Forschung/Re-Engineering fuer Unis: Erst Leistung, dann Mittelvergabe

26.05.1995

Markt, Macht und Manager allein werden fuer eine kuenftig groessere Marktmacht nicht sorgen koennen. Aber auch erlauchte und erleuchtete Hochschullehrer werden es so ohne weiteres nicht schaffen, den daniederliegenden Forschungskarren aus dem Dreck zu ziehen. Doch mangelt es weder am Problembewusstsein,

noch an der Kreativitaet der Protagonisten - so ganz ohne Forschungs- und Entwicklungserfolge sind wir nun auch wieder nicht-, auch sind Visionen hierzulande noch zu finden - ISDN muss als gutes Beispiel einer erfolgreich realisierten Vision genannt werden -, was fehlt ist Konsens ueber Weg(e) und Ziel(e). Moeglich, dass eine "Europaeische Autoritaet", wie EU-Kommissar Martin Bangemann sie anvisiert, Abhilfe schafft (siehe nebenstehende "Zitate").

Noch nie ist in Deutschland so intensiv ueber die Forschung und ihre Einrichtungen diskutiert worden wie in den vergangenen Monaten. Die Wissenschaft, so die allgemeine Erkenntnis, habe eine ueberragende Bedeutung fuer die Sicherung des Standortes Deutschland. Um die Inno-vationskraft zu staerken, sollen Universitaeten und Forschungseinrich-tungen staerker anwendungsbezogen und marktorientiert arbeiten, for-dern Politik und Wirtschaft.

Die grosse Frage ist nur: Wie kann der Schwenk gelingen? Grundsatzbeschluesse sind schoen und meistens richtig, doch werden sie die Universitaeten mit ihrer jahrhundertealten Tradition kaum veraen-dern. Notwendig ist vielmehr ein Re-Engineering, das verkrustete Strukturen aufbricht, leistungsorientierte Massstaebe einfuehrt und den Weg zu einem anderen Selbstverstaendnis in Forschung und Lehre oeffnet. Die Freiheit von Forschung und Lehre hat in Deutschland hoechsten, grundgesetzlich verankerten Wert. Daraus resultiert die in Wissen-schaftlerkreisen weit verbreitete Haltung, dass Forschungsergebnisse allein der Wissensbereicherung der Menschheit dienen, also keinen nachweisbaren Nutzen aufweisen muessten. Parallel dazu wird die Lehre als reine Bildung, nicht als Ausbildung und Vorbereitung auf einen Beruf, verstanden.

Die Innovationskrise ist hierzulande offensichtlich

Solange die Universitaeten dieses Selbstverstaendnis pflegen, ist die Verbindung zu Maerkten fuer einen deutschen Hochschulprofessor eher diskreditierend. Resultat: Weder die Nachfrage vom Stellenmarkt fuer Absolventen noch der Bedarf der Wirtschaft an Forschungsergebnissen spielen im Denken eines Grossteils der Universitaetsprofessoren eine Rolle.

Doch die Meinungen sind in Bewegung geraten, seit die Innovations- krise in Deutschland offensichtlich ist. Waehrend Jahr fuer Jahr viele Milliarden Mark in die Forschungsfoerderung fliessen, verliert Deutsch-land einen Weltmarkt nach dem anderen. Gleichzeitig lesen wir ueber wachsende Akademikerarbeitslosigkeit, hochqualifizierte Absolventen jobben als Taxifahrer, weil sie auf ihrem Fachgebiet keine Berufsper-spektive haben.

Vor dem Hintergrund solch alarmierender Fakten muessen wir die alten, liebgewonnenen Prinzipien - Gelehrtenuniversitaet mit zweckfreier Forschung und Lehre als Bildung des wissenschaftlichen Nachwuchses - in Frage stellen, weil sie in der Welt des globalen Innovations-wettbewerbs nicht mehr zeitgemaess sind. Konkret: Wir muessen die Hoch-schulen dem Re-Engineering-Gedanken zugaenglich machen, um mehr Nutzen aus Forschung und Lehre zu ziehen. An die Stelle der Zweckfreiheit treten Leistungs-, Markt- und Nachfrageorientierung, was zu Inno-vation, neuen Arbeitsplaetzen und zur Sicherung des Lebensstandards fuehrt.

