Herstellerorientierte kontra unabhängige IT-Zertifizierungen

Firmen streben weltweit einheitliche Standards an

12.11.1998
MÜNCHEN (hk) - Zertifizierung durch Hersteller entwickelt sich zu einem immer größeren Markt im Trainingsgeschäft. Allerdings wollen Schulungsunternehmen mit unabhängigen Zeugnissen dagegensteuern.

Immer mehr Hersteller bieten den Benutzern ihrer Produkte Zertifikate an: Wer in einer Prüfung nachweist, daß er mit DV-Werkzeugen umgehen kann, erhält darüber ein Zeugnis.

Novell hatte 1987 die Initialzündung für diese Form der Zertifizierung gegeben. Heute sollen weltweit etwa 120000 Certified Novell Engineers (CNEs) beschäftigt sein. Mittlerweile haben fast alle großen Softwarehäuser Zertifizierungsprogramme gestartet. In den USA gibt es Hunderte davon. Aber auch hierzulande schrecken selbst Mittelständler nicht davor zurück, den - um nur ein Beispiel zu nennen - Comconsult-zertifizierten Netzwerkspezialisten auszubilden.

Zertifizierungsexperten gehen allerdings davon aus, daß sich nur die Programme der Branchengroßen durchsetzen werden. Microsoft vergibt beispielsweise den MCSE (sechs Prüfungen sind bis zum Microsoft Certified System Engineer zu absolvieren) und dem MCSD (vier Prüfungen bis zum Microsoft Certified Solution Developer). Neuerdings setzen sich neben den Zeugnissen für die klassischen DV-Kernberufe auch im Bereich der betriebswirtschaftlichen Standardsoftware Herstellerzertifizierungen durch. SAP stellt beispielsweise das Zeugnis als "SAP-Berater" aus.

Ein Komplettpaket, also Kurse und Prüfungen, kostet zwischen 10000 und 20000 Mark, wobei die Preise sich unter anderem daran orientieren, wie lange der Teilnehmer bis zur Prüfung braucht. In der Regel sind 15 bis 20 Lerntage vorgesehen. Der Seminarbesuch ist allerdings nicht obligatorisch. Jeder Computerfachmann, der sich das abgefragte Wissen zutraut, kann sich zur Prüfung stellen.

Die Prüfungsdauer reicht von etwa 30 bis 90 Minuten. Geprüft wird in der Regel via PC mit Multiple-Choice-Tests. Die Aufgaben sind inhaltlich und prüfungstechnisch anspruchsvoll. Teils wird nur nach richtig oder falsch gefragt, teils müssen sich die Prüflinge mit Transfer- und Verständnisaufgaben auseinandersetzen.

Die aktuelle Stellenmarktanalyse des DV-Bildungsanbieters CDI Deutsche Private Akademie für Wirtschaft GmbH belegt die Dominanz der Microsoft- und Novell-Zertifizierungen: Soweit Zertifikate in Stellenanzeigen verlangt werden, beziehen sie sich zu 65 Prozent auf die Abschlüsse als MCSE oder CNE (siehe Graphik).

"Es zeichnet sich ein klarer Trend zur Herstellerzertifizierung als Zugangsvoraussetzung zu DV-Stellen ab", so Amelie von Schönaich, bei CDI zuständig für die Stellenauswertungen. Jede zehnte für Systemtechniker und Administratoren ausgeschriebene Stelle setzt explizit eine Zertifizierung (MCSE oder/und CNE) voraus.

Von Schönaich geht allerdings davon aus, daß noch viel mehr Arbeitgeber zertifizierte Mitarbeiter möchten. Da aber gegenwärtig am Arbeitsmarkt ein Defizit an qualifizierten DV-Fachleuten bestehe, könnten Betriebe diesen Wunsch oft nicht in ihre Inserate hineinschreiben.

Die "Erfinderin" des Konzeptes, Carolyn Rose, behauptet, daß Studien zufolge die Produktivität in den Unternehmen mit zertifizierten Mitarbeitern um ein Mehrfaches gestiegen sei. Rose war 1987, als Novell mit seinem Programm auf den Markt kam, Vice-President des Unternehmens und zuständig für die Einführung. Heute hat sie ihr eigenes Unternehmen, das sich auf Web-basierte Trainingsmethoden spezialisiert hat und sich ebenfalls mit Zertifizierungen beschäftigt, allerdings im Internet-Umfeld.

