Firmen schalten einen Gang zurück

09.05.2001
Von in Alexandra
Wir brauchen so viele, bekommen aber zu wenige, also nehmen wir jeden. Zu dieser Logik bekannten sich personalsuchende Unternehmen noch vor Monaten, jetzt scheinen sie sich davon zu verabschieden. Die Entlassungen in der Dotcom-Szene und großer amerikanischer IT- und TK-Hersteller verpassen dem überhitzten IT-Arbeitsmarkt auch in Deutschland erste Dämpfer.

Aller guten Dinge sind drei. Nicht für Anna Weber*. Zwei Startup-Versuche reichen ihr. Zwei Jahre hatte die Chemikerin nach ihrem MBA-Studium in London bei einem Berliner Linux-Dienstleister gearbeitet, zwei Jahre lang hatte sie vom Management gehört, wie toll alles laufe, bis Ende letzten Jahres sie von der ersten Kündigungswelle erfasst wurde. “Von der Sekretärin über die Marketing-Abteilung bis zu Call-Center-Mitarbeitern - alles, was Geld kostet, ist entlassen worden”, so Weber.

Die 31-Jährige ließ sich davon nicht abschrecken und bewarb sich erneut bei Startup-Firmen. Schließlich habe sie bei Innominate “viel bewegen können”. Allerdings fragte sie bei den folgenden Vorstellungsgesprächen gezielt nach: Ist die Finanzierung gesichert? Wie viel flüssiges Geld ist noch verfügbar? Fragen, auf die sie keine ehrliche Antwort bekam, wie sich heute herausstellt. Seit zwei Monaten arbeitet Weber bei einem Internet-Marktplatz, und wieder ist das Geld knapp. “Zur Abwechslung würde ich für meine Arbeit gern mal ein regelmäßiges Einkommen bekommen. Wenn es sich ergibt, würde ich in die Old Economy flüchten.”

Die Quereinsteigerin gehört nicht zu denen, die auf der Straße sitzen und trotzdem jubeln wie die meisten Besucher der ersten Pink-Slip-Party in Berlin. Sie ist vorsichtig geworden und ist sich bewusst, dass sie Kompromisse wird schließen müssen: “Größere IT-Firmen gibt es in Berlin halt nicht so viele, Startups dafür um so mehr. Wenn ich aber einen Arbeitsplatz haben möchte, der sicherer ist als die bisherigen, muss ich mich wahrscheinlich auch örtlich umorientieren.”

Der Wunsch nach einem sicheren Arbeitsplatz ist zur Zeit nicht nur in der Dotcom-Szene schwer zu erfüllen, sondern auch zunehmend in der gesamten IT-Branche. Seit drei Monaten reißen die Meldungen aus den USA nicht ab, wonach führende IT-Hersteller wie Compaq, Hewlett-Packard oder Cisco Tausende von Mitarbeitern entlassen, nachdem sie die Umsatz- und Gewinnerwartungen nicht erfüllen ließen.

Auch wenn das Gros der Kündigungen den deutschen Arbeitsmarkt nicht direkt betrifft, halten sich amerikanische Firmen wie Sun Microsystems im Recruiting zurzeit auffällig zurück oder haben wie Cisco hierzulande schon einen offiziellen Einstellungsstopp verhängt. Der Netzhersteller organisierte auf der CeBIT zwar noch einen großen Recruiting-Event im Deutschen Pavillon, musste aber die Interessenten bis auf weiteres vertrösten.

Besonders stark von der Konjunkturflaute ist der Telekommunikationsmarkt betroffen. So kündigte der kanadische TK-Ausrüster Nortel Networks den Abbau von 20 000 Arbeitsplätzen an, bei Lucent Technologies verlieren 10 000 ihren Job. Selbst Siemens sieht sich durch den schwächelnden Mobilfunkmarkt gezwungen, weltweit 6100 Beschäftigten zu kündigen. Davon sind in Deutschland unter anderem 2000 Mitarbeiter in der Handy-Produktion betroffen, deren befristete Arbeitsverträge nicht verlängert werden. Schwerer wiegt der Stellenabbau im Bereich Information and Communication Networks (ICN).

So verlieren in Deutschland 1400 Serviceingenieure ihren Job, die bisher die Schaltanlagen in Großunternehmen gewartet haben. Der Grund: Die Nachfrage der Firmenkunden ist rückläufig, Fernwartung macht zusehends den Besuch des Serviceingenieurs vor Ort überflüssig. Gleichzeitig hat Siemens aber etwa 2500 offene Stellen für Ingenieure – ein Widerspruch? Für Unternehmenssprecherin Sabine Metzner nicht: “Entlassung ist für uns die ultima ratio. Auch im ICN-Bereich werden wir nach sozialverträglicheren Lösungen suchen, das heißt frei werdende Stellen nicht wieder besetzen, Altersteilzeitmodelle anbieten und die Ingenieure auch umschulen, wenn dies möglich ist.”

