert Jahre verschlafen haben. Teile der Arbeitgeber sind wiederum noch immer furchtbar naiv und versuchen, sich Mitbestimmungsprobleme im Weiterbildungsbereich vom Hals zu halten. Wenn aber Arbeitnehmer weitergebildet werden, sollten sie doch wissen, warum.

Die Hinhaltetaktik, wie sie Gewerkschaftsvertreter, aber auch Organisatoren in Unternehmen, häufig noch betreiben, bedeutet Innovationswiderstand. Ihr Interesse an Änderungen in ihrem System ist gleich Null, denn: Das ist neu, das ist lästig, das ist schwierig, das ist kompliziert. Wir verschwenden derzeit erhebliche Ressourcen, indem wir Arbeitskräfte in Freizeit und Arbeitslosigkeit abschieben und uns gleichzeitig über Kompensationsaktivitäten wie etwa die Qualifizierungsoffensive der öffentlichen Hand unterhalten, die gar nicht mehr finanzierbar bleibt. Dabei ist in den Betrieben das Weiterbildungsreservoir, sind die Begabungen viel größer, als die meisten Führungskräfte und Betriebsräte glauben.