Dieser Reformgedanke folgt der Erkenntnis, dass Forschungsergebnisse volkswirtschaftlich nur dann sinnvoll sind, wenn sie zu neuen, innovativen Produkten und Verfahren fuehren, die auch neue Arbeits-plaetze schaffen. Mit den gegenwaertigen Beurteilungen von Forschungs-resultaten hat dieser Ansatz herzlich wenig zu tun. Heute dominiert die Wissenserweiterung an sich. Ein Forschungsprojekt wird danach be-urteilt, ob aus der Sicht einer hochspezialisierten Einzeldisziplin weitere Ergebnisse erzielt werden, aber nicht, inwieweit diese hinterher auch umgesetzt werden koennen.

Beispiel: Informatik. Es waren gerade nicht die hochkomplizierten Ergebnisse, die zur Quelle neuer Produkte wurden.

Eher einfache, praktikable Ideen haben die Produktwelt revolutio- niert. Ein Betriebssystem wie MS-DOS, mit dem Microsoft zu einem Unternehmen von Weltrang mit mehr als 16 000 Beschaeftigten wurde, haette zur damaligen Zeit auch von jedem x-beliebigen deutschen Informatiker entwickelt werden koennen. Nur: Es hat nicht statt- gefunden.

Muehselige Motivations-arbeit ist notwendig

Anstatt nach einfachen Produktinnovationen zu suchen, hat man sich naemlich hierzulande auf die weitere Verfeinerung der Forschungs- ergebnisse konzentriert. Doch die Wirtschaft benoetigt nicht die Er-findung von "eierlegenden Wollmilchsaeuen", sondern Produkte, die am Markt gefragt sind.

Die deutsche Informatik hat viel zuviel Zeit und Energie darauf verwandt, ihr Selbstverstaendnis zu diskutieren, anstatt eine solche Umsetzung zu ihrem Ziel zu machen. Das haengt sicherlich damit zu-sammen, dass sie weitgehend aus der Mathematik entstanden ist und lange Zeit von dieser Disziplin gespeist wurde, die ohnehin nicht auf dem kuerzesten Weg zu praktisch verwertbaren Resultaten fuehrt. Im Unterschied dazu hat die Computer Science in den USA ihre Wurzeln in den der Praxis eng verbundenen Ingenieurwissenschaften, was die Motivation zur Umsetzung von Forschungsergebnissen sicher verstaerkte.

Doch die Bewertung der Forschung nach Anwendungsrelevanz ist in Deutschland allgemein gering ausgepraegt. Deshalb beduerfen Hochschulen und Forschungseinrichtungen hierzulande einer Mentalitaetsaenderung. Nun weiss jeder, dass Einstellungen und Gewohnheiten sehr zaeh und langlebig sind. Sie lassen sich nicht per Gesetzesbeschluss aendern, sondern nur durch eine muehselige Motivationsarbeit. Gegenargumente muessen ernsthaft eroertert und erwogen werden.

So darf die Frage nach dem Nutzen der Forschung nicht auf die kurzfristige wirtschaftliche Verwertbarkeit eingeengt werden. Die Forschung soll nicht zum Sklaven der Industrie werden, ebensowenig wie es in der Lehre darum geht, Produktschulungen zu veranstalten. Aber die Kritiker muessen sich andererseits damit konfrontieren lassen, dass auch eine zweckfreie Forschung ihre Finanzierung benoetigt und dann eben gegenueber der Allgemeinheit, dem Staat und den Steuer-zahlern, zur Rechenschaft verpflichtet ist. Und Studenten benoetigen die theoretischen Grundlagen, um die Produkte und Verfahren, die heute unsere Arbeitsweise bestimmen, zu verstehen. Es geht um den Wandel von Forschungseinrichtungen zu Dienstleistungsinstituten, die ihre Bewertung vom Markt erfahren. Eine Umstrukturierung, die zweifelsohne mit schmerzlichen Einschnitten verbunden sein wird.

