Gesundheitsmarkt: Wachstum mit Tücken

10.05.2007
Von Magdalena Schupelius
Kliniken brauchen IT-Spezialisten für Großprojekte. Das Geld ist allerdings knapp.

Es ist ein Zukunftsmarkt. Eine Studie von Roland Berger prognostiziert dem deutschen Gesundheitssektor eine Steigerung des Gesamtumsatzes von heute 260 Milliarden Euro auf 450 Milliarden im Jahr 2020. Einen besonders lukrativen Bereich innerhalb dieses Marktes bildet die Informationstechnologie. Branchenexperten erwarten, dass die IT-Ausgaben im Gesundheitssektor in den kommenden Jahren rasant steigen werden. Die Wachstumsraten liegen mit rund fünf Prozent deutlich über denen anderer Branchen.

Hier lesen Sie

…wie sich der IT-Markt im Gesundheitssektor entwickelt;

…in welchen Bereichen es zum Fachkräftemangel kommen wird

…welche Qualifikationen gefragt sind;

…warum in den Kliniken nur wenige neue IT-Stellen entstehen werden.

Harald Deutsch, für den Bereich Healthcare verantwortlicher Partner bei Accenture, geht davon aus, dass diese Entwicklung anhält. Sein Unternehmen rechnet allein in diesem Jahr mit gut 1000 Neueinstellungen in Deutschland und liegt damit im Trend:

Für eine aktuelle Gemeinschaftsstudie der Fachhochschule (FH) Flensburg und des Personaldienstleisters Gemini Executive Search wurden rund 150 Industrieunternehmen aller Größenordnungen zur Bedeutung des Gesundheitssektors befragt. 85 Prozent der Unternehmen erwarten ein Umsatzwachstum und wachsende Beschäftigung in diesem Sektor. Roland Trill, Professor im Fachgebiet E-Health an der FH Flensburg und Leiter der Studie, sieht denn auch die IT im Gesundheitssektor als Jobmotor der Zukunft: "Allein die Angaben der in unserer Stichprobe enthaltenen Unternehmen summieren sich auf 98.500 neue Stellen für Deutschland."

Jens Naumann, VHITG: "Der Mittelstand bietet gute Jobchancen im E-Health-Geschäft."
Jens Naumann, VHITG: "Der Mittelstand bietet gute Jobchancen im E-Health-Geschäft."

Tatsächlich gibt es einen gewissen Nachholbedarf. Während in den vergangenen Jahren vor allem in die Administration investiert wurde, werden nun die Weichen neu gestellt. Auch die vom Gesetzgeber erarbeiteten Vorgaben zur elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur werden einen weitreichenden Einfluss auf die IT-Landschaft im Gesundheitssektor haben. Themen wie die Standardisierung von Protokollen und Schnittstellen und die IT-Unterstützung medizinischer Abläufe bestimmen die Projekte der kommenden Jahre. An technisch reifen Lösungen besteht kein Mangel.

Auch künftig knappe Budgets

Doch damit ist es nicht getan. Trotz herausragender Prognosen betreten IT-Experten mit dem Gesundheitssektor stürmisches Terrain. "Insbesondere die Kliniken haben mit enormen Problemen zu kämpfen", schildert Jochen Richter, Senior Manager im Bereich Healthcare bei Pricewaterhouse-Coopers in Frankfurt am Main. Der Kostendruck sei extrem hoch, und in den Häusern selbst fehle häufig das Know-how, um anstehende Neuerungen umzusetzen. Zwar sei die Verbesserung der Effizienz und damit verbunden die Ausschöpfung weiterer Einsparspotenziale zweifellos ein Motor beim Aufbau einer leistungsfähigen IT-Struktur in den Krankenhäusern, aber, so Richter, "den Einsparungen sind Grenzen gesetzt".

Aladin Antic, Vamed: "Es ist noch unklar, wie der Bedarf finanziert werden soll."
Aladin Antic, Vamed: "Es ist noch unklar, wie der Bedarf finanziert werden soll."

Das gilt vor allem für die öffentlichen Krankenhäuser, die eine breite Versorgung bereitstellen müssen. "Für den Krankenhaussektor ist eine der gravierenden Folgen der aufgrund knapper öffentlicher Kassen bestehende Investitionsstau in Höhe von etwa 50 Milliarden Euro", sagt Aladin Antic, Geschäftsbereichsleiter IT bei der Vamed Management und Service GmbH, Berlin, die international Gesundheitsprojekte betreibt. Die IT-Budgets der Kliniken seien vom Investitionsstau stark mitbetroffen. Der Bedarf existiere – wie er aber finanziert werden soll, sei ungeklärt. "Die Finanzierungskonzepte der Zukunft werden vielfältiger sein als bisher"; meint Klaus Thomé, bei T-Systems in Berlin verantwortlich für das Lösungsgeschäft in Krankenhäusern. "Wir müssen hier verstärkt nach kreativen Ansätzen suchen."

