Gesellschaftspolitische Wertung der Informationstechnologie

17.09.1976

Mit MdB Dr. Frank Haenschke, Hauptreferent bei der Eröffnung des IKD-Kongresses in Berlin, sprach CW-Chefredakteur Dr. Gerhard Maurer

In ihrem heutigen Eröffnungsreferat "Nutzen und potentielle Gefahren der automatischen Datenverarbeitung" haben Sie den EDV-Fachleuten einige man kann sagen philosophische Aspekte der Datenschutz-Problematik vorgetragen. Das war hier vor, diesem Forum, wo eigentlich technische Information und Erfahrungsaustausch erwartet wird, ungewöhnlich. Mir fiel auf, daß Sie in Ihrer nahezu einstündigen Rede den Begriff "Privatsphäre" nicht ein einziges Mal gebrauchten.

Der Begriff "Privatsphäre" war wohl der erste Ansatzpunkt, um der Datenschutz-Problematik näherzukommen. Er unterstellt, daß es in der Persönlichkeit des einzelnen einen Bereich gibt, der unangetastet bleiben soll. In der amerikanischen Literatur wird das oft als "Right to be let alone" bezeichnet. Von diesem Ansatz her ist immer wieder der Versuch gemacht worden, einzelne Datenkategorien als der Privatheit zugehörig und andere als mehr öffentlich zu betrachten. All diese Versuche haben sich indes als nicht zweckmäßig erwiesen, weil es jeweils darauf ankommt, in welcher speziellen Situation ein Mensch Information über sich verbreitet und welche Rolle er dabei spielt. Die Privatsphäre ändert sich ständig, so daß sie nicht definierbar ist.

Damit also personenbezogene Daten aussagekräftig werden, gehört demnach zu ihnen eine Beschreibung der jeweiligen Situation, aus der sie entstanden?

Das würde ich für prinzipiell notwendig halten. Auf der anderen Seite ist es wohl technisch geradezu unmöglich, zu jedem einzelnen Datum auch genau den Kontext festzuhalten, in dem die Information entstanden ist. Deshalb aber besteht die Gefahr, daß aus ganz verschiedenen Zusammenhängen und in sehr verschiedenen Umständen entstandene Informationen zu einem Mosaik zusammengesetzt werden, das nicht stimmen kann, denn diese einzelnen Informationsbilder, die da entstehen, haben Elemente, die nicht zueinander passen. Wenn man zum aus einer oder aus einer familiären Beziehung entstehen oder aus den Kontakten zu einer Behörde entstehen oder aus Geschäftsbeziehungen entstehen, zusammenführen würde, dann würde, daraus allenfalls ein synthetisches Datenbild entstehen aber keine angemessene Beschreibung des betroffenen Menschen

- Sie haben in Ihrem Vortrag für dieses synthetische Informationsbild den einprägsamen Begriff "Datenkrüppel" gewählt - eine drastische Formulierung, die Sie vielleicht hier noch etwas präzisieren wollen.

Wer in einer Computer-Umwelt lebt, in der alles, was er äußert, registriert wird, und- ihm irgendwann im Leben wieder aufgetischt wird, muß sich so verhalten, daß solche Informationen, die ihm negativ ausgelegt werden können, möglichst nicht entstehen. Dieser Mensch wurde vom normiert. Nun gibt es viele Situationen im Leben, in denen man impulsiv, handelt, anders als man es früher getan hätte. Das historische Persönlichkeitsbild das in Informationssystemen gespeichert wurde, ist etwas völlig anderes als der lebende Mensch. Und deshalb ist dieses Informationsbild von mir als "Datenkrüppel" bezeichnet worden.

-Des weiteren forderten Sie in Ihrem Vortrag - geradezu poetisch formuliert von den Informationssystemen "die Tugenden des Vergessens und des Verzeihens".

Vergessen und Verzeihen gehört meines Erachtens zu den Haupttugenden des Menschen. Diese Eigenschaften machen es uns möglich, positive Dinge im Gedächtnis zu behalten und Negatives im Laufe der Zeit zu vergeben.