Die Firmen hüten sich davor, wenig imagefördernde Maßnahmen wie Einstellungsstopp bekannt zu machen und reden wie im Fall von Lucent Technologies von “sehr selektiven Einstellungskriterien”, wenn man konkret nach der Zahl der offenen Positionen fragt. Wie viele Stellen in der deutschen IT-Branche tatsächlich nicht besetzt sind und wie hoch der Bedarf an Fachkräften ist und in Zukunft sein wird, bleibt trotz einschlägiger Studien unklar. So beziffert das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim in einer aktuellen Untersuchung den Bedarf an IuK-Spezialisten bis Ende nächsten Jahres mit 350 000 in Deutschland. Allein für die erste Hälfte dieses Jahres geht das ZEW von 93 000 offenen Positionen im Iuk-Umfeld aus.

Mit noch höheren Zahlen operiert der Herstellerverband Bitkom, der zur CeBIT eine IDC-Studie vorstellte, laut der 440 000 Stellen in den Bereichen IT, Telekommunikation, E-Commerce und Call-Center in Deutschland unbesetzt seien. In den nächsten zwei Jahren sollen es sogar 760 000 werden. Mittlerweile ist der Bitkom von seiner für Arbeitssuchend günstigen Prognose etwas abgerückt. So schränkt Stephan Pfisterer, Referent für Bildung und Arbeitsmarkt beim Branchenverband, ein: “Wir erleben im Moment einen gewissen Einschnitt.

Die Pink-Slip-Parties und Entlassungen in den USA sollte man aber nicht überbewerten. Die dortige Krise wird nicht so viele Freisetzungen in Deutschland nach sich ziehen. Wir gehen davon aus, dass wir am Ende dieses Jahres mehr Beschäftigte in der Informationstechnologie haben werden als Ende 2000. Allerdings wird es keinen großen Zuwachs geben.”

Außerdem müsse man bedenken, dass die IDC-Studie von 440 000 offenen und “nicht adäquat besetzten” Stellen in Deutschland ausgeht. Unter “nicht adäquat besetzt” versteht Pfisterer alle die Positionen in der IT-Branche, in denen “kurzfristig angelernte Quereinsteiger” tätig sind. Wenn man aber bedenkt, dass eine Vielzahl der Beschäftigten in der IT-Branche eben solche Quereinsteiger sind beziehungsweise einmal waren, relativieren sich die Bitkom-Zahlen schnell – zumal auch nicht weiter zwischen offenen und “nicht adäquat besetzten” Stellen differenziert wird.

Ein Blick in die Stellenmärkte von 40 Tageszeitungen und der COMPUTERWOCHE zeigt, dass sich die Zahl der ausgeschriebenen Jobs im ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zum ersten Mal seit Mitte der 90er Jahre verringert hat - nach der Berechnung von EMC/Adecco um acht Prozent auf 28 820 Jobangebote. Besonders auffällig ist der Einschnitt in der TK-Industrie. Hatten sich im vergangenen Jahr noch die IT-Stellen in diesem Bereich mehr als verdoppelt, ging ihre Zahl in den ersten drei Monaten 2001 von 3231 auf 2629 zurück.

Bei den IT-Beratungs- und Softwarehäusern beträgt der Rückgang sogar fast 3000 freie Stellen (2000: 11 871; 2001: 9085). Bei den einzelnen Jobkategorien ist der Rückgang aus dem Umfeld der Anwendungsentwicklung am deutlichsten zu spüren. Die Offerten sanken hier von 9157 auf 6587. Auch die Netzspezialisten und System-Manager sind im ersten Quartal weniger gesucht als im letzten Jahr.

Dass sich der überhitzte Arbeitsmarkt erstmals abkühlt, bestätigte sich auch auf der CeBIT. Auf dem Forum “Jobs und Karriere” der CW gaben einige Personalchefs zu, dass sie in diesem Jahr den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die interne Mitarbeiterentwicklung verlagern und das Thema Recruiting nicht mehr den Stellenwert hat wie im vergangenen Jahr. Offen sprach man darüber, dass alles von der künftigen Auftragslage abhänge und nicht mehr jeder Kandidat, “der vor die Flinte kommt”, auch genommen wird.

