Convergent Engineer - ein neues Berufsbild

Gesucht wird der erfahrene IT-Designer mit Visionen

01.08.1997

Der Autor, im September 1996 zum Convergent Engineer ausgebildet, hat die CE-Technik (siehe Kasten "Convergent Engineering") seither mehrfach eingesetzt. Die Ergebnisse sind ermutigend, aber es macht sich doch das Fehlen fortschrittlicher Werkzeuge bemerkbar. Das gilt insbesondere dann, wenn die Designaufgabe komplex wird. Bereiche, in denen Unternehmen Standardsoftware (SAP, Baan) einsetzen, haben einen so hohen Komplexitätsgrad erreicht, daß eine völlig neue Modellierung zu aufwendig wird und am Ende nicht ergiebig ist. Reine Diagrammtechniken wie etwa die Unified Modelling Language (UML), die durchaus verträglich mit CE sind, stoßen bei den Fachleuten in den Abteilungen auf wenig Gegenliebe.

Hilfreich wäre hier die Unterstützung durch Präsentations- und Simulationswerkzeuge, die die interessanten Teile eines Modells einem echten Praxistest unterziehen helfen. Genau hier setzt die "Enterprise Engine" an, wie CE-Erfinder David Taylor sein neues Tool nennt, das derzeit in der von ihm geführten Enterprise Engines Inc. entwickelt wird. Dieses Universalwerkzeug soll die Errichtung von Geschäftsobjektmodellen und den dazu gehörigen Geschäftsregeln in einfacher Sprache erlauben. Regeln werden dabei in formalisierter natürlicher Sprache notiert. An dieses "lebende" Modell können dann im Sinne des "Legacy Wrapping" echte Systeme angekoppelt werden, und aus dem Modell kann im Idealfall lauffähige Software werden. Diese "Engine" wird derzeit für Java umgeschrieben, sie entstand in Zusammenarbeit mit Gemstone zunächst auf Basis von Smalltalk.

Taylor hat zur Verbreitung der Ideen des CE ein Convergent Engineering Institute (CEI) gegründet, das seit Anfang des Jahres mittlerweile auch mit einer europäischen Filiale vertreten ist. Das CEI ist übrigens auch als virtuelle Community im Internet organisiert (www.engines.com).

In Deutschland engagieren sich einige Firmen mit objektorientiertem Hintergrund stark in Sachen CE. Interactive Objects, Freiburg, hat mit Taylor das CEI Europe gegründet und bildet in Freiburg Convergent Engineers aus. Condat GmbH, Berlin, ließ bereits mehrere Convergent Engineers ausbilden und setzt die Technik in vielen Projekten ein. Siemens wurde von Taylor persönlich beraten und arbeitet jetzt ebenfalls an verschiedenen Stellen mit der Methode.

Insgesamt gibt es weltweit rund 120 zertifizierte CEs, in Deutschland sind es etwa 20. Die Zertifizierung zum Convergent Engineer kann nur durch Taylor selbst oder die "Master"-CEs erfolgen; das sind Convergent Engineers, die nachweislich die Technik in etlichen Projekten eingesetzt haben und auch sonst über das erforderliche Know-how und die persönliche Eignung verfügen. CE richtet sich an erfahrene Informatiker, die einen starken Background in objektorientierter Denk- und Arbeitsweise haben.

Die Technik verlangt analytische, kreative und vor allem kommunikative Fähigkeiten - in den Design-Sessions müssen die CEs spontan auf Ideen und Einfälle reagieren, Abstraktionen und Entwürfe kommen in schneller Folge zustande. Wer neben den genannten Fähigkeiten auch über langjährige Projekterfahrung verfügt, kann hier das nötige Maß an Intuition einbringen, aus dem dann Lösungsansätze entstehen. Die Ausbildung erfolgt in einem einwöchigen Seminar mit einer schriftlichen Abschlußprüfung. Nur wer diese besteht, kann als zertifizierter CE auftreten.

Design und die Konzeption verteilter und objektorientierter Anwendungen stehen erst am Anfang. Mit der Fertigstellung objektorientierter Frameworks, zum Beispiel San Francisco von IBM, lassen sich komplizierte Architekturen auch mit erträglichen Kosten und in akzeptablen Zeiträumen entwickeln. Was der Markt jetzt dringend braucht, sind erfahrene Designer, die mit entsprechender Methodik und der richtigen Vision die fachliche Konzeption für die jeweiligen Fachgebiete erarbeiten und so für eine objektorientierte Umsetzung mit Hilfe der Frameworks den Weg bereiten. Hier bietet sich CE als eine mögliche Qualifikation an.

