Kolumne

"Fusion im Schweinsgalopp"

03.12.1998

Die Machtverhältnisse im IT-Markt haben sich über Nacht verschoben - das zumindest versucht Microsoft dem amerikanischen Kartellrichter Thomas Jackson mit Hinweis auf die Fusion von AOL und Netscape zu vermitteln. Der Fall zeige, daß kein Unternehmen den Markt im Alleingang kontrollieren könne, auch Microsoft nicht.

Fast drängt sich der Eindruck auf, Bill Gates habe den Merger der Kontrahenten inszeniert, um sich vor Gericht reinzuwaschen. Aus prozeßtaktischen Gründen spielt die Company das neue Triumvirat AOL, Netscape und Sun Microsystems zum alleinigen Regenten im weltweiten E-Commerce-Markt hoch. Spricht man jedoch mit Mitarbeitern aus Microsofts Marketing, ergibt sich ein anderes Bild: Es handele sich um eine Fusion wie jede andere auch, eine ernsthafte Bedrohung sei nicht in Sicht.

De facto wissen weder die Juristen noch die Marketiers von Microsoft, was von dem Duo AOL und Netscape wirklich zu erwarten ist. Warum sollten sie auch schlauer sein als alle anderen? Die Marktforscher sind in der Beurteilung des Deals ebenso gespalten wie die Wettbewerber. Zu viele offene Fragen begleiten diese Übernahme, als daß seriöse Prognosen möglich wären.

Welchen Browser wird AOL in seinem Online-Dienst einsetzen? Wird die Entwicklungsmannschaft von Netscape tatsächlich zum proprietären Online-Dienst AOL wechseln, oder laufen die in der Branche hochgeschätzten Internet-Pioniere dem neuen Eigner in Scharen davon? Basiert die Zukunft von AOL auf offenen Internet-Standards oder auf proprietärer Technologie? Ist AOL jetzt auch ein Softwarehaus?

Diese und viele andere Fragen sind bisher nicht beantwortet worden, und das ist kein Wunder. Die Netscape-Übernahme war ein Husarenritt der AOL-Geschäftsführung. Wäre sie langfristig geplant worden, hätte sie schon vor sechs Wochen stattgefunden - zu einem Zeitpunkt, als Netscape aufgrund der viel geringeren Marktkapitalisierung nur halb so teuer war.

Vor diesem Hintergrund dürfte es Microsoft schwer fallen, vor Gericht Kapital aus den angeblich veränderten Marktbedingungen zu schlagen. Im Gegenteil: Vieles deutet darauf hin, daß der Schnellschuß von AOL am Ende zu einem Wettbewerbsvorteil für Gates & Co. führt.