Jahresrückblick/Entscheider tun sich immer noch schwer mit Video-Conferencing

Gestartet: Telekooperation muß aber noch viele Hürden nehmen

20.12.1996

Ohne Zweifel: Video-Conferencing war eines der heißesten Themen des Jahres 1996. Die technologischen Kinderkrankheiten hatte man im Griff, und die Preise purzelten um die Wette. Seit Jahren hatten die Anbieter suggeriert, hier bahne sich ein Höhenflug an. Aber trotz der vorzüglichen Voraussetzungen für einen Direktstart in die Herzen der Anwender hat sich das Ferngespräch vor laufender Kamera noch keinen festen Platz in den Büros erobert.

"Die Welt kommt nicht mehr in DIN A4, sondern in 15 Zoll ins Haus", heißt es im Vorstand der Quelle AG in Nürnberg. Jay Chiat, Mitinhaber der New Yorker Werbeagentur Chiat/Day, drückt es anders aus: "Wer heute zur Arbeit kommt, muß vorher wissen, was er machen will, und nicht, wo er sitzen wird." Kommunikation in virtuellen Welten nimmt Abschied vom haptischen Vergnügen der papiergestützten und statusorientierten Organisation von Arbeit. Doch die Trendsetter rund um den Globus haben zwar zahlreiche "early adopters" zum Nachahmen motivieren können - einem schwunghaften Absatz von Videokonferenzsystemen jedoch noch nicht zum Durchbruch verholfen. Warum?

Als Werner Kuhnert am 30. Oktober das neueste Videokonferenzsystem des Marktführers Picturetel in München präsentierte, verschlug es einigen Journalisten die Sprache: Die multimediale Technik hat nun auch den Fernsehapparat erobert. Swift Site, so der Name des rund viereinhalb Kilo schweren Geräts, wird sozusagen huckepack auf das TV-Set gestellt, um es mit wenigen Handgriffen in eine Loge mit Blick auf die Datenautobahn umzufunktionieren. Hut ab - mit dieser anwenderfreundlichen Innovation könnten die Spezialisten aus Massachusetts Boden gutmachen, und zwar bei jenen Anwendern, die sich im Umgang mit der Informationstechnik noch immer so zieren, als hätten sie es mit dem Teufel zu tun. Auch wenn der Preis für Swift Site von rund 18000 Mark eher zum Kopfschütteln als zu konkreten Investitionsplänen veranlaßt, sollten die Einsparungspotentiale nicht aus dem Blick geraten. Wer je an Projekten an verteilten Orten mitgearbeitet hat, weiß um den überbordenden Aufwand. Ralf Reichwald, Wirtschaftsprofessor an der TU München, bringt es auf den Punkt: "Der hohe Abstimmungsbedarf in großen Projekten verlangt nach der Verlagerung der Wertschöpfungsprozesse an den Ort der erbrachten Leistung."

Doch auch der gewöhnliche Geschäftsmann, der einsam in seinem Hotelzimmer den unpersönlichen Datenaustausch zwischen seinem Notebook und dem Unternehmens-Server über die Bühne bringt, kann profitieren. Kein Wunder, daß bereits zahlreiche Hotelketten planen, solche Systeme in ihr Leistungsangebot aufzunehmen.

Telekooperation, also nicht nur der ungehinderte Datentransfer, sondern auch die virtuelle Präsenz, erlaubt eine Entflechtung ineffizienter Arbeitsorganisation. Ist Video-Conferencing demnach doch ein ernstzunehmendes Werkzeug von strategischer Relevanz?

Mit Händen und Füßen verwahren sich Anbieter wie British Telecom, CLI , Sony oder Picturetel gegen das Argument, Video-Conferencing diene vor allem dazu, Reisekosten einzusparen. Ließen sie sich nämlich auf diesen Vorteil reduzieren, hätte das katastrophale Folgen. Trotz nunmehr zehnjähriger Verfügbarkeit von Videokonferenzlösungen - von teueren Studio- und Raumsystemen bis hin zu den heute angebotenen preiswerten Desktop- und Mobillösungen - haben die Reiseveranstalter (noch) keine Einbußen zu vermelden. Der von manchen Experten prognostizierte Einbruch im Geschäftsreiseverkehr kam über das Stadium der Kopfgeburt bisher nicht hinaus. Was sagen die Anwender?

Thomas Hoffmann, Support-Manager bei Alcatel in Stuttgart, betreut rund 30 Techniker. Sie schwärmen aus bis in den entlegensten Winkel der Republik, um die Videokonferenzkunden bei der Stange zu halten. Wo drückt die Anwender der Schuh? "Klare Nummer eins auf der Hitliste der technischen Probleme ist die eigenhändige Manipulation der Systeme. Immer wieder gibt es Neugierige, die den installierten Systemen quasi an die Wäsche gehen und durch unsachgemäße Bedienung Fehler in die Konfiguration einschleusen." Trotzdem, weiß Hoffmann, sei der noch immer ausstehende Marktdurchbruch des Video-Conferencing weniger auf Hard- und Softwareprobleme zurückzuführen als auf mangelnde Flexibilität in den Köpfen.