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade in letzter Zeit eine Reihe kritischer Untersuchungen ueber den Nutzen der deutschen Grossfor- schungseinrichtungen veroeffentlicht worden ist. Sowohl in der Exper-tise des Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektronik- Industrie (ZVEI) als auch in dem Bericht der sogenannten Weule- Kommission, die vom Bundesministerium fuer Forschung und Technologie eingesetzt wurde, werden der zu geringe Anteil anwendungsbezogener Projekte, die starre Buerokratie und eine ausgepraegte Beamtenmentalitaet kritisiert. Die Ursache dieser Maengel liegt vornehmlich in der fehlenden Beurteilung von Forschungsleistung. In Deutschland wird, zugespitzt formuliert, der Forschungsantrag begutachtet und nicht das Ergebnis eines Projekts, geschweige denn dessen Umsetzung.

Die Politik bemueht sich offenkundig um Korrekturmassnahmen. Aber die Welt wird nun einmal nicht von Grundsatzbeschluessen regiert, sondern vom Formular. Die wissenschaftliche Arbeitsweise wird sich nur dann aendern, wenn die konkreten Strukturen ueberdacht werden. Die Umorien-tierung muss sich in der Definition von Forschungsprogrammen, in der Bearbeitungsform der Projekttraeger und vor allen Dingen auch im Be-wusstseinsbild der Gutachter manifestieren. Im Klartext: Der Fehl-schlag der Innovationsoffensive ist programmiert, wenn man geaenderte Forschungsschwerpunkte mit alten Gutachtergremien angeht.

Welche Rolle sollen Hochschulen beim Innovationstransfer, beim Um- setzungsprozess spielen? Gegenwaertig herrscht das Prinzip: Forschungsinstitute erarbeiten Konzepte, die hinterher von der Industrie in Anwendungsstrukturen uebertragen werden sollen. Nach dem Motto: Die Forschung soll die Industrieentwicklung anregen. Gehen die Forschungsresultate aber an den Beduerfnissen der Wirtschaft vorbei, bleibt der Erfolg aus.

Aus diesem Grunde wird heute eher der umgekehrte Weg gefordert: Die Industrie soll ihren Forschungsbedarf den Instituten melden, der dort in Projekten erarbeitet wird.

Offener Dialog zwischen Forschung und Mittelstand

Dieses mag bei Grossunternehmen, die ueber eine mittel- und lang- fristige strategische Planung und zentrale Forschungsbereiche verfuegen, funktionieren. Der gesamte Mittelstand aber, der eigent- liche Traeger von innovativen Leistungen, aus denen sich auch neue Arbeitsplaetze ergeben, kann mit einer solchen Konzeption nichts anfangen.

Mittelstaendische Unternehmen sind von Natur aus kurzfristig orientiert, stellen in aller Regel keine grossen Strategien auf und haben deswegen auch nur geringe Kenntnisse ueber ihren zukuenftigen Forschungsbedarf. Hier hilft deshalb nur eine Kombination beider Ansaetze: Benoetigt wird ein offener Dialog zwischen Wissenschaft und Mittelstand, in dessen Rahmen moegliche Entwicklungslinien diskutiert werden, um daraus einen Forschungsbedarf ableiten zu koennen.

Fuer ein Re-Engineering der universitaeren Forschung gibt es also genuegend Gruende. Wir wissen heute, dass Re-Engineering keine kosme- tischen Korrekturen bedeutet, sondern in aller Regel mit grundsaetz-lichen Aenderungen verbunden ist - Outsourcing von Randbereichen, Konzentration auf Kernkompetenzen, Dezentralisierung und Kunden-orientierung.

Fuer Universitaeten bedeutet dies, dass sie ihre Forschung an der internationalen Wettbewerbsfaehigkeit messen und Kernkompetenzen erkennen muessen. Dies wird zwangslaeufig dazu fuehren, dass sie bestimm-te Forschungsfelder anderen Partnern ueberlassen und mit diesen Zulie-ferbeziehungen aufbauen muessen, dass sie die Wirtschaft und die Studenten als Kunden begreifen und ihre Ergebnisse am Abnehmermarkt orientieren muessen.

