Bei Grossveranstaltungen und logistischen Operationen

Gefahr und die Rettung daraus lassen sich im voraus simulieren

19.03.1993

Olympische Winterspiele 1992 in Albertville. Kurz vor Ende des Riesenslaloms der Herren traf im Hauptquartier eine Bombenwarnung aus dem Bahnhof von Bourg Saint-Maurice ein, in dem sich zu diesem Zeitpunkt mehr als tausend Personen befanden. Die Station musste auf Veranlasssung des Praefekten geraeumt und eine Sicherheitszone eingerichtet werden. Diese Aktion wurde dadurch erschwert, dass kurz vorher ein Kleinbus mit mehr als 20 Personen in der Naehe von La Raie (nur ueber Bourg Saint-Maurice erreichbar) in eine Schlucht gefallen war.

Sie erinnern sich nicht? Das ist verstaendlich, denn das Ganze fand nur als simuliertes Ereignis in einem Expertensystem (EIS) statt, das der franzoesische Computerhersteller Bull den Veranstaltern der Olympischen Winterspiele geschenkt hatte. Ramses, so der Name des Systems, sollte die sicherheitskritischen Aspekte der Grossveranstaltung erfassen und im Ernstfall sorgfaeltig abgestimmte Handlungsanweisungen liefern.

Konzeption, Realisierung und Installation von Ramses stellten angesichts von ueber einer Million Besuchern und dem 1600 Quadratkilometern grossen bergigen Gebiet erhebliche Anforderungen an die Entwicklungsingenieure. Basis der Applikation war eine umfangreiche relationale Datenbank, in der saemtliche Informationen ueber personelle und sachliche Ressourcen sowie den Zustand des Verkehrsnetzes gespeichert waren. Um diese zentrale Datenbasis waren drei eigenstaendige KI-Module gruppiert, deren Aufgabe in der Situationsanalyse sowie der Entwicklung der optimalen Einsatzstrategie bestand.

Ausfallsicheres Mehrprozessor-System

Zu beruecksichtigen waren Lawinengefahren (die Ueberlebenschancen eines Verschuetteten halbieren sich alle halbe Stunde), Transportrisiken (taeglich waren 1200 Busse und 150 Hubschrauber im Einsatz) und die Gefahren, die in der Ansammlung von Menschenmassen immer bestehen.

Aufgrund der geografischen und logistischen Gegebenheiten war es nicht moeglich, so viele Sicherheitskraefte einzuquartieren, wie es wuenschenswert gewesen waere. Es war daher dafuer zu sorgen, dass die vorhandenen Mannschaften in hoechst flexibler Weise stets einsatzfaehig waren. Ramses wusste ueber die Bettenzahl der verfuegbaren Hospitaeler ebenso Bescheid wie ueber die Fuehrer von Lawinenhunden und die Dienstzeiten der Feuerwehr.

Das System war auf Unix-Rechnern von Bull archiviert. Der zentrale Server war im Hauptquartier von Albertville als ausfallsicheres Mehrprozessor-System ausgelegt, mit dem die Clients in den sechs Austragungsorten ueber mehrfaches Leitungs- Routing kommunizieren konnten.

Ein noch komplexeres System hat 1991 der franzoesische Stahlkonzern Sollac/Unisor mit Bull als Generalunternehmer in Angriff genommen. Binnen fuenf Jahren sollen saemtliche Hochoefen (Jahresproduktion 19 Millionen Tonnen Rohstahl) von dem KI- gefuehrten Programm Sachem gesteuert werden. Dazu werden Hunderte von Messsignalen zu Temperatur, Druck und vielen anderen Groessen in einer zentralen Datenbank zusammengefuehrt und anhand von mehr als 1500 Regeln ausgewertet. In diesem Regelwerk sind auch Vorkommnisse beruecksichtigt, die statistisch nur alle fuenf Jahre einmal auftreten. Zum ersten Mal in einem derartigen Projekt ist kuenstliche Intelligenz (KI) kein Zusatzmodul, sondern Kern der gesamten Applikation.

Sachem ist auf 80 Millionen Franc veranschlagt. Da mit ihm die Tonne Rohstoff um zwei bis drei Franc billiger produziert werden kann, wird es sich nach zwei Jahren amortisiert haben. Tragende Module sind Kool und Charme, zwei Eigenentwicklungen der Cediag, dem Bull-Forschungszentrum fuer kuenstliche Intelligenz. Waehrend Kool zur Entwicklung objektorientierter, regelbasierter Anwendungen auf einem hohen Abstraktionsniveau dient, soll Charme Probleme loesen, die sich nicht deterministisch vorwegnehmen lassen.

Was es damit auf sich hat, soll am Beispiel der Hafenverwaltung des Freihafens Singapur erlaeutert werden. Die Port of Singapore Authority (PSA) will mit Hilfe des Projekts Cimos (Computer Integrated Marine Operations System) Singapur zu einem maritimen Zentrum im pazifischen Raum entwickeln. Das Expertensystem soll die Zuweisung von Liegeplaetzen und die Benutzung von Transferkanaelen optimieren. Vor allem geht es darum, Engpaesse und unnoetige Fahrten zu vermeiden. Bull hat dazu in Singapur eine Aussenstelle der Cediag errichtet.

Die Vergabe eines Ankerplatzes richtet sich nach Schiffskriterien (Anlegezweck, Aufenthaltsdauer, Tonnage, Laenge, Schiffstyp) und nach Ankerungskriterien (Bestimmungsorte, Wetter, Gezeiten), aus denen zusammen sich der beste Ankerplatz ermitteln laesst. Der in Charme realisierte Ansatz laeuft darauf hinaus, moeglichst viele fallspezifische Zusatzbedingungen jedes Problems in die Loesungsfindung einzubeziehen. Jede zusaetzliche Bedingung macht naemlich zwar die Problemmodellierung schwieriger, engt aber den Spielraum ein, in dem das Ergebnis gefunden werden muss.

*Heinrich Hofauer ist KI-Manager bei der Bull AG in Koeln.