-Und was heißt das bezogen auf unsere computerisierte Umwelt?

In modernen Informationssystemen wird ja das Normale, das Nicht-von-der-Norm-Abweichen, nicht registriert, sondern immer wird das Abweichen von der Norm festgehalten und eben, nicht gelöscht - sozusagen ein "negatives Vergessen".

-Können Sie ein Beispiel für diesen die Persönlichkeitsentfaltung einschränkenden Zwang zur Anpassung ans Normale nennen?

Ich habe als Beispiel in meinem Vortrag die Praxis des Verfassungsschutzes genannt, in öffentlichen Bibliotheken diejenigen Personen ausfindig zu machen, die Leser von Zeitschriften oder Büchern bestimmter politischer Richtung sind. Wenn man also weiß, daß der Verfassungsschutz sich dafür interessiert, dann wird man in öffentlichen Bibliotheken keinen Marx ausleihen oder nicht "Neues Deutschland" lesen oder andere politische Literatur die als, einschlägig verschrien gilt. Nehmen Sie auch die Kreditkarten, mit denen Ausgaben gemacht werden, die über Konsumverhalten, aber auch über einen Barbesuch oder über einen Ausflug mit einer Freundin Datenspuren hinterlassen, die ausgewertet werden könnten.

-Mal vom rechtlichen Standpunkt abgesehen, halten Sie es für unmoralisch, solche Spuren zu verfolgen, daraus Adressen zu ermitteln und beispielsweise diese Adressen weiterzuverkaufen?

Es wird wohl kaum jemanden stören, daß er in einem Adressenverzeichnis über höhere Beamte oder über Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe zu finden ist. Wer aber, aus einem privaten Interesse heraus, beispielsweise bei einem Versand-Handel für Erotika-Artikel etwas bestellt oder sich nur für dessen Katalog interessiert, dem wird nicht angenehm sein, sich in einer für alle Interessenten einsehbaren Liste von Adressen zu finden, die ausweist, wer sich für Erotika-Artikel interessiert. Ich glaube, an diesen Beispielen wird deutlich, daß man Ihre Frage nicht pauschal mit "ja" oder "nein" beantworten kann.

-Nun braucht die Gesellschaft, um funktionieren zu können, Informationen und die Informationsverarbeitung. Ist es also nicht unumgänglich, daß unsere Datenspuren vielerorts gespeichert und ausgewertet werden?

Wir leben in einer hochdifferenzierten, das heißt arbeitsteiligen Gesellschaft, in der kaum noch jemand in der Lage ist, allein für seine Existenz zu sorgen. Deshalb muß natürlich auch in größerem Maße, als das früher üblich war, individuelle Information an amtliche, aber auch private Stellen kommen. In dieser Tatsache sehe ich zunächst noch keine unmittelbare Gefahr. Gefährlich ist aber, daß derjenige, der auf die gesellschaftlichen Institutionen am stärksten angewiesen ist, auch am transparentesten wird. Hier könnte es eine neue Ungleichheit, in unserer Gesellschaft geben, weil derjenige, der sich Privatheit leisten kann, weil er keinen Kredit, keine Krankenversicherung, kein Sozialamt, kein Arbeitsverhältnis braucht, über sich nur wenige Informationen hergeben muß und deshalb wenig transparent bleibt, während der andere, der auf aIl dies angewiesen ist, für jeden Interessenten transparent und damit manipulierbar wird.

-Ist das eben Gesagte "und damit, manipulierbar" nicht ein wenig schnell gefolgert?

Ich rede wohlweislich immer von den potentiellen Möglichkeiten, wiewohl ich aus der Geschichte der Menschheit weiß, daß die Möglichkeiten, die die Technik eingeräumt hat, in der Regel auch ausgenutzt worden sind.

-Aber wir leben doch seit Jahrhunderten mit der Technik und ihren Gefahren.

Ja, aber man darf die Entwicklung, der Technik nicht sich selbst überlassen.