Management-Strukturen fehlen

Harald Deutsch: "In vielen deutschen Kliniken fehlen hauptamtliche Manager."
Harald Deutsch: "In vielen deutschen Kliniken fehlen hauptamtliche Manager."

Tatsächlich hat der chronische Geldmangel im Gesundheitswesen neben den knappen Budgets auch indirekte Auswirkungen auf die Erweiterung der IT-Struktur. "In vielen deutschen Kliniken findet man noch immer die traditionelle Aufteilung in Arzt, Pflege und Verwaltung, es fehlt an hauptberuflichen Managern", erläutert Harald Deutsch. Die Folge ist, dass den IT-Projekten in der Vergangenheit häufig keine eindeutige Unternehmensstrategie zugrunde lag. Investiert wurde zudem überwiegend in IT, die die Administration unterstützte. "Früher heterogene, zersplitterte und deshalb mit geringem Wirkungsgrad implementierte Einzellösungen waren für das Gesamtunternehmen nicht wertschöpfend", meint Peter Gocke, Mediziner und Leiter des Geschäftsbereichs IT im Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE).

IT-Lösung für 170 Ambulanzen

Das UKE erarbeitete eine Gesamtstrategie, in die sich die einzelnen IT-Projekte nun einfügen müssen. Die IT-Ausstattung wird um moderne Infrastruktur wie VoIP-Telefonie inklusive Unified Messaging System und flächendeckendes WLAN erweitert, die Patientenbetten erhalten Multimedia-Terminals, die später den Zugriff auf die geplante elektronische Patientenakte ermöglichen. Außerdem wird die IT-Lösung für die mehr als 170 Spezialambulanzen vereinheitlicht, und ein neues klinisches Arbeitsplatzsystem (KAS) geht in die finale Konzeptphase. In allen Fällen gilt, so Gocke, dass erst der Prozess genau definiert sein muss, bevor eine IT-Unterstützung erfolgen kann: IT follows process.

Das allerdings funktioniert nur, wenn, wie am UKE, medizinisches Personal und gutausgebildete IT-Experten eng zusammenarbeiten. Aus dieser Verzahnung ergeben sich veränderte Qualifikationsanforderungen. Michael Reng ist als Chefarzt am Kreiskrankenhaus Bogen und CEO der von ihm gegründeten Firma Medic-DAT GmbH in Regensburg in beiden Welten zu Hause. Seiner Ansicht nach müssen in Zukunft die medizinischen Abläufe mehr in den Vordergrund der IT-Strategie rücken. "Um die klinisch-medizinischen Prozesse zu unterstützen, wäre es wichtig, die administrative Dokumentation als "Abfallprodukt" der medizinischen Dokumentation weitgehend zu automatisieren," sagt er, "Tatsächlich leben aber administrative und medizinische Dokumentation nebeneinander her."

Michael Reng, Medic-Dat: "Qualifizierte IT-Fachkräfte sind für kleine Kliniken nicht bezahlbar."
Michael Reng, Medic-Dat: "Qualifizierte IT-Fachkräfte sind für kleine Kliniken nicht bezahlbar."

Die strategische Ausrichtung der Projekte, die erforderlich ist, um hier Verbesserungen zu erzielen, können nur qualifizierte Fachkräfte leisten, und die sind jetzt schon Mangelware. Außerdem sind sie, so Reng, insbesondere für kleinere Kliniken nicht bezahlbar. Jens Naumann, Vorsitzender des Verbandes der Hersteller von IT-Lösungen für das Gesundheitswesen (VHITG), Berlin, stellt fest: "Karriereperspektiven für IT-Experten gibt es realistisch nur bei den Klinikketten oder den großen Krankenhäusern ab 1000 Betten. Die Verdienstmöglichkeiten sind hier meist geringer als in der Industrie." Eine administrative Zusammenführung kleiner Kliniken ist unter finanziellen Aspekten zwar sinnvoll, führe aber nicht zu einer Vermehrung der Stellen in den IT-Abteilungen.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich zwar ein chancenreicher Markt für externe Beratungshäuser, der, davon ist Accenture-Partner Deutsch überzeugt, "erhebliche Nachfrage auf sich ziehen wird". Doch die Anforderungen an die Berater sind sehr hoch. Sie müssen von der Konzeption bis zur Schulung der Mitarbeiter neben den einzelnen Abläufen auch das komplexe Gefüge der Klinik überblicken. "Wir suchen bei Accenture hauptsächlich IT-Spezialisten mit zusätzlicher medizinischer oder wirtschaftswissenschaftlicher Spezialisierung", sagt Deutsch, der selbst Arzt und Physiker ist.

