IT in der Prozeßindustrie/Anfänge reichen in DDR-Zeiten zurück

Ferngasnetz über eine private Datenautobahn betrieben

06.09.1996

Die Wirren der Wende hat die Leipziger VNG - ehemals einziger Ferngasanbieter in der DDR mit heute etwa 1170 Beschäftigten - recht gut überstanden. Mit einem Umsatz im letzten Jahr von etwa 2,8 Milliarden Mark betreibt das ostdeutsche Unternehmen heute ein Leitungsnetz von etwa 8000 Kilometern mit mehreren je zwei Milliarden Kubikmeter fassenden Untergrundgasspeichern (UGS, auch Kavernen), Verdichterstationen sowie Meß- und Regelwarten quer durch die neuen Bundesländer.

Der Schritt in die Marktwirtschaft habe in dem Unternehmen die Erneuerung der zuvor genutzten Prozeßleitsysteme erfordert, erinnert sich Jörg Hartan, Leiter des Bereiches Automatisierung. Mit der veralteten Technik, wie unter anderem "hartverschalteten Relaisschränken mit zig Schaltern und Knöpfen", hätte das Unternehmen kaum wirtschaftlich arbeiten können. Vor allem die sechs Untergrundgasspeicher der Aktiengesellschaft hätten sich mit diesem Equipment "nicht flexibel und kostengünstig" betreiben lassen. Selbst die sichere Versorgung der Kunden war in Frage gestellt.

Anstatt klein anzufangen und schrittweise einzelne Firmenbereiche aufzurüsten, visierte der Energieversorger den Neuaufbau eines vernetzten und einheitlichen Automatisierungs- und Informationssystems an. "Flickschusterei wollten wir nicht", so Hartan. Eine einzige Lösung sollte es sein, die die Prozesse in allen Betriebsanlagen "mit der gleichen Technik dezentral steuert" und zugleich Bedienung und Kontrolle der Abläufe durch ein zentrales Regelzentrum von Leipzig aus ermöglicht. Bedingung: Die Anwendung sollte "offene Schnittstellen bieten und unabhängig vom Diktat eines Hard- oder Softwarehherstellers sein", um spätere Erweiterungen ohne finanziellen Kraftakt realisieren zu können.

Ein solches Paket fanden die Leipziger bei der 1992 privatisierten Elpro AG Berlin, einem Hersteller von Industrieelektronik und Anlagensystemen. Der frühere Kombinatsbetrieb (Umsatz 1995: 386 Millionen Mark) präsentierte der VNG eine Komplettlösung unter Unix, die den Einsatz von Standardkomponenten verschiedener Anbieter erlaubte.

Realisiert ist das Ganze bei der VNG folgendermaßen: Zur Steuerung und Überwachung der Untergrundgasspeicher werden als Basissysteme speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS) von der Siemens AG eingesetzt.

Diese regeln die Prozesse und übermitteln die Daten an die Bedienerstation. Daneben überwachen sogenannte Fail-save-SPS die Abläufe. Diese erst seit kurzem vom TÜV zugelassene Sicherheitstechnik, sagt Volkhard Just vom Berliner Projektanten, führe bei Fehlfunktionen der Anlagen automatisch zum Abschalten der einzelnen Bereiche.

20000 Meßdaten in 2 Sekunden dargestellt

Über einen redundant ausgelegten "Sinec-H1"-Industrie-Bus sind die SPS-Geräte mit der Bedienerzentrale verbunden, beschreibt Joachim Piepkorn, Wartungschef im Bernburger UGS, die dort installierte Client-Server-Ausführung: An zwei Workstations von Motorola mit je 128 MB RAM und 2 GB Festplattenkapazität sind fünf X-Window- Terminals und ein PC-Arbeitsplatz zur Wartung des Systems sowie Farbdrucker angeschlossen. Auf dem doppelt ausgelegten Ethernet- Netz wird per TCP/IP übertragen.

Auf den beiden RISC-Maschinen, die in einem Master-Slave- Verhältnis zueinander stehen, laufen sämtliche Applikationen. Von ihnen holt sich der Dispatcher sämtliche Tabellen, Fließbilder, Grafiken, Protokolle etc., die er zur Überwachung der verschiedenen Abläufe braucht, auf seine Arbeitsstation.

Als Leit- und Informationssystem setzen die Ostdeutschen auf den Workstations das Standardprogramm "Aprol E" von der Process Control Gesellschaft für Automation mbH, Marl, ein. Die seit 1992 angebotene und modular aufgebaute Software mit der integrierten Datenbank "Raima" (Entwickler ist die DB Vista Corp., USA) wird von den Gasleuten als "leicht einzuführen und problemlos zu bedienen" eingeschätzt. Zudem lasse sie sich problemlos auf andere Rechner portieren, heißt es.

Allerdings halte man die Datenbank, die alle relevanten Informationen zur weiteren Bearbeitung enthält, auf einem separaten Server. Dies soll die Performance der beiden Workstations erhalten. "Für Bildaufbau und Darstellung von über 20000 Meßdaten braucht das System knapp zwei Sekunden", erklärt Manager Hartan. Verbunden ist der Datenbankrechner ebenfalls via TCP/IP mit dem IBM-Host in der Firmenzentrale.

Die Anfänge dieser privaten Datenautobahn reichen in DDR-Zeiten zurück. Damals erhielt der Versorger von staatlicher Seite die Erlaubnis, sein Ferngasnetz über eigene Daten- und Sprachleitungen zu betreiben. Trotz Telekom-Monopol ist auch nach dem Mauerfall daran nicht gerüttelt worden.

Doch mit den alten analogen Verbindungen komme das Unternehmen heute nicht mehr aus, sagt Reinhard Jung, Leiter für Informations- und Netzleittechnik im Werk. Derzeit sei man dabei, das "zu eng gewordene" IuK-Netz von der Stuttgarter Alcatel SEL AG auf digitale Übertragung umzurüsten. Verwendet würden dafür meist die bereits vorhandenen Kupferleitungen. Für Übertragungen, die eine hohe Geschwindigkeit verlangten, setze man inzwischen jedoch Glasfaserkabel ein.

Bisher hat die ostdeutsche Ferngasgesellschaft nach eigenen Angaben etwa 100 Millionen Mark in die rechnergestützte Automatisierung der Untergrundgasspeicher investiert. Das ist laut Hartan ein relativ kostengünstiger Einsatz, wobei insbesondere zu bedenken sei, daß proprietäre DV-Systeme angesichts ständigen Ausbaus dem Anwender mit Sicherheit um ein Mehrfaches teurer gekommen wären.

Doch auch in der offenene DV-Umgebung sind noch nicht alle Aufwendungen abgehakt. Bis zum Jahre 2005 werden laut Geschäftsleitung weitere Investitionen nötig sein, um künftigen Anforderungen zu genügen. Der Ausbau des Informationssystems betrifft vor allem die Fernsteuerung der Speicher und Stationen. Noch in diesem Jahr werden dafür unter anderem ein Management- sowie ein grafisches Informationssystem zum Einsatz kommen.

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Die Relaisschränke mit zig Schaltern und Knöpfen hatten nach der Wende ausgedient. Der ostdeutsche Gasversorger setzte konsequent auf ein neues, zentrales Regelzentrum in Leipzig. Die Anwendungen sollten offene Schnittstellen bieten und langfristige Unabhängigkeit von Hard- und Softwareanbietern garantieren. Die Basissysteme sind speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS) von Siemens Fail-save-SPS überwachen die Abläufe. Auf einem doppelt ausgelegten Ethernet-Netz werden die Daten per TCP/IP übertragen.