Die Arbeitsämter unterstützen finanziell vor allem die Microsoft-Abschlüsse, denn Absolventen mit einem MCSE haben zur Zeit beste Chancen unterzukommen. Die Behörden weisen allerdings immer wieder darauf hin, daß so ein Zertifikat nur den Einstieg in den Beruf bedeute und die Teilnehmer danach ständig weiterlernen müßten. Sich nur mit den Produkten eines einzigen Herstellers auszukennen sei riskant.

Die Anwenderunternehmen halten sich noch mit Aussagen zu den Herstellerabschlüssen zurück. Immer wieder ist zu hören, daß die Berufserfahrung wichtiger sei als ein Zeugnis, das auf einem kurzen Multiple-Choice-Test beruht. In den USA ist etwas abwertend von "Papier-Zertifizierten" die Rede, also von Personen, die ihre Qualifikation nur mit Hilfe eines Zeugnisses nachweisen können.

Weg von der Herstellerzertifizierung: Dieses ganz andere Konzept verfolgt der amerikanische Verband der Computerunternehmen Comptia. Er setzt sich für eine herstellerunabhängige und firmenübergreifende Ausbildung und Prüfung ein. Der englische Bildungsanbieter Global Training Solutions (gts) hat dafür ein komplettes Kurspaket entwickelt und vertreibt es weltweit - auch in Deutschland, in deutscher Sprache.

Die Zertifizierung mit dem gewöhnungsbedürftigen Namen A+ richtet sich in erster Linie an IT-Berufs- und -Quereinsteiger sowie an Servicetechniker. Die Ausbildung dauert zehn Tage, wovon sich sieben dem Thema Hardware und nur drei Tage der Software widmen. Comptia-CEO John Venator glaubt, mit diesem Programm einen ersten Beitrag zu leisten, um mehr Jugendliche in die IT-Branche zu locken und damit die Personalmisere etwas abzumildern.

gts-Chef Robin Adda argumentiert, daß alle Herstellerprogramme viel zu schwierig seien und Interessierte eher abschreckten. Neben A+ will er als nächsten Schritt ab Frühjahr 1999 "Networking+" einführen, ein Programm, das, wie der Name schon sagt, seinen Schwerpunkt auf dem Gebiet der Netze hat. Venator ist überzeugt, daß die Zukunft den herstellerunabhängigen Zertifizierungen gehört. Er erinnert daran, daß diese Programme in seinem Verband entstanden sind, dem 7000 Hersteller angehören, darunter alle Großen der Branche.

In Deutschland finden zur Zeit die ersten A+-Kurse statt - zum einen als arbeitsamtgeförderte Seminare, zum anderen als Ausbildung für Servicetechniker. Beim Schulungshaus Trefz & Partner in Overath bei Köln und bei Traicen in Münster laufen die ersten Veranstaltungen zu A+. Die Geschäftsführer Stefan Trefz und Martin Hornung begrüßen diese Form der Ausbildung, wagen aber noch keine Prognose über die weitere Entwicklung. Sie glauben, daß im Zuge der Internationalisierung weltweit einheitliche Prüfungen für die Beschäftigten nur von Vorteil sein können.

Klar ist indes, daß den Zertifizierten die Türen in die IT-Welt offenstehen und daß sie, wenn man Gehaltsexperten Glauben schenken darf, im Durchschnitt zehn Prozent mehr verlangen können als ihre ungeprüften Kollegen.

Pro und Kontra Zertifizierung

Pro

-standardisiertes, oft weltweit einheitliches Prüfungsverfahren;-kann zu einem höheren Gehalt führen;-große Hilfe für Quereinsteiger beim Berufseinstieg;-US-Analysten behaupten auf der Grundlage von Studien, daß Zertifizierung die Produktivität in Unternehmen erhöht.

Kontra

-ziemlich teure Angelegenheit: zwischen 10000 und 20000 Mark kostet eine komplette Zertifizierung;-herstellerorientiert;-ist kein Ersatz für Berufserfahrung und auch-keine Garantie für ausreichendes Wissen.