Die Begriffe und die Sprache richten sich ausschließlich am Fachmann aus. Die teilweise komplexe Software-Architektur unterhalb der Geschäftsobjekte wird aus den Design-Sessions herausgehalten. Im Grunde ist es die vornehmste Aufgabe eines CE, die Fachleute dazu zu bringen, ihre Software selbst zu schreiben. Das wird möglich, wenn sie in den Design-Sessions ein Modell entwerfen, das ohne größere Brüche in eine funktionsfähige Software überführbar ist. Der CE trägt durch seine OO-Erfahrung zur nötigen Abstraktion und zur Bildung autonomer und eigenverantwortlicher Objekte bei. Im CE-Ansatz übernehmen nicht funktionale Management-Module die Aufgaben, vielmehr sind die Objekte selbst zuständig. So kann beispielsweise eine Rechnung durchaus ihre eigene Mahnung übernehmen.

CE ist keine abgeschlossene Methodik - dazu fehlen die richtigen Werkzeuge, und dafür entwickelt sich der Markt viel zu schnell. Aber mit CE läßt sich die Summe der Erfahrungen auf hohem Niveau konsolidieren, bevor erneut die Suche nach mehr Unterstützung durch Werkzeuge, nach besseren Ausdrucksmitteln für die Ergebnisse und nach Wiederverwendung existierender Modelle beginnt.

Taylors Vision einer virtuellen Gemeinde kann effektiv werden, wenn begonnen wird, in- und außerhalb dieser Gruppierung Modelle zu tauschen und zu diskutieren beziehungsweise im Rahmen anderer Organisationen zu standardisieren, zum Beispiel in der Object Management Group (OMG). Erst wenn das Bekannte und Bewährte nicht den Blick für das Neue und Verbesserungswürdige verstellt, kann die Technik des CE maximalen Ertrag bringen.

CE ist auch kein neuer Beitrag zum Methodenstreit der Gurus. Vielmehr wird hier pragmatisch eine Mixtur bewährter Konzepte zu einem Vorgehen zusammengefaßt, das hier und heute Ergebnisse produzieren hilft. Gleichzeitig ist dieses Vorgehen mit der Hoffnung verknüpft, bald auch Werkzeuge zu besitzen, die abstrakte Ideen schnell zum Leben erwecken. Die Diagrammtechnik, Lieblingskind der Methodenpäpste, ist für CE eher ein notwendiges Übel - richtig interpretieren kann nämlich ein OO-Modell in UML-Notation nur der erfahrene Informatiker. Genau dieser steht jedoch nicht im Mittelpunkt des CE, weshalb die Hoffnung auf bessere Ausdrucksmittel und Werkzeuge für einen Convergent Engineer ein ständiger Begleiter wird.

Convergent Engineering

Der Begriff Convergent Engineering (CE) wurde von David Taylor aus dem kalifornischen San Mateo geprägt. "Convergent" bezieht sich dabei auf die Annäherung des fachlichen Modells, wie es die jeweiligen Spezialisten sehen und des Software-Design-Modells, wie es die Informatiker erstellen. Der Ausspruch "Das Modell ist die Software" symbolisiert den angestrebten, aber noch nicht erreichten Endzustand des Convergent Engineering. Inhaltlich beschreibt CE ein Vorgehen zur Erstellung eines objektorientierten, verteilten Softwaredesigns, das sich in den frühen Phasen stark mit objektorientierter Analyse und Design auseinandersetzt. Convergent Engineers und Fachanwender erarbeiten in Design-Sessions gemeinsam ein Grobdesign des zukünftigen Systems. Unterstützt durch die CRC-Karten-Technik (Classes, Responsibilities, Collaborations) und Use Cases, können dabei erstaunlich übersichtliche und innovative Designmodelle entstehen. Dabei liegt die Fokussierung solcher Sessions auf eigenverantwortlichen, autonomen Objekten.

Die fachliche Grundlage bildet das OPR-Framework, wobei O für Organisation, P für Prozeß und R für Resource steht. Alle Geschäftsmodelle basieren auf diesen drei Grundtypen von Objekten. Analyse und Design sind nicht mehr getrennt, Taylor spricht von "Analysis by Design". Neben den Standardmechanismen der Objektorientierung - Kapselung, Vererbung und Polymorphie -, die hier konsequent auf die fachlichen Geschäftsobjekte als Vorstufe der Software angewandt werden, liefert CE noch einige interessante Ergänzungen. Beispiele dafür sind die fraktalen Objekte, die wieder Objekte der selben Klassen enthalten, und die konsequente Nutzung von Objekten für bestimmte Prozesse - zum Beispiel solche von längerer Dauer.

*Diplominformatiker Roland Steinhau ist Berater für Systemarchitektur und Technologie beim Berliner Beratungs- und Softwarehaus Condat.