Staerkere Machtausstattung der Entscheidungsinstanzen

Ein solches Re-Engineering wird die internen Entscheidungsstrukturen der Universitaeten massiv fordern. Bislang sind diese in Kollegia-lorganen organisiert, die auf Basis des Konsenses funktionieren. Bei Verteilungskonflikten sind sie hilflos. Insofern ist eine praktische Reorganisation nur bei Aenderung der internen Organisations- und Ent-scheidungsstrukturen denkbar. Man wird um eine staerkere Macht-ausstattung der Entscheidungsinstanzen - Praesident, Dekan, Prodekan - nicht herumkommen. Denn was ist von der heutigen Entscheidungskraft zentraler Universitaetsorgane zu halten, wenn sie fuer die Diskussion von Einzelproblemen Stunden aufwenden, aber den Haushalt der Univer-sitaet in einer Minute verabschieden, weil sie an der ministerialen Vorgabe ohnehin nichts aendern koennen?

Des weiteren muessen sich die Werte- und Belohnungssysteme kuenftig am erbrachten oder abzusehenden Ergebnis orientieren. Das bedeutet selbstverstaendlich nicht, dass jedes Forschungsprojekt zu einem verwertbaren Produkt fuehren muss. Aber ein Institut, das fuenfmal hintereinander einen Foerderantrag mit der hohen volkswirtschaftlichen Bedeutung des Themas begruendet und hierfuer nie einen Nachweis erbracht hat, ist bei der sechsten Antragstellung vorsichtiger zu behandeln.

Erfolgskontrolle auch in der Lehre einfuehren

Auch die Lehre muss an ihren Resultaten gemessen werden. Heute schadet es dem einzelnen Universitaetsprofessor nicht, wenn seine Absolventen keinen Arbeitsplatz finden. Es wirkt auf das Belohnungssystem in keiner Weise zurueck. In den USA indes werden die Hitlisten der Universitaeten stark durch den Marktwert der Absolventen bestimmt, der wiederum auf die Leistung der Einrichtung zurueckwirkt. Absolventen, die einen gut dotierten Arbeitsplatz finden, zeugen vom Renommee der Universitaet. Dies zieht dann neue, an Spitzenleistungen interessierte Studenten an. Dadurch rekrutieren und konzentrieren diese Universi-taeten ein besseres Begabungspotential und erzeugen so eine hoehere Leistungsbereitschaft als andere und koennen damit relativ kosten- neutral ihre Ausbildungs- und Forschungsleistung weiter verbessern.

In Deutschland werden mit der leistungsorientierten Mittelvergabe erste Anstrengungen unternommen, Leistungskriterien in Universitaeten hineinzutragen. Doch stoesst dieses Modell dann an Grenzen, wenn die Institutionen und ihre Protagonisten bereits am Rande ihrer Kapazi-taeten operieren muessen.

Ein weiteres Argument, weshalb eine Umorientierung nur im Zusammen-hang mit einem tiefgreifenden Re-Engineering moeglich ist: Alle Mass-nahmen greifen nur, wenn die Universitaeten einsehen, dass sie sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren muessen.

Es ist uebrigens verwunderlich, dass die aktuelle Innovationskrise ueberhaupt aufgetreten ist. Deutschland hatte in den 50er Jahren eine ganze Reihe bedeutsamer Innovatoren, die ganze Unternehmen aus dem Schutt des Zweiten Weltkriegs aufgebaut haben und deren Firmen heute noch Traeger der wirtschaftlichen Entwicklung sind wie die Fischer-werke, der Otto-Versand, Hugo Boss oder die Merckle- Gruppe.

Doch vielleicht faellt es der Enkelgeneration leichter, an die Erfolge der Grossvaeter anzuknuepfen, da bekanntlich das Verhaeltnis zwischen Enkeln und Grosseltern entspannter ist als zwischen Eltern und Kindern.

*Professor Dr. August-Wilhelm Scheer ist Direktor des Instituts fuer Wissenschaftsforschung (IWI) an der Universitaet des Saarlandes.