Christian Pape

Das kann Christian Pape, Managing Director der Pape Personalberatung in München, nur bestätigen: “Das Recruiting-Budget ist nur da, wenn die Auftragslage gut ist. In vielen Unternehmen folgt die Personalpolitik dem Hau-Ruck-Prinzip: Eine Mitarbeiterplanung, die über die nächsten sechs Monate hinausgeht, gibt es nicht. In der Boomphase stellen die Firmen unentwegt, zum Teil mit verbundenen Augen, neue Beschäftigte ein. Genauso schnell entlassen sie die Mitarbeiter aber wieder, wenn es einmal nicht so läuft. Kündigungen sind offenbar das schnellste und einfachste Mittel, um dem Aktienmarkt zu zeigen, dass man Kosten senkt.”

Darum haben in den Augen Papes die Entlassungen in vielen amerikanischen Unternehmen oft nichts mit der realen Welt und dem wirklichen Bedarf zu tun. So kommt es durchaus vor, dass deutsche Niederlassungen wachsen wollen, aber nicht dürfen, weil aus den USA ein Einstellungsstopp verordnet werde. Pape hat aber auch die Erfahrung gemacht, dass Firmen sich im Zuge der derzeitigen Konjunkturschwankungen von vielen Mitarbeitern trennen, die sie sowieso nicht mehr haben möchten. Vielfach verfügen die Entlassenen nicht über die Profile, die am Markt gesucht sind. In einem CW-Interview bestätigte etwa Kevin Rollins, Vice Chairman von Dell, dass ein Großteil der Kündigungen in den USA Mitarbeiter mit schlechten Leistungsbeurteilungen trifft.

Die Hire-and-Fire-Mentalität sucht man indes bei japanischen oder mittelständischen deutschen Firmen vergeblich, so die Beobachtung Papes. Diese stehen dem Mitarbeiter loyaler gegenüber. Unabhängiger von den Konjunkturschwankungen im IT-Markt scheinen auch viele Anwenderunternehmen zu sein, die verstärkt einstellen. Auf Anwender als große Arbeitsplatzbringer setzt auch der Bitkom. Dazu Pfisterer: “Die Hauptdynamik im IT-Arbeitsmarkt geht derzeit von großen Anwendern wie Banken oder Automobilherstellern aus. Hier ist der Bedarf immer noch enorm.” Der Verband spricht sogar davon, dass auf einen Arbeitsplatz in der IT-Industrie zwei in Anwenderbranchen kommen.

Ein gutes Beispiel ist Robert Bosch. Das Stuttgarter Industrieunternehmen mit weltweit 98 000 Beschäftigten verbinden die meisten noch immer nur mit Kraftfahrzeugentwicklung. Weniger bekannt ist, dass Bosch eine IT-Abteilung mit 2000 Mitarbeitern hat, die für den gesamten Konzern als interner Dienstleister fungiert. “Wir suchen für den Bereich Informationsverarbeitung in Deutschland noch 200 bis 300 Leute in diesem Jahr”, sagt Anne Leege, Personalreferentin für den IT-Bereich. “Vom Rechenzentrum über Server-Betreuung, LAN und WAN bis hin zu den verschiedensten SAP-Projekten können wir die unterschiedlichsten Tätigkeitsfelder bieten. Unser Problem ist nur, dass das zu wenige wissen.”

Genügend offene Stellen hat auch T-Systems. Das Systemhaus, das nach dem Zusammenschluss mit dem Debis Systemhaus 37 000 Mitarbeiter beschäftigt, will in diesem Jahr noch 2800 Stellen besetzen. Gesucht sind vor allem Systemanalytiker, IT- und TK-Berater, Projektleiter und SAP-Spezialisten. Für Wolfgang Meier, Personalleiter bei T-Systems am Standort Darmstadt, ist es in diesem Jahr nicht leichter geworden, die offenen Stellen zu besetzen. “Wir bekommen kaum Bewerbungen von gefeuerten Dotcom-Mitarbeitern.

Vielleicht liegt es auch daran, dass wir wenig mit bunten Web-Seiten zu tun haben, sondern klassische Software entwickeln und große Systeme unterstützen.” Die anhaltende Personalnot führt Meier aber auch auf den Standort Darmstadt zurück. Mit Firmen wie Software AG, Danet oder Telekom ist die Konkurrenz groß, auch die Nähe zu Frankfurt bringt keinen Vorteil: “Dort haben die Banken enormen Bedarf an IT-Fachleuten. Außerdem sind kaum Bewerber aus Frankfurt davon zu überzeugen, in Darmstadt zu arbeiten.”