Aufbruchstimmung dagegen vor allem in der Hochfinanz: Wo es um das große Geld geht, wittert man schon eher den Vorteil der Telekooperation. "Die parallele Verständigung ohne Zeitverlust", so Jakob Diehl von der Deutschen Bau- und Bodenbank in Frankfurt, "hat der Videokonferenz in unserer Bank zum Durchbruch verholfen". Jede Baufinanzierung verlange Grundrisse, Bilder und Pläne, die per Video-Conferencing zwischen den zehn Niederlassungen hin- und hergereicht werden.

Wie Diehl unterstreicht, schätzen Vorstand und Funktionsträger vor allem den Effekt, daß solche Konferenzen effektiver vorbereitet werden. Helmut Kohl, Abteilungsleiter Telekommunikation der BHF Bank in Frankfurt, kann sich der Meinung seines Kollegen nur anschließen: "Im internationalen Verbund mit unseren Partnerbanken und Tochterinstituten in Paris und New York hat die Benachteiligung anderer Zeitzonen ausgedient." Getreu dem Motto "Ich weiß was, was Du nicht weißt" hatte der interne Wettbewerb seltsame Blüten getrieben. Ende März 1997 sollen alle Niederlassungen weltweit für die virtuelle Face-to-face-Kommunikation ausgerüstet sein.

Pfiffig: Consulting on demand

Neben den Banken bedienen sich auch einige pfiffige Dienstleister der neuen Möglichkeiten. Spektakulär im wahrsten Sinne des Wortes ist der Einsatz von Videokommunikation in der SAP-Beratung. Für die Dauer eines Projekts, so Johannes Buhr, Manager der Comgroup GmbH in Bad Homburg, wird beim Kunden ein Videokonferenzsystem installiert. Das SAP-Partnerunternehmen mit zehn Niederlassungen in Deutschland, die alle über Videokonferenzausstattung verfügen, beschäftigt einen Großteil seiner rund 100 Angestellten in top ausgerüsteten Home-Offices, in denen die Berater nahezu autark ihre Projekte managen. Vor allem das Problem ausufernder Kosten zahlreicher SAP-Projekte habe laut Buhr dazu beigetragen, die Online-Präsenz eines Spezialisten - Consulting on demand - einzuführen.

Nicht jeder eignet sich zur medialen Selbstdarstellung, das muß einmal gesagt werden. Das Heer der Angestellten tüftelt lieber für sich allein. Auf der anderen Seite wächst die Gruppe der Funktionsträger, also derjenigen, die ihr Know-how eigenverantwortlich in unterschiedlichsten Projekten in den Dienst der übergeordneten strategischen Ziele stellen. Für sie ist ungehinderte Kommunikation und Verständigung in globalen Zusammenhängen eine Grundbedingung.

Spätestens hier stellt sich die Frage nach der bestmöglichen Infrastruktur für Videokommunikation. Internet, ISDN und ATM - die Voraussetzungen sind teilweise bereits gegeben. Auch die Komprimierung und Dekomprimierung der Daten läßt sich gut an, wenn man einmal diplomatisch über das gewöhnungsbedürftige Ruckeln der Bilder und die zeitverzögerte Sprache hinwegsieht. Ist jedoch die anfängliche Scheu und Irritation erst einmal überwunden, läßt sich trefflich konferieren und über jedwede Vorlage streiten, die entweder aus dem Speicher auf den Bildschirm geladen oder per Dokumentenkamera an Ort und Stelle in die virtuelle Runde eingespeist wird. Zudem gestattet es das Application-Sharing, eine aktive Rolle in der virtuellen Kommunikation einzunehmen und während der Konferenz zum Beispiel eine konkrete Budgetplanung auf Basis eines Excel-Sheets zu berechnen oder eine Präsentation zu erarbeiten. Vor allem das operative Geschäft, das heißt also die Abstimmungsroutinen der Entwicklungsabteilungen oder die Statusgespräche in Marketing und Vertrieb, scheinen sich für die Videokommunikation aufzudrängen.

