Die Stärken liegen in der Lernfähigkeit

Genetische Programme meistern auch sich verändernde Aufgaben

11.05.1990

Genetische Computerprogramme lehnen sich an das Konzept der Auslese, der Evolution, an. Was unterscheidet sie von der ebenfalls im naturwissenschaftlichen Bereich basierten künstlichen Intelligenz (KI), deren Ideal der neuronalen Netze das menschliche Gehirn nachbilden will?

Genetische Algorithmen werden bereits in der Steuerung von Robotern in automatisierten Fabrikanlagen erprobt, aber auch in Systemen, mit denen man den voraussichtlichen Sieger eines Pferderennens ermitteln will. Beim Entwerfen eines tragenden Stabwerks minimaler Masse zum Unterstützen eines Daches haben sie sich ebenfalls bereits bewährt, wie ein von Goldberg und seinem Mitarbeiter Manohar P. Samtani erarbeitetes System vorführt. Hierbei beeindruckt vor allem, wie schnell dieser Weg des "evolutiven" Konstruierens zu einer brauchbaren Lösung führt.

Optimaler Entwurf nach 40 Generationen

In diesem Testfall ist die Geometrie des Stabwerks mit zehn Stäben vorgegeben (siehe Abbildung), und das "Chromosom", also die Kette von Einsen und Nullen, gibt in linearer Abfolge jeweils einfach den Durchmesser und damit die Masse der einzelnen Stäbe an.

In der Startphase erzeugt der Rechner mit Hilfe eines Zufallsgenerators 50 bis 100 verschiedene dieser "Chromosomen", erprobt deren Festigkeit in speziellen Simulationen und scheidet die schlechtesten Lösungen aus. Er wiederholt dies mit zwischengeschalteten Phasen des Rekombinierens und Mutierens solange, bis das System bei einem fast optimalen Entwurf ankommt, was etwa 40 Generationen dauert.

Genetische Algorithmen haben herkömmlichen Expertensystemen mit ihrer internen Starrheit voraus, daß sie infolge ihrer evolutiv bedingten Anpassungsfähigkeit sozusagen lernen. Sie finden mithin selbst dann noch eine Lösung, wenn die Problemstellung sich während des Programmablaufs unversehens ändern sollte, wenn es also sozusagen gilt, auf einen laufenden Hasen zu schießen.

Neuronale Netze für das Erkennen von Mustern

Besonders interessant wird die Diskussion der genetischen Algorithmen, wenn man diese Konzepte denjenigen der schon etwas bekannteren neuronalen Netze gegenüberstellt. Es zeigt sich, daß neuronale Netze, die in etwa die Arbeitsweise der Nervengeflechte im Gehirn nachzuahmen suchen, ihre Stärken auf anderen Feldern haben als genetische Algorithmen.

Obwohl auch neuronale Netze ein gewisses Lernverhalten aufweisen, scheinen sie doch primär dort von Nutzen zu sein, wo es um das Erkennen von Mustern aller Art geht - seien dies nun Buchstaben, Fingerabdrükke, Stimmen oder die Aktienkurs-Muster der Börsen-Charts. Weil sie dadurch lernen, daß sie zwischen den einzelnen Neuronen mehr oder weniger "starke" Verbindungen oder "Synapsen" auf- und wieder abbauen, können sie nur fest vorgegebene Muster gut erkennen beziehungsweise auf vorher definierte Situationen richtig reagieren.

Dagegen haben schon mehrere Systeme auf der Basis genetischer Algorithmen vorgeführt, daß sie einfache, aber Planung erfordernde Aufgaben, etwa eine simple Form des Poker-Spiels oder das Überwinden eines Irrgartens, sehr wohl erlernen können.

Zur Diskussion der Differenzen zwischen neuronalen Netzen und genetischen Algorithmen - letztere können übrigens sogar herangezogen werden, um auf evolutivem Wege "genetische neuronale Netze" zu erzeugen - gehören einige Worte über die interessantesten Entwicklungslinien. Diese stellen ein Pendant zu den - gleichfalls hochinteressanten - Kombinationen von neuronalen Netzen mit herkömmlichen Expertensystemen dar; bei ihnen tritt an die Stelle des neuronalen Netzes ein genetischer Algorithmus. Diese Art von Hybridsystemen könnte in beiden Fällen um herkömmliche Optimierungstechniken sowie um leistungsfähige, voluminöse Datenbanken erweitert werden und damit der Informatik ganz neue Dimensionen erschließen.

Solche Hybridsysteme scheinen nach Meinung von Sachkennern zunächst vor allem im

Bereich des computergestützten Entwerfens (CAD) von Nutzen zu sein, wie David J. Powell vom Forschungs- und Entwicklungszentrum des US-Elektro-Riesen General Electric in Schenectady/New York darlegt. Er hat gemeinsam mit Kollegen ein System dieser Art zusammengestellt und läßt es nun von Maschinenbauern an Problemen testen, bei denen es teils um das Konstruieren eines einfachen Ventilators, teils aber auch schon um treibstoffsparende Flugzeug-Turbinentriebwerke geht.

Bereits jetzt ist Powell sicher, daß ein solches Hybridsystem die Qualität der Ingenieursentwürfe hebt. Es könnten wesentlich mehr denkbare - zuerst sogar absurd anmutende - Entwürfe überprüft, bewertet und akzeptiert beziehungsweise verworfen werden und dies in kürzerer Zeit als früher, so daß die Produktivität der Ingenieure um rund das Zehnfache zunähme.

Daß Powell mit diesen Aussagen nicht nur Sprüche klopft, kann er anhand eines Strahltriebwerks belegen, das mit der genetischen Methode konstruiert wurde und das sein Unternehmen inzwischen mit entsprechendem Investitionsaufwand bauen und testen möchte. Hierbei hatte das genetische System zwischenzeitlich sogar Entwürfe und Details in Betracht gezogen und erprobt, auf die ein Ingenieur klassischer Schulung niemals gekommen wäre.

Dies wiederum ist in sachkundigen Augen nicht verwunderlich. Denn, stellt der Computer- wissenschaftler Michael M. Skolnick fest, bei hybrid aufgebauten Systemen kann der genetische Algorithmus jetzt gezielt dort eingesetzt werden, wo seine Stärken liegen: beim Erforschen völlig neuer und oft überraschender konzeptioneller Ansätze. Damit, so der Forscher vom Rensselaer Polytechnik-Institut in Troy/New York weiter, werde einem herkömmlichen Expertensystem zusätzlich jenes Maß an Flexibilität verliehen, das unabdingbar sei, solle es künftig auch mit Änderungen des ihm vorgelegten Problems

zurechtkommen.

Nach heutigem Verständnis der Biologie sind alle Lebewesen einschließlich der Menschen Produkte der Evolution, eines Vorgangs also, bei dem zufällig entstandene Strukturen dann überleben und ihre Eigenschaften zusammen mit immer wieder neuen, mutationsbedingten Abweichungen vererben konnten, wenn sie in die jeweilige Umwelt paßten. Zum Überleben untaugliche, unangepaßte Individuen beziehungsweise Arten starben dagegen früher oder später aus. - Doch warum sollten diese Evolutionsmechanismen nicht auch im Bereich der Technik und insbesondere in der Entwicklung neuer Generationen von Computern und Computerprogrammen hohen Nutzen versprechen? - Egon Schmidt befaßt sich mit den bisher vorliegenden Forschungs- und Arbeitsergebnissen der genetisch-evolutiven Computerprogrammierung in einer Serie.