Markterwartungen

  • 85 Prozent der befragten Krankenhausverantwortlichen, Ärzte, Kassenvertreter und Industrie-Manager sehen in E-Health-Anwendungen einen zentralen Wettbewerbsfaktor im deutschen Gesundheitswesen;

  • 96 Prozent der Anbieter sehen in E-Health-Anwendungen einen zentralen Wettbewerbsfaktor;

  • 80 Prozent der befragten Unternehmen erwarten ein Umsatzwachstum;

  • 85 Prozent der befragten Unternehmen erwarten eine wachsende Beschäftigung bis 2015;

  • 92,5 Prozent der befragten Unternehmen verlangen Branchenkenntnisse von ihren neuen Mitarbeitern.

Quelle: "E-Health Deutschland 2006 – 2015". FH Flensburg /Gemini Executive Research

Karriereplus Doppelstudium

Ein Doppelstudium, so meint er, eröffnet IT-Fachleuten optimale Aufstiegsmöglichkeiten in der Gesundheitsbranche. "Ärzte mit technischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Aufbaustudien etwa haben herausragende Aussichten", ist Deutsch überzeugt, allerdings dürften sie die beruflichen Weichen nicht zu spät stellen: "Nach der Facharztausbildung sind viele zu alt." Auch die Verdienstaussichten sind für Fachleute mit Doppelstudium weit überdurchschnittlich, so dass ein Medizininformatiker laut Deutsch ein sechsstelliges Jahresgehalt erzielen kann. Ein grundlegendes Prozessverständnis, das Außenstehende, die nie in einem Klinikablauf tätig waren, selten mitbringen, ist allerdings unabdingbar. In den großen Beratungshäusern wie T-Systems, Accenture und Pricewaterhouse-Coopers arbeiten schon jetzt Ärzte ebenso wie Pflegekräfte und medizinisch-technische Assistenten mit entsprechender Zusatzqualifikation in den Projektteams.

E-Health-Ausbildung

Jens Naumann, VHITG
Jens Naumann, VHITG

"Den eklatantesten Mangel sehe ich an Personal, das Themen wie Business-Process-Management und Projekt-Management beherrscht", sagt IT-Bereichsleiter Antic. Um dem zu begegnen, wurde an der Fachhochschule in Flensburg der Master-Studiengang E-Health eingerichtet. In Kooperation mit Partnern aus der Industrie und dem UKE stellen die Professoren das Projekt-Management in den Kliniken, das Qualitäts-Management und die Prozessoptimierung in den Vordergrund der Ausbildung. Roland Trill von der FH Flensburg rechnet mit hervorragenden Aussichten für die ersten Studenten, die im September dieses Jahres ihr Studium aufnehmen werden. "Der Fachkräftemangel ist schon jetzt so groß", so berichtet er, "dass unsere Industriepartner teilweise eigene Mitarbeiter in dieses Studium schicken."

Gute Einstellungschancen könnten die Absolventen auch im Mittelstand haben. "Neben den großen Unternehmen wird der Markt noch immer von vielen Mittelständlern bedient", sagt Jens Naumann vom VHITG. In dem sich auffächernden Markt werden sich viele Nischen für innovative mittelständische Unternehmen bieten. Davon ist auch Klaus Thomé von T-Systems überzeugt: "Die Arbeitsplätze in der Branche entstehen im Wesentlichen im Mittelstand."

Eines aber gilt auch für die Nischenanbieter: Die eigentliche Herausforderung bleibt die Finanzierung. Antic: "Die IT-Etats werden zwar wachsen, aber das wird nicht reichen. Hier müssen die Krankenhäuser alternative Ansätze suchen." Und Chefarzt Reng befürchtet: "Da Mehreinnahmen in den Krankenhäusern bei egal welcher Leistungssteigerung dank Deckelung nicht machbar sind, bedeutet das, dass die Kliniken noch mehr sparen müssen – im schlimmsten Fall an der Versorgungsqualität." (hk)