Ein hochinteressantes Versuchsfeld für das Leistungsspektrum der Videokommunikation ist der anstehende Umzug der Bundesbehörden von Bonn nach Berlin. Spricht man mit den einzelnen Anbietern, hat sofort jeder seine Referenzinstallation parat. Doch so schnell mahlen die Mühlen nicht. SNI-Mann Reinhard Linke ist als technischer Leiter verantwortlich für Polivest, eines der zahlreichen Teilgebiete der Polikom-Projektreihe, die den Informationsverbund Bonn/Berlin (IVBB) aus der Taufe heben sollen. Polivest beschäftigt sich sowohl im Bundesrat als auch im Rhein-Sieg-Kreis mit dem Thema "synchrone Telekooperation", das eine zentrale Rolle neben der Kommunikation über X.400 und Intranet spielt. Über eine ATM-Strecke sollen später Multimedia-Anwendungen zwischen den Rechnern der Volksvertreter hin- und herflitzen. Videokonferenzen, Parlaments-TV oder die Verfügbarkeit einer jeden Rede auf Knopfdruck spuken in den Köpfen herum. "Bis auf die Frage der Bandbreite gibt es von der technischen Seite kaum Einschränkungen", erklärt Linke. Doch der Manager weiß nur zu gut, daß die Technik allein keine sonderlichen Verbesserungen mit sich bringt. "Ein dornenreicher Weg", lautet seine Prognose. Vor allem die ehernen Verfahrensmuster in der behördlichen Kommunikation sowie eine unter Berufsbeamten kaum vorhandene Motivation, neue Wege zu beschreiten, machen den Zukunftsplanern arg zu schaffen.

Ähnliche Probleme, die Telekooperation per Video-Conferencing auf die Bahn zu bringen, stellen sich in der Juristerei. Ob in der Mandantenbetreuung einer Rechtsanwaltskanzlei oder zur Unterstützung der Aussage eines erkrankten Zeugen vor Gericht: Sinnvolle Einsatzfelder der Videokommunikation gibt es wie Sand am Meer. "Vor allem rechtliche Fragen der Verfahrensordnung", skizziert Hans-Peter Rummler, Organisations- und DV-Leiter der Landesjustizverwaltung in Stuttgart, stünden jedoch einer breiten Verwendung technischer Hilfsmittel im Wege. Derzeit tüftelt eine Arbeitsgemeinschaft an einem Modellprojekt, das der Justizministerkonferenz im Frühjahr 1997 vorgelegt werden soll.

Doch bald könnten die letzten Barrieren weggeräumt sein: An den Hochschulen feilen unbekümmerte Forscher bereits an der Gestaltung künftiger Kommunikationsräume. In München präsentieren zur Zeit Professoren der LMU, der Kunsthochschule, des Bostoner MIT-Ablegers Sloan Management School und ihre Studenten, wie man Innovationsforschung und Technologie-Management unter einen Hut bringen kann.

Welche Raumgestaltung entspricht der Kommunikationskultur am besten, lautet die Frage des transatlantischen Forschungsprojekts. Bei der Harvard Medical School in Boston und der in München ansässigen Mannesmann Pilotentwicklung GmbH werden nun die Konzepte erfahrener Architektenteams in die Praxis umgesetzt. Hätte es die Möglichkeit der permanenten Abstimmung über die Videokonferenzsysteme des Sponsors Picturetel nicht gegeben, bilanziert BWL-Examenskandidat Martin Scherk, "wäre das Projekt aus Zeit- und Kostengründen zum Scheitern verurteilt gewesen".

Karpfen und Hechte

Der Markt für Video-Conferencing kommt ganz allmählich auf Touren. Etablierte Anbieter wie Picturetel, CLI, VTEL und Sony müssen sich aber wappnen: Mittelfristig greifen vor allem Netzbetreiber wie die British Telecom sowie PC- und Softwarehersteller an. Hecht im Karpfenteich könnten vor allem Firmen wie Netscape sein, wenn sie Audio-, Video- und Groupware-Features in ihre Browser-Technologie integrieren.

Dreimal Zahlen

Die Anzahl installierter Videokonferenzsysteme schätzt die Gartner Group derzeit auf 20000 für das Jahr 2000 rechnen diese Marktforscher mit mehreren Millionen Systemen.

Den Wert derartiger Desktop-Systeme wiederum beziffert die Personal Technology Research für das Jahr 1999 auf zwei Milliarden Dollar.

Datamonitor hat für den Zeitraum bis 2000 ein Wachstum des Marktvolumens von Desktop-Systemen weltweit von jetzt 118 Millionen auf 2,3 Milliarden Dollar ermittelt.

Angeklickt

Wo Geld ist, ist - zumindest häufig - auch Innovation. Die Banken sind jedenfalls Vorreiter beim Video-Conferencing. Mobile Hardwarekomponenten könnten indes die bildgestützte Telekooperation auch in weiteren Branchen attraktiv machen. Globale Aktivitäten der Unternehmen aller Art schreien geradezu nach Ad-hoc- Zusammenarbeit in Schrift, Bild und Ton. Doch lassen Schwierigkeiten mit der Kommunikationsinfrastruktur, organisatorische Hürden, mentale Blockaden und die Notwendigkeit relativ hoher Investitionen immer noch keine schnellen Erfolge erwarten.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.