In Regionen wie Hamburg profitieren Firmen indes von der Dotcom-Flaute. So freut sich der Internet-Dienstleister Sinner Schrader, der noch 50 neue Mitarbeiter an Bord nehmen will, über den Anstieg an qualifizierten Bewerbungen. Kein Wunder, schließlich hat erst vor Ostern Mitbewerber Kabel New Media 30 Beschäftigte vor die Tür gesetzt. Wie schnell die Gefeuerten einen neuen Job bekommen, hängt mittlerweile wieder stärker von ihren Fähigkeiten ab. “Gut qualifizierte Leute brauchen sich nach wie vor keine Sorgen machen. Das gilt für den Bereich Vertrieb ebenso wie für das ganze technische Umfeld”, sagt Personalberater Pape.

Schwieriger wird es allerdings für Quereinsteiger. “Mit MCSEs können Sie mittlerweile die Straße pflastern”, so Pape. Das Zertifikat zum Microsoft Certified System Engineer öffnete vor eineinhalb Jahren noch alle Türen, auch wenn die frisch gebackenen Besitzer ihr Wissen über Windows NT nur in Tests mit Multiple-Choice-Fragen unter Beweis gestellt und keinerlei IT-Praxis vorzuweisen hatten. Mittlerweile haben die Schulungsanbieter reagiert und integrieren in ihre Kurse auch Praxisbestandteile.

Andere herstellerabhängige Zertifikate garantieren Quereinsteigern auf Dauer ebenfalls keinen sicheren Arbeitsplatz. “Ein SAP-Zertifikat nutzt nur noch zehn Monate etwas”, gesteht Peter Littig, Direktor Bildungspolitik bei der Dekra Akademie. Gerade Umschüler sollten unbedingt am Ball bleiben und ihre einmal erworbene Qualifikation verbessern, da sie sonst die ersten seien, die wieder gehen müssten. Laut Littig werden aber zusätzlich zu dem “flüchtigen” Wissen um Produkte und Techniken auch verstärkt soziale Fähigkeiten verlangt, die unabhängig von technischen Trends sind.

Auch junge Unternehmen wie die Nürnberger Multimedia-Agentur Eskatoo schauen bei der Personalauswahl genauer hin. “Die Schwelle liegt höher als noch vor einem Jahr. Es ist letztlich eine Frage der Qualität der Leute. Im Zweifelsfall entscheidet die sechsmonatige Probezeit”, so Personalchefin Christiane Holstegge. Eskatoo-Projektleiter Michael Hut, der seit dreieinhalb Jahren dabei ist, gibt zu, dass er heute schlechte Karten hätte, wenn er sich mit seiner damaligen Qualifikation bewerben würde.

Der studierte Geologe absolvierte eine Weiterbildung zum Thema ”Online-Marketing/Kommunikations-Management” , die nur für Natur- und Geisteswissenschaftler aufgelegt wurde. Obwohl die Inhalte sehr weit gestreut gewesen und kaum in die Tiefe gegangen seien, seien alle Absolventen in sehr guten Stellungen untergekommen. Mittlerweile geht der Kurs in die siebte Runde, ”und die Leute tun sich schon viel schwerer”.

Wer in der schwankungsanfälligen IT-Branche dennoch eine sichere berufliche Zukunft haben möchte, muss laut Personalberater Pape vor allem eines tun: “Gerade in den ersten 15 Jahren des Berufslebens soll sich der Mitarbeiter breiteres Wissen aneignen, auch wenn die Firmen nur Spezialisten haben wollen. So hält er seinen Marktwert hoch und das Risiko kleiner, auf der Straße zu sitzen, wenn sein Spezialwissen nicht mehr gebraucht wird.”

Anna Weber hat nach gut zwei Jahren Berufserfahrung also noch alle Chancen, ihr Wissen zu verbreitern. Vor allem weiß sie nach ihren Startup-Erfahrungen, dass nicht immer nur die Venture-Kapitalisten schuld sind, wenn es mit der Firma bergab geht. Diese Erkenntnis fehlt allerdings so manchem CEO aus der New Economy, so Personalberater Pape: “Wir bekommen zur Zeit sehr viele Anfragen von ehemaligen Vorständen aus Internet-Firmen, die alle wieder Chefposten haben wollen.” Auch wenn die Nachfrage nach Führungskräften in der IT unverändert hoch ist, stehen die Vermittlungschancen nicht für jeden gut: zum Beispiel nicht für diejenigen, die die Gründe für das Scheitern ihrer Firma nur im Markt, aber nicht bei sich suchen.

*Name von der Redaktion geändert